Schreibend seiner Zeit voraus

Kurt Tucholsky als Vordenker des deutsch-französischen Dialogs

Von Ralf Georg CzaplaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ralf Georg Czapla

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Wie sag ich's meinem Kinde, daß dieses keine so hübsche Stadt ist -?", fragt Kurt Tucholsky sich 1925 bei Anblick der schreienden Möwen, die fliegend mit ihrem Kot die zahlreichen Brücken von Lyon beschmutzen und den Betrachter in seiner Überzeugung bestärken, dass es wohl nichts gebe, was ihn in dieser Stadt halten könne. Was für Lyon galt, galt freilich nicht im gleichen Maße für andere Städte Frankreichs, schon gar nicht für die mondäne Metropole im Herzen des Landes, von deren Zauber Tucholsky sich längst schon hatte einfangen lassen, einem Zauber, dem offenbar weder das Gros der französischen noch das der deutschen Städte etwas Vergleichbares entgegenzustellen hatten.

Im April 1924 war Tucholsky von Berlin nach Paris übergesiedelt. Rasch hatte die Stadt, die für viele seiner Landsleute seit dem Ende des Ersten Weltkriegs das Zentrum des zum Erzfeind erhobenen Nachbarlandes repräsentierte, seine Sympathie und Bewunderung gefunden. Als Korrespondent für "Die Weltbühne" und Autor der bürgerlichen "Vossischen Zeitung" beschäftigte er sich nicht nur mit dem Pariser Kulturleben, sondern ebenso mit den deutsch-französischen Beziehungen, die seit dem Versailler Vertrag belasteter waren als jemals zuvor: "Das geschlagene Deutschland hat nach dem Jahre 1918 wohl das Schauerlichste an Revanche-, Rache-, Mord- und Totschlag-Literatur geleistet. Auch hier werden die unschuldigen und für das pompöse Nichts gefallenen Menschen zur Propaganda benutzt: Sie können sich ja nicht mehr wehren ..." Weitere Artikel Tucholskys erschienen in der radikal-pazifistischen Zeitschrift "Die Menschheit" und dem von Ullstein verlegten Journal "Die Dame", das nach heutigem Verständnis wohl eher als Mode- und Lifestyle-Magazin denn als Forum politischer Auseinandersetzung zu bezeichnen wäre.

Wichtige Impulse erhielt durch die Begegnung mit Frankreich auch Tucholskys lyrische Produktion. Sprache, Tonfall und Verstechnik geben sich so chansonhaft, dass viele Gedichte im Nachhinein entsprechende Vertonungen finden konnten wie etwa der "Amerikaner in Paris":

Paris ist schön. Hier kennt dich Keiner.
Hier ist die Frau nicht süß und rein.
Hier bist du Mensch - und was für einer!
Hier holst du Alles, Alles ein!

Es seufzt Yvonne. Am Strumpfband knistern
die Scheine (übrigens nicht viel).
Das gibt man ihr. Sie gibt den Mistern
meist mit, was Keinem noch gefiel.

Tucholsky ist in Paris der gleiche akribische Arbeiter wie in Berlin. In seiner Bibliothek stehen neben dem "Dictionnaire Française-Allemand" von Sachs-Villatte auch die Werke des hoch geschätzten Dichters Courteline, die Memoiren der Yvette Guilbert und ihre Chansons in der Ausgabe von Gustave Ferrari. Die Opulenz der Pariser Lebenslust verstellt freilich nicht den Blick des Publizisten für die Verhältnisse in der Heimat, sondern schärft ihn im Gegenteil sogar noch. Seismografisch erfasst Tucholsky das Erstarken der politischen Rechten in Deutschland, beobachtet mit Argwohn den Wechsel im Amt des Reichspräsidenten von Friedrich Ebert, der wegen eines gegen ihn laufenden Beleidigungsprozesses einen notwendigen medizinischen Eingriff verschleppt hatte und an den Folgen verstorben war, zu Paul von Hindenburg, der sich als Repräsentant des vorweimarischen Militarismus bei der Wahl gegen Wilhelm Marx, den Kandidaten des Zentrums und der republikanischen Parteien behaupten konnte, und schildert erbittert und sarkastisch das Versagen des sozialdemokratischen Reichswehrministers Gustav Noske: "Die deutsche Monarchie war schließlich unbestritten das am tiefsten stehende und seelenloseste Gebilde Europas. Seine Gemütswerte waren die Leierkastentöne eines besoffenen Feldwebels, der belgische Frauen gequält und abends das 'Elterngrab' gegrölt hat. [...] Die Reichswehr hat Traditionskompagnien, und sie hat einen Traditionsminister, damit eine Tradition nicht verloren geht, deren Unwert erwiesen ist." Dem Traditionalisten empfiehlt Tucholsky deshalb mit Nachdruck jene Perspektivenerweiterung, die er sich selbst mit seinem Fortgang aus Deutschland bereits verschafft hat: "Vielleicht sieht er sich in seinen nächsten Ferien einmal in Frankreich um. Da wird er sehen, wie dieses durch und durch geistige Volk seine Offiziere grade noch gelten läßt, mit einem ganz leisen Anflug von Verachtung." Trost und Bestärkung findet Tucholsky in dieser Zeit vor allem in den Werken kongenialer sozialkritischer Künstler, etwa in den Zeichnungen und Illustrationen George Groszs oder in den Filmen Charles Chaplins, allen voran in "Goldrausch", dessen Besprechung als einer der wunderbarsten Tucholsky-Texte des Jahres 1925 gelten darf, obwohl oder vielleicht weil er lediglich die Höhepunkte des Films beschreibt: "Er [sc. Chaplin] pikt auf zwei Gabeln zwei lange Brötchen, stellt die Gabeln auf den Tisch und packt sie. Und nun sind es plötzlich zwei Beine, Tänzerinnenbeine, oder seine eigenen. Die Brötchen sind seine quer gestellten Schuhe, und das unsichtbare Gabelwesen fängt an, zu tanzen. Es ist eine der genialsten Erfindungen dieses genialen Komikers."

Mit dem siebten Band haben die Herausgeberinnen Bärbel Boldt und Andrea Spingler einen weiteren Stein dem Mosaik der Tucholsky-Gesamtausgabe hinzugefügt, die 2004 abgeschlossen sein soll und das Werk des wohl bedeutendsten Publizisten und Kritikers der Weimarer Republik in seinem ganzen Facettenreichtum und umfassender denn je vorstellen wird. Darin freilich erschöpft sich nur eine Funktion der ersten annähernd vollständigen Ausgabe seiner Werke. Eine zweite besteht darin, die Beziehungen aufzuzeigen, die Tucholsky zu Vertretern aus Kunst, Kultur und Politik im In- und Ausland unterhielt und die dank der Zusammenschau seiner Texte deutlichere Konturen als bislang gewinnen. Doch trotz aller wissenschaftlichen Gelehrsamkeit, die sich in den gediegenen Anhängen der einzelnen Bände dokumentiert, ist nicht zu vergessen, dass die Tucholsky-Gesamtausgabe eine Sammlung von Lesebüchern ist. Besser als mit dieser Konzeption hätte man Tucholsky und seinem Werk wohl nicht gerecht werden können.

Titelbild

Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Band 7. Texte 1925.
Herausgegeben von Bärbel Boldt und Andrea Spingler.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2002.
968 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-10: 349806536X

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch