Gelungene Geschichtsdarstellung

Richard J. Evans zupackende Erzählung vom "Aufstieg" des 'Dritten Reiches'

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In historischen Gesamtdarstellungen vereinigt sich das historische Fachwissen mit einem schriftstellerisch-literarischen Anspruch. Ein wenig Gesamtkunstwerk des 19. Jahrhunderts ist spürbar. Doch der glänzende Anspruch des Ganzen, der über das Detail großzügig hinwegzugehen sich gestattet - sei es aus Verlegenheit oder aus Kalkül - ist allein heute nicht mehr ausreichend, um eine historische Gesamtdarstellung zu rechtfertigen. Der Mut zur Generalisierung, die Überwindung des Spezialistentums, wird nur dann belohnt, wenn eben dieses spezialisierte Wissen gezielt verwertet werden kann im Gefolge eines großen Gedanken, einer Idee, oder der dramaturgischen Klammer einer "erzählenden Geschichtsdarstellung".

Eine solche Herangehensweise ist mittlerweile auch für die Darstellung der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland gerechtfertigt. Es gilt, die vielen Spezialstudien, die entlang der bisherigen Forschungsphasen das 'Dritte Reich', seine Entstehung bis 1933, die Entwicklung in der Zeit von 1933 bis 1939 sowie die Kriegsphase 1939 bis 1945 detailliert erklärt haben, zusammenzuführen. Denn die Fülle der Einzeldarstellung birgt die Gefahr der "Fragmentierung unseres Wissens". Demgegenüber erhebt die Gesamtdarstellung den Anspruch, die Einzelaspekte "nicht nur Politik, Diplomatie und Militärisches, sondern auch Gesellschaft, Wirtschaft, Bevölkerungspolitik, Antisemitismus, Polizei und Justiz, Literatur, Kunst und Kultur", wie der Autor in seinem Vorwort präzisiert, zusammenzufassen, "sie zu bündeln und zu zeigen, wie sie miteinander zusammenhingen". Viel Stoff, wird man feststellen. Und so ist denn auch der erste Band dieser auf drei Bände angelegten Geschichte des 'Dritten Reiches' des englischen Historikers Richard J. Evans nahezu 700 Seiten stark.

"Aufstieg" heißt der erste Band der Trilogie. Vom eigentlichen 'Dritten Reich' ist nur in zwei der sechs Kapitel dieses Bandes die Rede. Statt dessen wird in vier Kapiteln nach Ursachen, Grundlagen und Voraussetzungen des 'Dritten Reiches' seit der Bismarck'schen Reichsgründung, in der wilhelminischen Zeit vor 1914, dem Ersten Weltkrieg und der Weimarer Republik gesucht. Die "Schaffung des Dritten Reichs" wird so in einen historischen Zusammenhang gestellt, den gängige Ausdrücke wie "Machtergreifung" nicht gerecht werden, weil sie eine abrupte Veränderung der politischen Umstände suggerieren. Allerdings meint diese Darstellung auch nicht die Bestätigung jener einfältigen Theorien, die das 'Dritte Reich' als eine 'natürliche' Folge preußisch-militaristischer Großmachtpolitik von Friedrich dem Großen über Bismarck bis Hitler sehen. Gerade die Bismarck'sche 'Machtpolitik', so weiß Evans anschaulich zu schildern, wurde gezielt missverstanden von nationalkonservativer Seite und schließlich zu einem Mythos erfolgreicher Politik, an der großdeutsche Sehnsüchte sich orientieren sollten (und konnten). Will sagen: Es hätte auch immer anders kommen können. Warum es aber nicht anders kam, das eben erläutert die umfassende Darstellung der Zeit vor dem 'Dritten Reich'.

Gegen Ende seiner Darstellung stellt der Autor die Frage "Wie und warum kam es zu den Ereignissen?" "Die Gründe", so fasst er in einer Art Fazit zusammen, "für den Erfolg der Nationalsozialisten lagen im Unvermögen des deutschen politischen Systems, eine lebensfähige, landesweite konservative Partei hervorzubringen, die Katholiken und Protestanten auf der Rechten hätte vereinigen können; in der historischen Schwäche des deutschen Liberalismus; in den bitteren Ressentiments über den Verlust des Krieges und die harten Bedingungen des Versailler Vertrags; in der Furcht und Orientierungslosigkeit, die bei vielen Deutschen der Mittelschicht durch die soziale und kulturelle Moderne der Weimarer Jahre ausgelöst wurden." Ein weiteres kam hinzu: eine zunehmende Radikalisierung in Sprache, Denken und Taten, die schließlich einen nie gekannten Einbruch von Gewalt in das politisch-gesellschaftliche Leben ermöglichte.

Evans kann sehr plastisch darstellen, dass alle diese Aspekte bereits im Bismarckreich als latente Bedrohung des zivilen Lebens vorhanden waren. Die Schwäche des Parteiensystems - insbesondere das Versagen der Liberalen - machte die prägenden Negativerfahrungen der Kulturkampfes, der Sozialistengesetze und einer ins Unkontrollierbare abgleitenden Militärautonomie erst möglich. Ob freilich diese Schwäche des Parteisystems alleine daran lag, dass im Reichstag sechs große Parteien saßen, statt - "anders als in England" - nur zwei, mag man kritisch sehen, unzweifelhaft ist indes ein anderer Aspekt dieses Parteienstreits ohne positive Effekte: die allgemeine Geringschätzung bis zur Verachtung des parlamentarischen Systems. Informativ ist auch die Darstellung jener unzähligen "Propheten des Hasses", die im Kaiserreich unter dem Deckmantel einer Pseudowissenschaftlichkeit ihre Botschaften des Antisemitismus, der Rassentheorien und Rassenhygiene verbreiten konnten und bei einem komplexbelasteten Publikum auf Zustimmung treffen konnten. Aus Angst vor einer diffus empfundenen Moderne bildeten sich ans Pathologische grenzende Hass- und Gewaltsehnsüchte in ganzen Teilen der Bevölkerung aus, die schließlich zu einer nie gekannten Akzeptanz von Gewalt im politischen Leben führte.

Unter diesen Bedingungen hatte die Weimarer Republik von Beginn an einen schweren Stand. Vor allem die hasserfüllte Ablehnung der demokratischen Verfassung durch die Verwaltungseliten schuf ein Ungleichgewicht zu Ungunsten der Demokratieverteidiger. Es führte schließlich zur Kanzlerschaft Hitlers, die allerdings auch noch das anbiederndes Taktieren der bürgerlich-konservativen Parteien brauchte. Die zügige Darstellung der Zerstörung der Demokratie im Verlauf weniger Monate nach dem 30. Januar 1933 verdeutlicht, wie konsequent das Regime durch Terror und Gewalt seine Ziele zu erreichen wusste und wie bereitwillig sich die Republik ergab. Massenhaft traten die Beamten der NSDAP bei, "was vielleicht klarer als alles andere das Ausmaß des Opportunismus und der Panikstimmung deutlich macht, von der die deutsche Bevölkerung erfasst worden war." Auch die Arbeiterbewegung und ihre Parteien und Einrichtungen widerstanden nicht. Doch immerhin umweht ihren Restwiderstand ein Hauch von Tragik und Heldentum, versinnbildlicht im tapferen Widerstand der von SA-Schlägern eingeschüchterten SPD-Reichstagsfraktion gegen das Ermächtigungsgesetz.

Evans Darstellung liefert keine neuen Erkenntnisse zum Aufstieg der nationalsozialistischen Diktatur. Aber es gelingt ihm, die komplexen Umstände des Aufstiegs der Nazis plausibel zusammenzufassen und in eine zupackende Schilderung einzufügen. Hierzu tragen auch die eingefügten Aufzeichnungen von Zeitzeugen, wie Sebastian Haffner, die Tagebücher Victor Klemperers oder Zeugnisse alter Nazi-Kämpfer, die bereits in den 30er Jahren von amerikanischen Soziologen erhoben wurden, bei. So gelingt die Gesamtdarstellung und erfüllt den selbstgesetzten Anspruch "erzählender Geschichtsdarstellung", die sich "in erster Linie an Leserinnen und Leser (wendet), die nichts oder nur wenig über das Thema wissen und gerne mehr erfahren möchten".

Titelbild

Richard J. Evans: Das Dritte Reich Band 1: Aufstieg.
Übersetzt aus dem Englischen von Holger Fliessbach und Udo Rennert.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2004.
752 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3421056528

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