Vom Material zum Tagebuch

Zwei Zeitmitschriften, "1989" und "Abfall für alle", von Rainald Goetz

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Produktion ist im Medienzeitalter eng an Rezeption geknüpft, wie vielleicht keiner direkter und schlüssiger gezeigt hat als Rainald Goetz, Jahrgang 1954. Goetz fertigte Ende der 80er und Ende der 90er Jahre zwei große "Zeitmitschriften" an und publizierte sie als Großgedicht ("1989") bzw. Internet-Tagebuch ("Abfall für alle"):

"1989, beim Schreiben der Theaterstücke 'Festung', in denen ich das damalige öffentliche Sprechen auf den Holocaust beziehen wollte, um die geschichtliche Distanz zum Faschismus und die offensichtlichen Probleme der Erinnerung der deutschen Schuld genauer zu untersuchen, fiel mir auf, wie wenig exakt ich die Realität der täglichen Welterzählung in den Medien für meinen eigenen Text fingieren konnte; und fing deshalb nebenher mit praktischen Übungen an, das öffentlich Gesagte und von mir daheim Gehörte mitzuschreiben."

Fortan fungierte der Autor als Filter und ließ die öffentliche Rede scheinbar "passiv durch sich hindurchgehen und vor sich entstehen". Das Subjekt des Autors verschwand hinter dem Material, hinter dieser "sehr handwerklichen, fast stumpfen, meditativ-repetetiven und zugleich akkordartig agitierten Arbeit eines maximalen Protokolls". Schließlich erschien im Rahmen von "Festung" (1992) das um etwa die Hälfte des Ausgangsmaterials gekürzte, auf 1.600 Seiten gebrachte Langgedicht "1989", mit dem Goetz zugleich "die wahrscheinlich schönste Revolution, die es je gegeben hat", eingefangen hatte - und löste vor allem eines aus: Ratlosigkeit.

Heute, zwölf Jahre nach dem Erstdruck in der edition suhrkamp, hat der Autor der dreibändigen Neuausgabe im suhrkamp taschenbuch einen Text beigegeben, der uns den Zugang erleichtern kann. Und auch der "Material"-Begriff, der schon - quasi in Gattungsfunktion - in der Titelei auftaucht, steuert die Lesererwartung, denn mit Material hatte es schon die "große öffentliche Rede" zu tun, als deren Transkription sich "1989" versteht ("die Material / sei noch kein Beweis / sagt der Obmann / der CDU CSU Fraktion"). Die Materialität des Gemachten - kunsthistorisch sichtbar geworden in den Ready-mades, später in der Arte povera oder bei Joseph Beuys, aber auch in der klassischen Malerei, etwa bei Ives Klein oder bei Lucio Fontana, wo die Bildflächen materielle Effekte bekommen haben, in der Skulptur bei so unterschiedlichen Künstlern wie Giacometti und Lüpertz, Balkenhol und Wachter -, des Gemachten der Wirklichkeit, dürfte den ebenso modernen wie virtuosen Material-Begriff von Goetz mitgeprägt haben, der von der Materialität der gesprochenen Rede ausgeht, sie zunächst in Notizheften ("Ein Brunnen-Erzeugnis") festhält und dabei in Schrift verwandelt, die Handschrift später in ein Typoskript überführt und dabei für den Druck noch einmal filtert und bearbeitet. In "1989" kommt das Material Name und Gestalt, aus dem großen wird das kleine Protokoll destilliert - eine teils gefundene, teils geprägte Begrifflichkeit, die auch, wenngleich in anderer Form und Bedeutung, im Sozialen und in der Politik ihren Ort hat: "kleines Protokoll / das hieß auch kleiner / roter Teppich // der Kanzler schlagfertig".

In seinem Roman-Tagebuch "Abfall für alle", 1998/99 öffentlich im Internet geführt und 1999 als "Roman eines Jahres" in Buchform erschienen, hat Goetz der Welt der Medien und der Informationstechnologie den Roten Teppich ausgerollt. Seine Tagebuchprosa arbeitet hier mit einer dem "Zappen" durch die Programme ähnlichen Umschalt-Technik, die ein anderes, flexibleres, vielleicht auch sprunghafteres Lese(r)verhalten erfordert, als man es vom traditionellen linearen Erzählen kennt. Goetz' "Abfall"-Leser waren darauf offenbar schon besser vorbereitet als die Erstrezipienten von "1989", die mit seinem Großgedicht über zwei Spalten und 1.600 Seiten offensichtlich wenig anfangen konnten. Den Cut-up-Verfahren der Beat-Generation (Burroughs, Ginsberg) nicht unähnlich, gibt hier der Beat der audio-visuellen Medien den "Takt" vor. Deutlich erkennbar sind noch die Spuren der verschiedenen Formate, die Goetz (respektive das Tagebuch-Ich) rezipiert hat: Die Tiersendung ("Immerzu Hunger"), der Mitternacht-Talk ("Domian"), natürlich die "Harald-Schmidt-Show", das "heute-journal" oder die Sendung mit der Lottofee drücken der Zeitmitschrift ihren Stempel auf. Nicht ganz unähnlich war es auch schon in "Irre" (1983), wo Goetz ein Paar vor dem Fernseher präsentierte und seinen Erzähltext als Kamerafahrt inszenierte.

Anhand von "Abfall für alle", dem Zentrum von "Heute Morgen", dem fünften Werkkomplex des Goetz'schen Œuvres, kann gezeigt werden, dass Goetz nach wie vor, wenn nicht sogar in potenziertem Maße, öffentliche Rede und damit "Material" filtert und reproduziert und auf diese Weise ein Werk stiftet. Ziel dieses neuen Projekts "Heute Morgen" ist, wie schon bei "1989", die Rekonstruktion der Gegenwart. Doch verfährt 'Goetz' diesmal anders, um Intention und Plausibilität seines Projekts zu vermitteln - weil er nämlich ein autor-nahes Ich ('Goetz') auftreten lässt, das im Zentrum von "Abfall für alle" steht und zur Identifizierung mit dem Autor einlädt. Ein Ich, das handelnd im sozialen Raum gezeigt wird, das offenbar reich mit Daten der biographischen Realität des Autors ausgestattet ist und ihn, scheinbar direkt und unverfälscht, beim Entstehungsprozess seines Werkes begleitet - ein Tagebuch-Ich also.

Die Entstehungsgeschichte von "Abfall" ist schnell referiert. Ursprünglich als Internet-Site veröffentlicht, abgelegt unter der Domain www.rainaldgoetz.de, wurden seit dem 4. Februar 1998 'Tagesportionen' verfasst und seit "Abfalls / First Day Out", dem 30. März 1998, ins Netz geschoben. Den letzten Eintrag bildete nach sieben mal sieben mal sieben Tagen der 10. Januar 1999. Von 'Tagebuch' war zunächst nicht die Rede, doch ging Goetz in "Praxis V", seiner fünften und letzten Poetikvorlesung an der Frankfurter Goethe-Universität, auf die Nähe seines Internet-Projekts zum Medium Tagebuch ein:

"Abfall für alle. Mein tägliches Textgebet. // Ausgangspunkt ist die rein formale Vorgabe, daß die Seite sich jeden Tag aktualisieren muß. Es geht um den Kick des Internets, der für mich mehr als in Interaktivität in der Geschwindigkeit, in Gegenwartsmöglichkeit, in Aktivitätsnähe besteht. Ich las die Tagebücher von Jünger, Krausser oder Rühmkorf, und dachte immer: wenn man nur wüßte, wie es Jetzt steht, was er Jetzt macht, Jetzt denkt."

Die Buchfassung erschien ein Dreivierteljahr nach Erscheinen des letzten Eintrags. Sie ersetzt und modifiziert die Internetfassung, die zuvor aus dem Netz genommen wurde. Die formale Gestalt der Tagesportionen wurde für die Buchgestalt entscheidend verändert; die inhaltlichen Varianten bestehen in Kürzungen und 'Entschärfungen', wohl aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen vorgenommen. Kleines Beispiel: "Burda, der Depp von München, steht am Fenster", heißt es in der Internet-Fassung (Index 272), "Burda steht am Fenster" in der Buch-Fassung (sub 5. 5. 1998).

"Abfall für alle" demonstriert, wie Realität in und durch Literatur erzeugt wird und wie Literatur "aus Realität" entsteht. Dabei stellen sich die wichtigsten Transformationen des Ausgangs- zum Zielmaterial überblickshaft wie folgt dar:

Goetz' Verfahren war es, sein Basismaterial durch zwei Tilgungs- bzw. Ersetzungsoperationen aus seinem ursprünglichen Zusammenhang herauszulösen und in den Kontext von "Abfall" einzustellen; dabei wurde die Quelle der übernommenen sprachlichen Äußerungen - tendenziell - getilgt oder entindividualisiert und oft werden auch Modus und Gestus neutralisiert. Der tägliche Mitleser der Internet-Site konnte gleichwohl, allein durch die zeitliche Nähe zum Tagebucheintrag, die Kontexte und 'Formate' zuordnen, aus denen 'Goetz' jeweils seine 'Nachrichten' bezogen hat, denn der Publikationsrhythmus binnen 24 Stunden sowie die Bevorzugung bestimmter Kanäle versetzten Goetz' Rezipienten in die Lage, dem Autor dicht auf den Fersen zu bleiben. Vielfach war die Identifizierung und Verifizierung solcher Bruchstücke der großen öffentlichen Rede der Medien auch dadurch erleichtert, dass dasselbe "Zitat" mehrfach und von verschiedenen Medien gleichzeitig übermittelt wurde:

"ich freue mich sehr / ich beglückwünsche / die Polizei zu ihrem Erfolg / ich danke allen / die daran beteiligt gewesen sind / dass es zu diesem Erfolg / gekommen ist // ich werde es / bei dem guten Brauch / belassen / über meine Gefühle in der Öffentlichkeit nicht zu sprechen."

Die Formulierung stammt von Jan Philipp Reemtsma und wurde aus seiner Presseerklärung anlässlich der Festnahme seines Entführers Thomas Drach in Argentinien isoliert. Im Tagebuch ist sie, ähnlich wie ein Gedicht, in kurze Zeilen umbrochen und optisch-visuell freigestellt.

Eine exemplarische Analyse des Zitats und seines veränderten Stellenwerts im Kontext des Tagebuchs kann zugleich ein Problem deutlich machen, das sich Goetz durch diese Form der Übernahme authentischer Rede in sein neues Medium einhandelt, denn der Buchleser, der diesen engen zeitlichen Kontextbezug des Primärrezipienten nicht mehr hat, dürfte Reemtsmas Worte schon nicht mehr so leicht zuordnen können. Dafür werden andere Deutungsmöglichkeiten offenbar, die ebenso legitim sind: Man kann denselben Passus als Sprachhülse werten, wie sie das Fernsehen tagtäglich in den verschiedensten Varianten verbreitet, man kann die gesuchte, optisch-visuelle Präsentation des Wortlautes - ohne Anführungszeichen, aber im auffällig verkürzten Zeilenfall - dem Gestaltungswillen des Autors zuordnen oder den Collage-Charakter des Zitats (und seiner Umgebung) auf eine geheime oder offenbare Poetologie beziehen.

Es sind also teils avancierte, teils konventionelle Lesarten möglich, die sich alle aus Goetz' spezifischem Umgang mit den Sprachhülsen der Medienwelt ableiten lassen. Im Extremfall wird die spröde Prosa der Nachricht zur Poesie oder eine Begrüßungsfloskel Teil verdichteter Rede. Leerzeilen stiften zugleich Sinneinheiten, kennzeichnen abrupte thematische Wechsel oder grammatisch-stilistische Nullpositionen, wie sie aus moderner Dichtung geläufig sind.

Es mindert den Wert dieses Tagebuchs nicht, dass sich die Textgenese so pragmatisch simpel erklären lässt: Denn die Virtuosität, mit der Goetz hier offenbar zwischen den Kanälen 'zappt' und am Ende des Tages doch zum stimmigen Ergebnis kommt, ist überzeugend genug! Das Stimmengewirr, das Vielerlei, der kohärente oder inkohärente Äußerungs-Output aus den verschiedenen Medien, wird, ohne die Brüche zu verschleiern, in die eine Stimme des Mediums 'Tagebuch' überführt

Wichtig ist "Abfall für alle" noch aus einem anderen Grund: Das Tagebuch dokumentiert (schein- oder offenbar) die Entstehung der großen "Formphantasie", die zwischen 1998 und 2001 entstanden ist und die Goetz nach einem Harald-Schmidt-Zitat "Heute Morgen" genannt hat. So unterliegt der Autor etwa im Kampf mit seiner Erzählung "Dekonspiratione", die erst nach Abschluss des Tagebuchs und dann auch nur an ein anderes gutes Ende geführt werden kann. Was Goetz für sich verbuchen kann, nämlich ein neuartiges Textgewinnungsverfahren aus Fragmentierung und Defragmentierung öffentlicher Rede gestiftet zu haben, mit "neuen Zwischentext-Formen", die - unter anderem - ins Medium Tagebuch führen, das ist mehr als respektabel und ein aufregendes Experiment.

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Rainald Goetz: 1989. Material 1-3. Drei Bände.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
1599 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3518455702

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Titelbild

Rainald Goetz: Abfall für alle. Roman eines Jahres.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
864 Seiten, 19,50 EUR.
ISBN-10: 3518455427

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