Alles allegorisch

John Henry ist Colson Whiteheads John Maynard

Von Heribert HovenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heribert Hoven

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lesezeit ist Lebenszeit. Jeder Leser darf also von einer Lektüre eine möglichst anregende Erfahrung erwarten. Der deutsche Leser wird von dem zweiten Roman, nach "Die Fahrstuhlinspektorin", des 34-jährigen schwarzen New Yorker Whitehead auf angenehme Weise unterhalten. Er kann sich verlieren in den weitläufigen Irrgängen der kurzen amerikanischen Geschichte, die ganz wesentlich von rücksichtsloser Gewalt gegen alle und alles geprägt ist; er kann sich amüsieren über eine Weltmacht, die eigentlich nur aus kleinkarierten Provinzlern besteht. Vielleicht aber wird er auch, nachdem er über etwas unübersichtliche Nebenwege endlich auf die Hauptstraße der Handlung gelangt ist, das 500 Seiten-Opus auf die Seite legen, weil er sich sagt, dass ihn die angesprochenen Probleme doch sehr wenig berühren. Während das viel gepriesene Vorbild, Jonathan Franzens "Korrekturen", jedem Leser die Brüchigkeit der bürgerlichen Welt in bestürzender Deutlichkeit vor Augen führte, bleibt in Whiteheads Roman alles allegorisch.

Zentrum der Handlung ist ein Festival im Südstaatennest Talcott, wo die US-Post eine Briefmarke zum Gedenken an den legendären John Henry vorstellt. Um diesen historisch nicht eindeutig belegten Volkshelden, der entfernt an Fontanes Steuermann John Maynard erinnert, ranken sich bis heute ebenso zahlreiche Mythen wie Blues-Balladen, von Woody Guthrie bis Johnny Cash. John Henry, ein Allerweltsname bei den ehemaligen Sklaven, hat sich aus nicht ganz durchsichtigen Gründen auf einen Wettkampf eingelassen, den er eigentlich nur verlieren kann. Er steht als Bergarbeiter im Dienste einer Eisenbahngesellschaft und will nun bei einem gefährlichen Tunnelvortrieb beweisen, dass er mit seinem Handwerkszeug schneller arbeiten kann als der gerade neu angeschaffte Dampfhammer. Auch besiegt er offenbar die Maschine, bevor ihn ein Herz- oder Hirnschlag dahinrafft.

Gerade das Spekulative dieses ungleichen Kampfes ist natürlich eine Herausforderung für einen Autor, der das kaleidoskopische Erzählen beherrscht. Dem historischen Idol stellt nun Whitehead ein modernes Pendant gegenüber, den ebenfalls schwarzen Journalisten J. Sutter, der über das Ereignis in der Provinz berichten soll. Anders als sein Objekt kämpft er jedoch einen gänzlich unheroischen Kampf. Er will nämlich einen nicht nur in seinen Berufskreisen erwähnenswerten Rekord brechen und ein Jahr lang nur von den Gratisbuffets leben, die auf Presseterminen üblich sind. Diesen Rekord erschweren ihm andere Spesenritter und die Tücken des amerikanischen Gesellschaftslebens sowie einige erotische Eskapaden. Überdies trifft er bei der Feier für den schwarzen Nationalhelden auf einen latenten Rassismus, den auch die US-Post mit ihrer Gedenkbriefmarke nicht wegzutransportieren vermag. So entsteht das Kolossalgemälde einer von Zynismus geprägten Zeitungswelt, in der der Einzelne nur als Objekt der Medienmeute fungiert.

Whitehead hat den amerikanischen Gründungsmythos des Einzelkämpfers gleichsam mit dem Hammer bearbeitet und in seinen Brechungen den Talmiglanz eines paranoiden Pop aufblitzen lassen. Wer es statt der Lektüre vorzieht, wieder einmal einen Spätwestern im Kino anzuschauen, kann dies auch in kürzerer Zeit erleben.

Titelbild

Colson Whitehead: John Henry Days. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Nikolaus Stingl.
Carl Hanser Verlag, München 2004.
526 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3446204695

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