Mit dem Artist agglutinaire zurück ins Jahr 1953

"Sangerhausen", der Auftaktband von Einar Schleefs Tagebuch-Projekt

Von Helge SchmidRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helge Schmid

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Sangerhausen", das Tagebuch des Regisseurs, Dramatikers und Romanciers Einar Schleef, reicht von 1952 bis 1963, was nicht weiter aufregend wäre. Schaut man sich aber einmal die ersten Einträge, die vom 17. Juni 1953 datieren, genauer an, so fällt auf, dass hier dasselbe Ereignis, der als 'konterrevolutionärer Putsch' in die Geschichte der DDR eingegangene Arbeiteraufstand, gleich dreimal erzählt wird. In den ersten beiden Versionen dominiert die Perspektive des Kindes, des neunjährigen Einar Schleef, 1944 in Sangerhausen geboren und dortselbst als Sohn eines Architekten aufgewachsen. Schleef hat als Kind bereits begonnen, diese ihn prägenden Erlebnisse aufzuschreiben, und wenn er auch die historische Bedeutung des 17. Juni noch nicht erfassen konnte, so spürte er doch gleichwohl, dass Besonderes vorging. Plötzlich, so die historische Situation, sind russische Panzer vor allen wichtigen Gebäuden der Ortschaft und sogar in der Straße des Elternhauses aufgezogen. Ein gelber Brief wird unter der Haustür durchgeschoben, Absender: die russische Kommandantur. Was drinsteht, erfährt er hier noch nicht, doch wird der Vater von der Mutter im Wohnzimmer eingeschlossen: "Die Weiber liegen in den Fenstern, die Kinder spielen Verstecken oder Kriegen, immer um die Panzer. Hoch klettern dürfen wir nicht."

Dies alles ist offenbar authentische, zeitnah zu den Ereignissen produzierte Ich-Erzählung und dem Sprecher selber noch rätselhaft. Doch im Anschluss an die zweite Variante der Erzählung beginnt ein neuer Absatz mit den Worten: "Jahre später erzählt Mutter nur ungern: Der Brief, den bekamen fast alle wie Vater und dann sind sie auf die Kommandantur und nie zurückgekommen, sie zählt auf." An die dritte Fassung, die mit den Worten "Ich bin 10. Panzer" beginnt und wie eine geraffte Nachschrift einiger loser, hier ebenfalls abgedruckter Blätter wirkt, schließen sich weitere Texte an, Kommentare des Autors von 1999 und 2001, aus großem zeitlichen Abstand also, die noch einmal belegen, wie prägend dieser 17. Juni für Schleef war, denn mit diesem Datum begann die "Schreckensherrschaft einer Frau", Hilde Benjamin, die als Justizministerin der DDR drakonisch gegen Abweichler im DDR-Staat vorging.

Doch nicht erst mit dem 17. Juni setzen die Aufzeichnungen ein, sondern schon mit dem 19. Dezember 1952, als in Sangerhausen eine Art Ausnahmezustand herrscht und die kommenden Unruhen ihren Schatten vorauswerfen. Der angeblich reichste Mann des Ortes, "als Kapitalist gebrandmarkt", ist verhaftet, verurteilt und enteignet worden, und "in einzelnen Betrieben versucht man jetzt gezielt Bösewichter auszumachen". Und auch frühere Daten trägt Schleef nach, darunter den Besuch des vom Vater verehrten Autors Stephan Hermlin im Januar 1952 und den Tod der Großmutter im Juni 1950. Private Erinnerungen schließen sich an. Einmal beobachtet Schleef, wie seine Mutter mit dem befreundeten Druckereibesitzer Kunze auf dem Küchenboden liegt, "eine Frau mit offenen Beinen" und glasigem Blick, der nichts wahrzunehmen scheint, "jedenfalls nicht mich". Die Entfremdung vom sieben Jahre älteren Bruder Hans, der 1957 in den Westen geht, wird dargestellt, wie sich überhaupt der Aderlass, den die DDR zu verkraften hat, im Privaten vielfach niederschlägt. Das wirtschaftliche Gefälle zwischen Ost und West manifestiert sich selbst in der eigenen Klasse oder unmittelbaren Nachbarschaft, denn wer Päckchen aus dem Westen bekommt wie Schleefs Mitschüler Wittstock, mit "Hosen, Hemden, Schokolade", der ist privilegiert, und der "soziale Unterschied" wird einmal mehr deutlich, "diesmal in der Flucht", als Schleef seinen Mitschüler in einen Zug einsteigen sieht, mit Koffern und in Begleitung der Großmutter.

Nicht alles, was Schleef zu erzählen hat, ist zeitnah zum historischen Ereignis aufgezeichnet worden, Vieles ist nachträglicher Kommentar. Oft genügt eine Ähnlichkeit als Auslöser, ein Déjà-vu wie im Februar 2001, als Schleef - nach 43 Jahren! - zum zweiten Mal auf Kur fährt, und wiederum an die Ostsee, wo er 1958 unter Anleitung seiner Klassenlehrerin Röthling ein "frühes Öko-Stück" einstudierte. Ein wichtiges Datum ist der schwere Unfall im Februar 1960, den Schleef 1964/65, 1976/77 und 1999 kommentiert und der ihm einen längeren Krankenhausaufenthalt eintrug, ein anderes der 16. Januar 1963, der Tag seiner "ersten Dichtung", Dichtung im emphatischen Sinne, denn natürlich hat der Autor auch "schon früher Gedichte und Gedanken aufgeschrieben".

"Sangerhausen" bildet erst den Auftakt des auf fünf Bände angelegten Tagebuch-Projekts im Suhrkamp Verlag, und doch lässt sich schon sagen, dass es - dereinst abgeschlossen - ein Hauptwerk sein wird mit zahlreichen Querverbindungen zu "Gertrud" (1980 und 1984) und "Droge Faust Parzifal" (1997). Es ist der engagierten Förderung durch die Preußische Seehandlung Berlin zu danken, dass Schleefs Hausverlag das Projekt aufgegriffen hat, das für den Autor in seinen letzten Lebensjahren zunehmend an Bedeutung gewonnen hatte. Dies belegen nicht zuletzt die teilweise ausufernden Kommentierungen, die er seit 1998 an 'altem Material' vorgenommen hat. Natürlich stellt sich hier die Frage, wie Schleef gearbeitet hat und vor allem auch, wie die Leistung seiner Editoren zu bewerten ist. Offenbar begann Schleef seine Aufzeichnungen als Manuskript und hat sie später, teils mehrfach, überarbeitet. Manche seiner Handschriften hat er mit der Schreibmaschine abgetippt und sie dabei erweitert. Noch später, Jahrzehnte später, hat er sie in einen Rechner eingegeben und sie beim Verschriften wiederum erweitert. Er hat sich bemüht, nichts wegzustreichen, sondern das Alte durch Neues zu ergänzen. Er hat dabei auch Widersprüche stehen lassen. Bald besaß er zwei Computer, ein Tischgerät und einen Laptop. Und er fing an, ständig in der Angst, Aufzeichnungen zu verlieren, Kopien auf Disketten zu ziehen, um dann mit diesen Disketten weiterzuarbeiten. Freilich verlor er dabei die Übersicht und arbeitete nicht immer mit der letzten Version. Ab September 1999 begann er dann, frühere Bearbeitungen rückgängig zu machen. Dies war möglich, weil er die verschiedenen Fassungen seiner Texte aufgehoben hatte.

Ein Editorenalptraum oder auch eine Wunscherfüllungsfantasie für solche Literaturwissenschaftler, die die Genese eines Textes bis in alle Einzelheiten nachvollziehen wollen. Schleef hat, als er im Juli 2001 starb, ein Sammelsurium von Aufzeichnungen hinterlassen, einen Wust von Computerdateien auf diversen Festplatten und Dutzenden verschiedener Disketten. Was ein Medienwechsel ist, hier kann man es demonstrieren - von der Handschrift ins Typoskript, vom Typoskript in die elektronische Datenverarbeitung, von der elektronischen Datenverarbeitung ins Buch. Später vielleicht einmal ins Hörbuch, in den Hypertext, ins Internet. Als Editionsphilologen sind wir auf Manuskripte geeicht, doch unsere Zukunft sieht anders aus: Dateien auf Festplatten, die nirgendwo mehr laufen; Floppydisks, die nirgendwo mehr reinpassen; Textverarbeitungsprogramme, die kein Rechner mehr lesen kann - und wenn doch, dann, wie bei Schleef, ein Gewirr von Daten und Dateien.

Einar Schleef hat seine Eintragungen offenbar überbaut, aber nicht zurückgebaut. Er hat nichts gestrichen, selbst Dinge nicht, die ihn kompromittieren könnten. Sein generatives Prinzip ist die Anreicherung, er ist ein Artist agglutinaire, der im Schnitt an die 20 Seiten pro Tag geschrieben hat. Diese Wucherung, dieses hybride Anlagern von neuen an alte Texte, ist penibel zu rekonstruieren, will man erkennen, was historische Zeitmitschrift ist und was Post-festum-Konstruktion. Anhaltspunkte gibt es viele: Dort etwa, wo Notate von späteren Erinnerungen oder Reflexionsschichten überlagert werden, können Widersprüche in den Sachgehalten entstehen, können sich Unterschiede - etwa zwischen Kindersprache und elaborierterer Sprache des Erwachsenen - manifestieren und ist die Dynamik eines Lebens aus dem Aufeinandertreffen zweier Sprachen oder Sprachschichten abzuleiten. Ob das in der Edition deutlich genug herauskommt, kann nur ein Vergleich mit dem Ausgangsmaterial ergeben. Die Buchausgabe immerhin erfreut durch hin und wieder eingestreute, faksimilierte Tagebuchseiten, durch einen knappen editorischen Bericht, ein Werktitelverzeichnis sowie - wenig genug - zwölf Seiten Anmerkungen.

Titelbild

Einar Schleef: Sangerhausen. Tagebuch 1953-1963.
Herausgegeben von Winfried Menninghaus, Wolfgang Rath und Johannes Windrich.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
416 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-10: 3518416057

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