"Lieber, verehrter Freund!"

Nachruf auf Henri Plard

Von Jörg SaderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Sader

"Der Vogel flattert, schwirrt, wirbelt", schreibt Ernst Jünger in "Autor und Autorschaft", "das habe ich gehört. Er schwebt, kreist, stößt nieder - das habe ich gesehen, dann Bilder und Laute in die Sprache übersetzt. Wenn Henri Plard es überträgt, entsteht eine weitere Version." Tatsächlich übersetzte der in Brüssel lehrende, französische Germanist zwischen 1949 und 1988 mehr als 7.000 Seiten des Jünger'schen Œuvres, darunter den Erstling "In Stahlgewittern" und die Tagebücher aus dem Zweiten Weltkrieg, Essays wie "Der Waldgang" und "Der Weltstaat", das Drogenbuch "Annäherungen" und die "Subtilen Jagden" sowie neben den großen Romanen "Heliopolis", "Eumeswil" und "Die Zwille" eine Reihe kleinerer erzählender Texte. In summa mehr als 20 Bücher - beispiellos als Übersetzungswerk, ungewöhnlich als Freundschaftsdienst, ohne den das Ansehen, der Ruhm, den Jünger seit den 50er Jahren in Frankreich genoss, wohl nicht zu denken ist.

Als Henri Plard 1988 einen Positionswechsel vornahm und während einer Vortragsreihe der Freiburger Universität Gewicht und Bedeutung des Jünger'schen Werks öffentlich stark relativierte, überraschte das Forschung wie Lesergemeinde gleichermaßen. Die kritische Sympathie, die der allseits anerkannte, von Jünger selbst hoch geschätzte Übersetzer dem Werk des Wilflinger Anarchen in einer Fülle von Essays (z. B. in den "Etudes Germaniques", in "Text + Kritik" bzw. im "Kritischen Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur") bekundet und auf Tagungen bekräftigt hatte, schien mit einem Schlag ihrer Grundlage beraubt. Plards Vorwürfe wogen schwer: u. a. zieh er Jünger des Antisemitismus, vermutete in seinem Aufenthalt im besetzten Paris eine verdeckte Maßnahme der NS-Kulturpolitik und bekannte, aus religiösen Überzeugungen das Jünger'sche Werk nahezu vollständig abzulehnen.

Auch für Jünger kam der 'Abfall' wie aus heiterem Himmel, hatte Henri Plard doch erst Monate zuvor seine letzte Übersetzung ("Autor und Autorschaft") abgeschlossen, die Jünger in gewohnter Weise faszinierte. Klarheit vermag auch der Blick auf den umfangreichen Briefwechsel Jünger-Plard zwischen 1951 und 1988 nicht zu schaffen, der im Marbacher Literaturarchiv einer Veröffentlichung harrt. Annähernd 400 Briefe wurden aus Brüssel nach Wilflingen geschrieben; sie sind zuweilen herzlicher, verbindlicher, persönlicher im Ton als die Gegenbriefe, die Jünger dem "Lieben Freund Plard" diktierte. Indes lässt keine Passage der Korrespondenz den späteren Schritt des engagierten Literaturhistorikers und Literaturvermittlers vorausahnen, der Plard mit Leib und Seele war: als Linguist, der das Deutsche als Hochsprache liebte und noch seinen Regionalismen und Dialekten bei häufigen Deutschlandreisen nachspürte, wie als Lehrer, der seine Hörer mit einem weiten Wissensradius verblüffte: Reformation, Barockliteratur und deutsche Klassik, doch auch Büchner, Thomas Mann, Expressionistisches Theater und (damals) aktuelle Literaten wie Böll und Grass.

1920 in Dijon geboren, verbrachte Henri Plard Kindheit und Jugend in Rouen, studierte an der Sorbonne und war Absolvent der berühmten Ecole Normale Supérieure. 1942 wurde er, nachdem er sich im Pariser Quartier Latin den Gelben Stern an die Brust geheftet hatte, von der Gestapo verhaftet und für drei Monate im berüchtigten Deportationslager Drancy interniert. Nach der Agrégation ging Plard nach Brüssel und lehrte seitdem an der Freien Universität Deutsche Sprache und Literatur, von 1950 bis zu seiner Emeritierung 1985 als ordentlicher Professor, ab 1965 zugleich als Professor für die Geschichte des Christentums. Der ruhelose Hochschullehrer wurde vielfach geehrt: er war Mitglied der Académie Royale de Belgique, Ritter der Ehrenlegion und Inhaber der Goethe-Medaille.

Die "Kardinaltugend des Übersetzers" sah Henri Plard, der neben Jünger u. a. auch Angelus Silesius, Hans Henny Jahnn und Hannah Arendts Rahel Varnhagen-Buch ins Französische übertrug, darin, "in den Hintergrund zu treten und die Spuren seiner Arbeit zu verschleiern. Er wird sowohl dem Genius seiner Muttersprache wie auch seinem Autor treu geblieben sein, wenn dieser sich in dem neuen Kleide wohl fühlt, das der Übersetzer aus fremdem Stoff ihm zugeschnitten hat." Vor einem Monat bereits, am 25. Mai, ist Henri Plard in Uccle, Brüssel, gestorben.