Hymne an das Leben

Die literarischen Kleinode der Madeleine Bourdouxhe

Von Nina GiaramitaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nina Giaramita

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Einäugige Schnecke, leih mir deine Fühler, eins, zwei, drei...". Ein Kinderlied. Es ist das Einzige, was der Frau in dem Krankenhausbett einfallen will. Dabei ist Krieg, und die junge Mutter befindet sich mittendrin - das Neugeborene an ihrer Seite.

Diese kleine Begebenheit ist charakteristisch für die Erzählung "Unter dem Pont Mirabeau fließt die Seine" von Madeleine Bourdouxhe. Als einziger autobiographischer Text der belgischen Schriftstellerin, die im Paris der 30er Jahre als aufgehender Stern am literarischen Himmel gehandelt wurde, erschien diese Erzählung 1944, im Jahr der Befreiung durch die Alliierten.

Da liegen jene Tage im Mai, die Madeleine Bourdouxhe in ihrer Erzählung wieder aufleben lässt, schon vier Jahre zurück: Der allgegenwärtige Krieg lässt die junge Mutter seltsam unberührt. Nicht die Raketen und der Bombenhagel beherrschen ihre Gedanken, sondern einzig und allein das neugeborene Kind.

Angesichts dieses persönlichen Glücks übersteht sie in fast schlafwandlerischer Manier die Flucht von Belgien nach Südfrankreich. Zwar ist sie Teil eines endlosen Flüchtlingstrecks, muß die drangvolle Enge des Lasters, in dem sie "ausgestreckt auf der Pritsche eines Lasters liegt", überstehen, doch die Mühseligkeit, das Elend dieses Zugs dringt nicht zu ihr vor. Stattdessen ist sie darin vertieft, ihr "Kind zum ersten Mal an die Brust zu legen" und nimmt dabei nur "verschwommen einen gewissen Aufruhr um sich herum wahr." In dieser eigentümlichen Schwerelosigkeit, die sie umgibt, ist sie für Schönheit besonders empfänglich. Überall um sie herum vermag sie sie zu entdecken. In derartigen Momenten ist sie hellwach, notiert die "friedlichen Wiesen und Felder", die an ihr vorbeiziehen, die "schöne Straße" und den "schönen, klaren Morgen". Mit dieser Wahrnehmung, vom milden Blick einer jungen Mutter gefärbt, geht sie sehr weit: Denn auch die Soldaten sind schön für sie, sogar die Raketen.

Dieser Blickwinkel ist es auch, der die Erzählung zu etwas Besonderem macht: Denn durch die Sinnlichkeit und die Intensität der Schilderungen widersetzt sich Madeleine Bourdoxhe der allumfassenden, zerstörerischen Wucht des Krieges. Ihr ist damit eine kleine, unaufdringliche Hymne an das Leben gelungen. Vielleicht lag es nicht einmal in ihrer Absicht, mit dieser Darstellung ein Stück Literatur zu schaffen. Denn auf die Erzählung angesprochen, sagte sie einmal ganz unprätentiös: "Ich war doch nur ein Teil dieser Flüchtlingsströme - und dieselbe Erfahrung haben viele andere Menschen auch beschrieben." Trotz dieser Bescheidenheit kann man nicht umhin, ihre Geschichte als literarisches Kleinod zu werten. Oder wie über Madeleine Bourdouxhes Werke gesagt wurde: Das ist "Prosa, die duftet".

Die zweite Erzählung dagegen ist, wenn man so will, pure literarische Schöpfung - und dennoch nicht weniger nah am Leben. "Wenn der Morgen dämmert" handelt von Léa, die aus Liebe zu einem ungerecht behandelten Fabrikarbeiter zur Mörderin wird. Das Milieu, in dem sich die junge Frau bewegt, ist auch das des Romanerstlings von Madeleine Bourdouxhe, "Gilles' Frau". Bemerkenswert an der Wahl des sozialen Umfelds ist die sprachliche und gestalterische Umsetzung, mit der die Ohnmacht und Verlorenheit dieser am Rande der Gesellschaft stehenden Persönlichkeiten verdeutlicht wird: "Ich trinke das Glas Wein, das meine Kameraden mir anbieten; und während meine Hand, die das Glas hält, sich Carrols Glas entgegenstreckt, ist es so, als bliebe sie in Wirklichkeit auf dem Tresen liegen, abwartend und regungslos."

Mit mehr 'poetischer Präzision' kann eine innere Regung kaum darstellt werden. Fast meint man, ein Skript zu lesen, das für einen dieser rätselhaften, französischen Filme aus den dreißiger Jahren verfasst wurde. Auch diese spielten sich meist im Arbeitermilieu ab. Und trotz der Düsterheit, die diesen Filmen eigen war, sind sie doch einem sogenannten 'poetischen Realismus' verhaftet gewesen. Inzwischen sind die meisten dieser Filme Klassiker.

Ein ähnlicher Status gebührt den Erzählungen der Madeleine Bourdouxhe spätestens jetzt, nach ihrem triumphalen literarischen Comeback - oder wählen wir besser ein weniger auftrumpfendes Wort und sprechen von Wiederentdeckung. Das wird der Zurückhaltung und dem Schweigen der einfachen Geschöpfe Madeleine Bourdouxhes' wohl eher gerecht.

Titelbild

Madeleine Bourdouxhe: Unterm Pont Mirabeau fließt die Seine. Erzählungen.
Piper Verlag, München 1998.
101 Seiten, 10,20 EUR.
ISBN-10: 3492041701

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