Genau, aber einseitig

Hans-Harald Müller und Tom Kindt zu Brechts früher Lyrik

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sich von überkommenen Sinngebungen zu lösen, fällt schwer. Gott, Liebe und all das, was zu Natur erklärt wird, verleihen Halt, erlauben Strukturierung. Demgegenüber gilt der frühe Brecht als Dichter der Verneinung, der der bürgerlichen Wärme das revoltierende Individuum entgegensetzte. Die Religion treffe allein Hohn, die Liebe sei auf Körperlichkeit reduziert, die Natur endlich stehe dem irgendwann notwendig eintretenden Untergang mit radikalem Gleichmut gegenüber.

Diese Sicht kann sich nicht nur auf einzelne Texte, sondern auch auf Elemente von Brechts früh ausgeprägten Selbstinszenierungen stützen. Sie erfasst freilich nur die weniger komplexen Teile schon des Frühwerks. Hans-Harald Müller und Tom Kindt zeigen in einer konzisen Studie zu Brechts früher Lyrik - worunter sie die Gedichte bis zum endgültigen Umzug nach Berlin 1924 verstehen -, dass tatsächlich die Auseinandersetzung mit den bedeutungsstiftenden Ideologien komplizierter verlief und Verlusterfahrungen dem Werk eingeschrieben sind.

Eine kurze Einleitung skizziert die Besonderheit von Brechts lyrischem Frühwerk als eine des Abseits. Ohne jede Abwertung ist zunächst von Provinzliteratur zu sprechen; die moderne Großstadt, auch wo sie motivisch bedeutend ist, erfuhr Brecht vor seinem ersten längeren Berlin-Besuch 1921/22 kaum näher als die exotischen Schauplätze, auf die er viele seiner Abenteuer-Stoffe verlegte. Sozialer Enstehungszusammenhang war eine überschaubare Augsburger Jugendboheme, mit Brecht als Zentralfigur - Modell späterer kollektiver Arbeitsbeziehungen. Bevorzugte Formen Brechts wie Ballade oder Bänkelsang entfernten ihn von der zeitgenössischen gehobenen Lyrik-Produktion.

Vier Hauptteile konkretisieren dann Brechts Versuch, Nihilismus zu gestalten. Im Teil zu "Gott" belegen Müller und Kindt, dass Brecht durchaus nicht problemlos zu einem fröhlichen Blasphemiker wurde und ihn das Nichts, das nach der Verabschiedung Gottes bleibt, immer wieder beschäftigte. Religionskritik wurde dann für Brecht immer mehr zur Kritik an der irdischen Instrumentalisierung des Glaubens, während die Frage nach der Existenz Gottes ins Unentscheidbare rückte, damit freilich Gott als indifferent umso wirksamer verabschiedet war.

An die Stelle Gottes könnte die "Natur" treten. Statt eines positiv gestimmten Pantheismus ist freilich Brechts Natur ebenfalls gleichgültig. Sie ist Ort von Kampf und Untergang, zuweilen von Verklärung. Müller und Kindt zeigen, wie Brecht in späteren Bearbeitungen den Schrecken vor der Gleichgültigkeit der Natur durch einen forciert saloppen Ton zu bannen sucht, dabei jedoch die Unruhe und damit Widerspruchsverhältnisse bewahrt.

Wie die Demontage Gottes erscheint in manchen Gedichten die der tradierten Liebesvorstellung auch als Verlust. Im Teil zur "Liebe" folgen Müller und Kindt nicht der von Brecht zuweilen eingenommenen Pose eines potenzfixierten Kraftmeiers. Der differenzierteren Lektüre erschließen sich Zwischentöne, insbesondere in einer Gruppe von Gedichten, die ehemalige Geliebte zum Stoff haben und die Schwierigkeit des Vergessens thematisieren. Dadurch wird auch die Frage nach einer Individualität der Geliebten vielschichtiger behandelt, als es eine nur auf den Vollzug des Geschlechtsverkehrs konzentrierte Sichtweise erlaubte.

Der vierte Hauptteil ist Selbstbildern und Selbstportraits Brechts gewidmet. Dabei überzeugen die Darlegungen zu den Selbstportraits - zu Gedichten, in denen Brecht explizit über sich selbst schreibt. Die Erkenntnisse bewegen sich hier wieder auf der Linie der vorangegangenen Kapitel: stärkere Selbstzweifel, als sie die forciert selbstbewusste Baal-Figur vermuten ließe; in den späteren zwanziger Jahren dann, auch durch Fassungenvergleiche erhärtet, zunehmende Elemente von rationaler Verhärtung und Distanzierung. Zu vage bleibt aber, was unter "Selbstbildern" zu verstehen sein soll: "Lyrische Selbstbilder enthalten [...] Charakteristika der Selbsteinschätzung des Autors in der Welt, die auf eine Figur, Figurengruppe oder Figuration projiziert werden; der Autor erhebt aber keinen Anspruch darauf, daß sie ihm zugerechnet werden." Eine so weite Definition erlaubt die bunteste Zusammenstellung; und tatsächlich sind die vier Gedichte, die in diesem Abschnitt näher behandelt werden, recht willkürlich ausgewählt.

Müller und Kindt argumentieren durchgehend textnah. Auf knappem Raum geben sie genaue Interpretationen. Das ist insbesondere in einer Zeit verdienstvoll, in der immer mehr Literaturwissenschaftler im Drang, übergreifende Diskurse vorzustellen, Dichtung nur noch auf Belegstellen für vorher Gewusstes absuchen und so unter dem Grad an Komplexität bleiben, auf dem sich die von ihnen derart abgehakten Texte bewegen. Dennoch bleibt fraglich, ob die Autoren die beiden Ziele erreicht haben, die sie im Vorwort nennen: die wesentlichen Koordinaten von Brechts Frühwerk darzustellen und von diesem Stand aus die weitere Entwicklung Brechts wenigstens zu skizzieren.

Sind nämlich die vier dargestellten Aspekte wirklich repräsentativ für das gesamte Frühwerk? Auch ohne dass man dem von Müller und Kindt zu Recht gerügten Irrtum verfällt, das Werk teleologisch als Entwicklung zum Marxismus zu lesen, spielt doch auch schon um 1920 das Gesellschaftliche eine Rolle, von der Müller und Kindt so gar nichts wissen wollen. Das Protestpotential etwa der "Legende vom toten Soldaten", die sie kurz im Kontext der Selbstbilder erwähnen, war unverkennbar und wurde auch gleich erkannt; "Von der Kindsmörderin Marie Farrar", ebenfalls aus der "Hauspostille", hat sozialkritischen Hintergrund. Bedeutender noch als solche vereinzelten stofflichen Momente sind Themenkomplexe wie der Kampf oder die Ersetzbarkeit des Menschen, die deutlichen zeitgenössischen und bereits antikapitalistischen Bezug haben.

Die weitere Entwicklung Brechts lesen Müller und Kindt vor allem als Verlustgeschichte. Im Kapitel zu "Gott" konzedieren die Verfasser für die Zeit um 1930 immerhin noch einen von ihnen geschätzten wissenschaftlichen Marxismus, bis sie aber doch, ohne näheren Beleg, Brecht in einen "dogmatisch erstarrten Marxismus" abgleiten sehen. Galilei habe er dann (so schließt das "Natur"-Kapitel) in den späteren Stück-Fassungen einer rigoristischen Moral unterworfen, aus der Liebeslyrik habe er die Liebe verbannt, und zuletzt heißt es mit einem gegen Brecht gewendeten Brecht-Zitat: "Der Dichter solidarisiert sich nicht einmal mit sich selbst."

Alles zum späteren Werk ist so lieblos hingeschrieben, so pauschal behauptet, als lohne der Marxist Brecht nähere Beschäftigung gar nicht. Hätten Müller und Kindt sich aufs Frühwerk beschränkt: nichts wäre dagegen einzuwenden. Die Wandlungen Brechts zu beurteilen aber erfordert, die Erfahrungen nachzuzeichnen, die zum Neuen führten. Es hätte verlangt, sich auch mit dem Zugewinn an Erfahrungen und ästhetischen Mitteln auseinanderzusetzen, der sich im späteren Schaffen auch Brechts findet. Zusammengefasst: Es hätte jenes historisierenden Blicks bedurft, den der spätere Brecht auf sein eigenes Werk durchaus zu werfen in der Lage war. Zum Glück haben wir seine frühe Lyrik; auch zum Glück hat er sie nicht bis zu seinem Tode stets reproduziert, sondern entwarf er jene in vorliegender Untersuchung verkannten Modelle, die dabei helfen können, Geschichte beherrschbar zu machen.

Titelbild

Hans-Harald Müller / Tom Kindt: Brechts frühe Lyrik. Brecht, Gott, die Natur und die Liebe.
Wilhelm Fink Verlag, München 2002.
158 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3770536711

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