Gewalt begreifen

Essays von Jan Philipp Reemtsma

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Krieg und Gewalt sind prägende menschliche Erfahrungen; prägend vor allem für diejenigen, die sie erfahren mussten, aber auch für diejenigen Glücklicheren, die mit der Furcht davonkamen. So nahm auch die kulturelle Überlieferung, von den Epen Homers an bis zu jüngster Historiographie und Theoriebildung, vielfach die gewaltsame Auseinandersetzung, den gewaltsamen Tod zum Stoff und zum Gegenstand der Reflexion. Immer wieder wurde der Logik von Entstehung und Verlauf der Kämpfe nachgespürt - oder der Nicht-Logik, eben dem, was sich dem System entzieht.

Das Widerspruchsverhältnis von Konsequenz und Zufall, von Erklärbarem und dem, was fremd bleibt, bildet ein Leitmotiv vorliegender Sammlung. Jan Philipp Reemtsma hat einige seiner Vorträge und Essays aus den Jahren 1994 bis 2002 abgedruckt. Meint man, die Literatur sei für das Anschauliche, Einzelne zuständig, die Theorie dagegen fürs System, so verfährt Reemtsma gerade umgekehrt. Die Beiträge zur Literatur, die weitaus überzeugenderen des Buchs, begründen gerade die Stimmigkeit, freilich dadurch vielfach auch die Destruktivität der dargestellten Handlungen. Der Widerstand Penelopes gegen die Freier auf Ithaka folgt derselben so bewegenden wie gewaltträchtigen antipolitischen Liebeslogik wie Odysseus' Mordfest: ein Einspruch gegen die Zumutungen pragmatischer Heiratspolitik und auch die Frage, ob Pragmatik nicht doch nicht eher als das absolute Gefühl den Frieden garantiere. Nathans Handlungen sind stimmig als Verhalten eines Verfolgten zu interpretieren und "Nathan der Weise" ist eben dadurch kein Lob abgeklärter Weisheit, sondern Analyse eines gefährdeten Daseins. Endlich ist Hagens Mord am unschuldigen Kind Ortlieb weder irrationale Handlung eines wildgewordenen Kriegers noch Schwäche eines kompilierenden Nibelungenlied-Redakteurs, sondern überkreuzen sich in ihm vielmehr durchaus rationale Strategien der Feinde Kriemhild und Hagen, die freilich beide scheitern, am nicht Planbaren, und doch im Untergang des Feindes ihre jeweilige Erfüllung finden. Dies alles sind gewinnbringende Lektüren, mögen auch Ungenauigkeiten ärgern; im Nibelungenlied etwa werden laut Reemtsma lästige Verwundete anachronistisch "erschossen", als sei man in die Wehrmachtsausstellung seines Instituts geraten; im Original finden sie den Tod, weil sie aus einem Turm hinausgeworfen werden. Auch ist vielleicht Reemtsmas Antwort auf immerhin die Titelfrage, warum Hagen Ortlieb erschlug, etwas zu schlau überlegt: Hagen habe Etzel zum Kampf provozieren wollen, um so das hunnische Heer führerlos zu machen, so eine Siegeschance zu behalten. Nur: Warum Ortlieb als Mittel? Warum tötet Hagen nicht umstandslos Etzel selbst? Dass er vor politisch begründetem Mord nicht zurückschreckt, hat er im ersten Teil des Nibelungenlieds schließlich bewiesen, indem er Siegfried beseitigte.

Ein umfangreicher Essay zu Kleist, ursprünglich eine Vorlesung, nimmt fast die Hälfte des Buches ein. In vielem dürfte er mehr der umfangreichen Forschung zu diesem Autor verpflichtet sein, als es die spärlichen Anmerkungen vermuten lassen. Indem Reemtsma sich hier nicht ein Problem in einem Text, sondern ein Gesamtwerk vornimmt, ist er zur Differenzierung gezwungen, mit wechselndem Erfolg. So überzeugend er den radikalen Vernichtungswillen in der "Herrmannsschlacht" herausgearbeitet, so blass bleiben die Überlegungen zu jenen Texten Kleists, die er kürzer abhandelt. Den Bürgerkrieger Michael Kohlhaas sieht Reemtsma nach dessen Konfrontation mit dem mäßigenden Luther von der Eindeutigkeit zum Krieg entfernt. Das stimmt, doch wäre zu fragen, welche Funktion die radikalisierende Kriegsepisode im Ganzen der Erzählung hat, und es wäre auch näher darauf einzugehen, dass Kohlhaas, wie es im Eingangssatz der Erzählung heißt, "einer der rechtschaffensten und zugleich entsetzlichsten Menschen seiner Zeit" ist. Kleist also spitzt an wegweisender Stelle die Ambivalenz entschiedener zu als Reemtsma, der sich für partielle Kritik und Abbruch entscheidet. Das verkleinert den Konflikt; wie auch die psychologisierende Lesart, Kleist werde zum Extremisten, weil er "mit vielen Dingen erst dann zurechtkommt, wenn er sie übertreibt", von jener Realität weglenkt, in der es das Extreme gibt.

Radikaler als Reemtsma meint ist wohl auch "Die Verlobung in St. Domingo" zu lesen, in der Kleist, anders als die Forschung lange Zeit meinte, jenes Paar, das Liebe über den Bürgerkrieg zu stellen scheint, vernichtend demontiert. Der Weiße Gustav, der unter Feinden sich als Liberaler ausgibt, ist ja doch Offizier der Unterdrücker; und wo die "Mestize" Toni, gegenüber ihrer Mutter, die die Weißen töten will, an humane Werte appelliert, tut sie es schon als Verräterin. Nicht überrollt hier der Krieg die Liebe, sondern ist die Liebe selbst schon Waffe im Krieg. "Prinz Friedrich von Homburg" schließlich hat die Rätsel, die Reemtsma gegen eine einsträngige Interpretation herausarbeitet, nur dazu verwendet, um sie im Schlussvers in der Eindeutigkeit der Feinderklärung aufzulösen: "In Staub mit allen Feinden Brandenburgs!"

Das Unerfassbare gerinnt hier zum Ausrichtung - historisch gegen einen konkreten Feind, Napoleon und seine Reform Deutschlands. Kleist partizipierte damit am Beginn einer Bewegung, an deren vorläufigem Endpunkt der deutsche Faschismus stand. Er brachte die Erfahrung einer zum Extrem gesteigerten Gewalt und diese ist eines der Hauptthemen des Buchs, nicht nur in der "Nathan"-Lektüre, die so vor 1945 wohl kaum vorstellbar gewesen wäre, sondern in drei Beiträgen zum Umgang mit Folter und Massenmord. Die Motive von Zufall und Notwendigkeit, von Einzelerfahrung und System prägen alle drei Texte.

Imre Kertész' "Roman eines Schicksallosen" führt die Absage an Sinnkonstruktion schon im Titel. Reemtsma zeichnet mit viel Sympathie die Hauptlinien des Romans nach, in dessen systematischer Absage an Erklärungsmodelle freilich selbst schon ein konsequenter Ansatz steckt. Horkheimers und Adornos "philosophische Fragmente" zur "Dialektik der Aufklärung" sind durch hoffnungsarme Sympathie mit dem Inkommensurablen gekennzeichnet und gleichzeitig in dem Versuch, eine Konsequenz des Verderbens innerhalb der abendländischen Zivilisation herauszuarbeiten, auch durch Systemdenken gekennzeichnet. Nachvollziehbar arbeitet Reemtsma spezifisch jüdische Bezugspunkte und Erfahrungswerte dieses Denkens heraus; freilich mit so deutlichen Sympathien für die nicht systematisch fassbare Erfahrung, dass die fruchtbare Spannung zwischen philosophischem Fragment und dialektischer Geschichtsphilosophie zu zerbrechen droht.

Deutlicher wird dies noch vielleicht, wenn Reemtsma die Ansätze Adornos und Jean Amérys konfrontiert. Dies geschieht ohne explizite Wertung, mit so viel Respekt vor dem rechtzeitig geflohenen Adorno, wie dieser seinerzeit der genauen Wahrnehmung der Folter und ihrer Auswirkungen durch Améry zollte, der als Existentialist philosophisch Adorno fernstand. Doch hält Reemtsma unübersehbar Distanz von jenem Adorno, der in der "Negativen Dialektik" sich als "solidarisch mit Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes" erklärt. Den phänomenologischen Blick auf Gewalt, so deutet sich hier an, stellt Reemtsma nicht vor die systematische Erklärung, sondern an deren Stelle. Keine rationalisierende Entlastung also; und alle Entlastung, denn die vereinzelte und vereinzelnde Wahrnehmung stellt nicht mehr das Ganze infrage. Was Adorno in der produktiven Schwebe zu halten vermochte, droht bei Reemtsma zu zerbrechen, gerade im sorgsamen moralischen Impuls, das Opfer nicht unbedacht dem System unterzuordnen.

Allerdings: Der konsequente Verzicht auf Metaphysik verbietet auch die Frage nach Schuld. Der Täter mag ja seine eigenen Erfahrungen haben. Zweitens ist ohne Geschichtsphilosophie Gewalt um ihre Ursachen amputiert, es sei denn, man rechnete sozialtechnologische Konzepte wie Zero Tolerance zur Ursachenforschung. Die Gesellschaft als Ganzes jedenfalls erhält ihre Lossprechung, und Gewalt wird zum ganz Anderen der Zivilisation.

Diese Problematik wird besonders deutlich im abschließenden Text, der zwar bei der Caliban-Figur aus Shakespeares "Sturm" seinen Ausgangspunkt nimmt, doch in der Hauptsache der Erklärbarkeit, genauer: Nicht-Erklärbarkeit des modernen Terrorismus gewidmet ist. Reemtsma grenzt sich gegen eine antikolonialistische Begründung ab, die die Taten der Terroristen als Kampf gegen Missstände rationalisiert. Tatsächlich gehe es Terroristen nicht um politische Relationen von Zweck und Mittel, sondern um einen apokalyptischen Endkampf. Terroristisches Töten wie auch das Selbstopfer würden damit zur Lebensform, die sich dem Dialog mit uns verweigere und an der es nichts zu verstehen gebe.

Damit aber verschiebt Reemtsma die Frage nur. Die Trivialität, dass Selbstmordattentäter mit "uns" nicht zu sprechen wünschen, erschließt ja weder, aufgrund welcher Faktoren sie zu ihrer Haltung fanden, noch, wie man sie daran hindert, Nachfolger zu finden. Des weiteren verwischt Reemtsma Differenzen, wobei er radikale Islamisten und die deutsche RAF in einen Topf wirft. Ohne letztere zu rechtfertigen: sie verfügte doch über ein wie immer auch fehlgerichtetes Konzept, indem sie gezielt symbolische Repräsentanten des Herrschaftssystems angriff, statt wie Al Quaida den Tod möglichst vieler Menschen zum Ziel zu erklären.

Eine Zitatmontage aus Gefängniskassibern Jan Carl Raspes, Holger Meins' und Gudrun Ensslins soll die Fremdheit terroristischer Existenz belegen. Tatsächlich ist viel von Entscheidung, Erfahrung, von Fraglosigkeiten die Rede; eine funktionale Interpretation der Texte müsste dennoch zeigen, dass hinter den Kassibern, die nur mit Mühe und Risiko auszutauschen waren, eben doch die Frage stand: ob der Kampf die Leiden lohnt. Nur wen die Kapitulation lockt, der muss über die Unmöglichkeit der Kapitulation räsonnieren.

Nicht nur deshalb sind die Terroristen der RAF der Mehrheitsgesellschaft näher als Reemtsma meint. Wenn Raspe herausstellt, wie nicht Reflexionen, sondern Entscheidung und Praxis politische Stärke ausmachen, so hat er ja recht. Er hat recht nicht nur für die gewalttätigen Abweichler, sondern für die Mehrheitsgesellschaft. Müssten die Vertreter der gegenwärtigen Weltordnung sich täglich argumentativ rechtfertigen, sie sähen recht ärmlich aus. Die Stabilität jeder Gesellschaft beruht darauf, dass sie Bedingungen schafft, denen man fraglos folgt. Weil das Gegebene tief gestaffelt ist, weil es stets Anforderungen stellt, denen zu genügen belohnt wird, erscheint sie als jene selbstverständliche Lebensform, die kleine terroristische Gruppen erst mit auffälliger Gewalt herstellen müssen.

Grenzt Reemtsma die "Terroristen" als das völlig Fremde aus, bleibt er deshalb unter seinem Niveau. Sie sind keine schlechteren Existentialisten als Améry, dessen genaue Wahrnehmung Adorno zu respektieren in der Lage war und den Reemtsma gegen die Metaphysik des von ihm respektierten Adorno anführt. Ohne Metaphysik freilich keine Geschichte als Verlauf, wohin auch immer; und ohne solche Geschichte bleiben Gewalt und Mord Phänomene ohne Wertzuweisung und hat Reemtsmas Hoffnung auf eine Minderung von Gewalt keine Grundlage.

Titelbild

Jan Philipp Reemtsma: Warum Hagen Jung-Ortlieb erschlug. Unzeitgemässes über Krieg und Tod.
Verlag C.H.Beck, München 2003.
300 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3406494277

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