Israëls ' Freud und Leid

Die Geburt der Psycholanalyse aus der Lüge?

Von Andreas HamburgerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Hamburger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was macht ein Spaziergänger, sagen wir: im Traum, der am Rande des Weges ein paar Kinder sieht, eines davon drückt ihm etwas in die Hand, und siehe da, es ist eine Mine, und die Landschaft ist voll Pulverfässer? Er wird sich, wenn er ein guter Träumer ist, trollen oder beherzt hineinbeißen, denn die Mine ist in Wirklichkeit aus Quark. Oder sonstwas.

Nun aber ist dies kein Traum. Der Rezensent hat leibhaftig ein gelbes Buch mit rotem und blauem Aufdruck in den Händen ("Der Fall Freud"), das den Anspruch erhebt, eine Mine zu sein, und sich sehr wohl in eine explosive Diskussion fügt, die derzeit im sogenannten Freud-Bashing kulminiert, einer U.S.-Mode, so rational und so notwendig wie die Stadtneurotiker-Mode der Jahrzehnte davor.

Freilich, ein Spaziergänger ist es, ein Spaziergänger in der Landschaft der Bücher, kein Historiker, dem dies widerfährt, und er reibt sich die Augen. Soll er das Ding entschärfen? Wie? Still beiseite legen und sich trollen? Protestieren gegen die voyeuristische Beendigung des Jahrhunderts der Psychoanalyse? Wenigstens für die Katakomben die wärmende Überzeugung retten, sie war immerhin gut gemeint? Nein, nicht einmal gut gemeint darf sie gewesen sein. Der Untertitel des Werkes: "Die Geburt der Psychoanalyse aus der Lüge".

Er tut, was man in solchen Fällen tut: Er geht weiter. Er liest.

Israëls vertritt die These, Freud sei ein pathologischer Lügner gewesen, und zwar in folgenden Punkten: Er habe seine therapeutischen Mißerfolge verschleiert; er habe zur Selbstanalyse gegriffen, weil kein einziger Patient seinen Deutungen folgen wollte und keiner gesund wurde; und er habe, um seinen wissenschaftlichen Fortschritt zu dokumentieren, seine eigenen früheren Publikationen bewußt irreführend zitiert.

Diese These untersucht er an zwei Episoden aus Freuds Leben, nämlich der frühen Kokain-Episode um 1885 und an den Hysterie-Theorien von 1895/96. Weitere Forschungen, so führt er aus, seien nicht von Belang; denn seit der Jahrhundertwende habe Freud seinen Standpunkt gegen Kritik immunisiert und sich nur noch mit seinen Jüngern auseinandergesetzt - und nicht mal mit denen.

Hier hält der Spaziergänger inne. Da wird also von der Geburt der Psychoanalyse gehandelt - und zwar so, als habe sie danach nichts mehr erlebt. Fehlerhafte Zeugung, ein 30jähriger hat mit unredlichen Mitteln nach dem Ruhm gegriffen, Psychoanalyse verlogen, aus. Alles aus den Anfangserfahrungen deduziert, nichts verändert, nichts dazugekommen? Wenn das Israëls These sein sollte, denkt er sich, dann wäre das Buch ja schon hinfällig. Kein Mensch wird auf der Basis von Einsteins Privatkorrespondenz über die Relativitätstheorie urteilen. Man rechnet sie nach.

Der Spaziergänger hält gern erste Eindrücke fest, pflegt dabei aber nicht stehenzubleiben. Er liest also weiter. Liest sich durch einen Krimi in zwei Akten, in dem Freud so manches nachgewiesen wird. Geheimdokumente tauchen auf, und immer wieder Israëls: der Autor als Detektiv.

Freilich: hier steht wirklich ein Pulverfaß, und das ist nicht dem Autor alleine anzulasten. Es war zu erwarten und wurde oft vorhergesagt, daß die hochselektive Publikationspolitik des Freud-Archivs auf die Dauer zu einem Aufblühen der Abenteuerarchäologie führen würde. Zugute zu halten ist Anna Freud, auf deren Verfügung diese Politik hauptsächlich zurückgeht, daß auch ein großer Mann und seine Kinder ein Privatleben haben dürfen. Eine Rücksicht, die bei anderen Nachlässen ohne Einspruch geübt wird. Der Widerstand, den Freuds wohlgehüteter Nachlaß dem Historiker entgegensetzt - der Spaziergänger bemerkt die überraschende Parallele zum Analytiker - führt in die Versuchung, im Alleingang die Brüchstücke zu deuten. Dieser Versuch muß fehlschlagen, wenn er nicht von der Selbstreflexion getragen wird. Das hat auch die Psychoanalyse lernen müssen. Ohne Kontakt zur gemeinsamen Wirklichkeit erzeugt das Deutungsgeschäft nur Grandiosität.

Israëls fehlt die reflektierende Beziehung zum Gegenstand, die Freud und seine Nachfolger so mühsam erlernen mußten, und deshalb erstarrt er im Gestus des Entdeckers. Etwa wenn er triumphierend Freuds unrühmliche Rolle in der Kokain-Episode aufdeckt, ohne auf dessen berühmte Selbstbezichtigung in der "Traumdeutung" einzugehen: "Die Empfehlung des Kokains, die 1885 von mir ausging, hat mir auch schwerwiegende Vorwürfe eingetragen. Ein teurer, 1895 schon verstorbener Freund hatte durch den Mißbrauch dieses Mittels seinen Untergang beschleunigt." Sicher, Freud hat nicht dazugeschrieben: "und ich habe aus Ehrgeiz diese Tragödie öffentlich in einen Erfolg umgemünzt." Das hätte er auch nicht müssen, denn Freud war selbst überzeugt, seinem Freund geholfen zu haben. Oha! Ist der Spaziergänger zum unkritischen Freud-Apologeten geworden? Nein. Es ist Israëls, der das erwähnt - ohne freilich dem Angeklagten mildernde Umstände zuzubilligen.

Oder wenn behauptet wird, Freud habe seine Verführungstheorie entgegen eigenen Angaben nicht den Berichten seiner hysterischen Patientinnen entnommen, sondern er habe ihnen die Verführungserlebnisse aufgedrängt, und zwar ohne jeden therapeutischen Erfolg, den er jedoch nichtsdestoweniger öffentlich beansprucht habe. Freud hat das "Aufdrängen" nicht bestritten (Belege bei Israëls), nur hat er etwas anderes darunter verstanden, nämlich das beharrliche Konfrontieren mit einer "Lösung", von der er überzeugt war. Bestritten hat er, daß er die Vorfälle frei erfunden habe, was Israëls aber unterstellt (diesmal ohne Belege). Denn Freud hat, und das geht deutlich über Israëls' Horizont, tatsächlich zunächst angenommen, seine frühen Patientinnen hätten ihm die Mißbrauchserfahrungen szenisch mitgeteilt, nicht als offene Erinnerungen, sondern in Form sprechender Symptome. Man kann dazu stehen, wie man will - Freud selbst hat später stark daran gezweifelt -, doch kann man ihn nicht der karrieristischen Lüge bezichtigen. Freuds Zweifel übrigens war sehr kreativ: Er hat den Weg zur Entdeckung der psychischen Realität und damit zur Psychoanalyse eröffnet.

Auch viele andere Nachweise, akribisch geführt, ließen sich anders lesen, Ungereimtheiten anders auflösen. Übrig bliebe kein unbeschädigter Freud, aber auch kein Betrüger. Israëls' Schlußfolgerungen sind keinesfalls zwingend.

Gelegentlich zweifelt auch Israëls nicht an Freuds gutem Glauben. Dann aber steht er vor demselben Dilemma, das er Freud so nachhaltig ankreidet: Seine Ausgangsidee gerät ins Wanken. Nun, er weiß sich zu helfen. Wie, wenn Freud nicht gelogen hätte? Macht nichts - er hat sich eben selbst belogen. Das ist wahrlich die Karikatur einer "psychoanalytischen" Deutung.

Israëls' Leid

Hier begegnet der Spaziergänger schon zum zweiten Mal einer Parallele. Also gestattet er sich, über den Autor dieses Buches nachzusinnen, jedenfalls in seiner fachlichen Funktion als Autor. Einige merkwürdige Entgleisungen lassen ihn nämlich zweifeln, ob es angeht, ihn als "einen der bedeutendsten Freud-Historiker der Gegenwart" zu apostrophieren, wie uns die biographische Notiz glauben machen will.

Einer solch bedeutenden Forscherpersönlichkeit dürften nämlich gewisse Anfängerfehler nicht unterlaufen, wie etwa die zwischen lange, oft mehrmals wiederholte Zitate, die faktengetreue Wissenschaftlichkeit suggerieren sollen, eingestreuten Absurditäten von der Sorte: "Dieses offenherzige Eingeständnis früheren Scheiterns ist übrigens ein einmaliges Ereignis im Leben Freuds geblieben" - und das bei einem Autor, der im gesamten Œuvre immer wieder eigenes Scheitern eingestanden und sich nicht nur auf edle Motive berufen hat. Auch hätte kein ernsthafter Medizinhistoriker Freuds Begriff der "Psychose" im modernen Wortsinne gelesen.

Ein erfahrener Interpret hätte sich auch die phantasievolle Rekonstruktion der Auseinandersetzung zwischen Breuer und Freud über die Beendigung der Therapie der Anna O. verkniffen, die sich bei näherem Zusehen als Folge von common-sense-Schlüssen aus selbstgesetzten Prämissen erweist und von der sich keine Spur in den Dokumenten findet. Israels braucht dieses Szenario aber als Argument für die Kardinalfrage, ob Freud Breuer zu Recht der Vernachlässigung der "sexuellen Faktoren" bei der Hysterie bezichtigt habe. Welche Faktoren das sein sollen, wird an keiner Stelle präzisiert, und so fallen die Belege wild durcheinander. Daß es in der Hysterie-Debatte der Jahrhundertwende durchaus um verschiedene Hypothesen über "sexuelle Faktoren" ging, nämlich um die Degenerations- (Hysterikerinnen sind triebhaft / triebschwach), die Frustrations- (sie haben kein erfülltes Sexualleben) und die Verdrängungshypothese (sie hatten traumatische Kindheitserlebnisse) bleibt im Dunklen. Sonst würde auch deutlich, daß Breuer und Freud zwar bei der Ablehnung der ersten Hypothese einig waren, beide zunächst die zweite favorisierten und Breuer schließlich Freuds Wendung zur dritten Hypothese nicht mitvollziehen mochte.

Die wichtigste Eigenschaft des bedeutenden Biographen, auch des kritischen, wäre aber: Abstand zu seinem Gegenstand zu halten (der Mangel daran war schon bisher gelegentlich die Crux der Freud-Biographik). Israëls aber beschimpft Freud offen als Lügner und "Bösewicht".

Und dabei geschieht ihm etwas, was man - ohne Rückgriff auf Autorenpsychologie - auch in der Wissenschaftsgeschichte als "Wiederkehr des Verdrängten" bezeichnen könnte: Er übernimmt die kritisierte Attitüde seines Gegenstandes. Auch Israels reklamiert wissenschaftliche Erfolge für sich, die ihm nicht zustehen: Das "neue Quellenmaterial", der "sensationelle Fund" (Verlagstext) war schon 1988 von Peter Gay ausgewertet worden, was Israëls aber nur ganz am Rande bemerkt. Und wie Freud, der sich gern mit der Aura des Verfemten umgab, geriert auch Israëls sich als Opfer.

Zum Beispiel im Nachwort zur vorliegenden deutschen Ausgabe, wo er sich vor allem mit einer unbequemen Rezension befaßt. Der Rezensent (laut Israëls "ein gewisser Mark Solms"), unter anderem Übersetzer und Herausgeber der neurologischen Schriften Freuds und somit ein Detailkenner, den der "bedeutende Freud-Historiker" eigentlich kennen sollte, weist fünf Fehler nach, von denen Israëls in seinem Nachwort nur zwei zu entkräften versucht und den peinlichsten geflissentlich verschweigt. Bei letzterem geht es um eine offenkundig bewußt falsche Angabe über die Autorschaft Freuds an einem Artikel in einem amerikanischen Medizinjournal; eine Autorschaft, auf der Israëls weitgehende Schlußfolgerungen aufbaut. Israëls schweigt zu diesem Vorwurf.

Wozu er nicht schweigt, ist die Tatsache, daß sein Buch überhaupt rezensiert wird, obwohl es doch aus einem "exotischen Sprachgebiet" stamme. Und aus dieser Aufmerksamkeit schließt er auf die Brisanz seiner Enthüllungen, unterschlägt dabei freilich, daß der Rezensent dies sogar begründet, und zwar mit einer unkritischen Rezension in der (nicht exotischen, deutschsprachigen und prominenten) F.A.Z.

Ja, was nun? Hat Freud was ausgefressen? Zwar sind dem Spaziergänger die Schuldigen näher als die Saubermänner, und doch ist die Verstrickung der frühen Psychoanalyse immer auch ein betrübliches Thema. Redliche Auseinandersetzung tut not, um die eigenen Idealisierungen abzubauen. Aber auch Augenmaß. Ist es wünschenswert, die Briefe der Großen nachzulesen und ihre Sehnsucht nach Unsterblichkeit zu enthüllen? Und alle die Bücher verschwinden zu lassen, in denen ihre ehrgeizigen Entdeckungen und ihre geschönten Daten stehen? Ach, würden des Spaziergängers Wege kurz....

Titelbild

Han Israels: Der Fall Freud. Die Geburt der Psychoanalyse aus der Lüge.
Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1999.
180 Seiten, 18,40 EUR.
ISBN-10: 3434504540

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