Neues aus der Murkelei

Ulrich Ditzen gab den Briefwechsel mit seinem Vater heraus

Von Klaus-Peter MöllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Peter Möller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ulrich Ditzen gab den Briefwechsel mit seinem Vater heraus

Die "Murkelei", was für ein Land das ist, wo es liegt? Gibt es wirklich Menschen, denen man das erklären muss? Die Leser der Werke von Rudolf Ditzen, der sich als Schriftsteller den bezeichnenden Namen Hans Fallada gab, gehören jedenfalls nicht dazu, und es dürfte, legt man die Zahl der weltweit verkauften Exemplare zugrunde, nur wenige literarische Orte geben, Hogwarts und Mittelerde vielleicht ausgenommen, die bekannter sind als das kleine, versteckt in Mecklenburg gelegene Carwitz, wo die Ditzens 1933 die Büdnerei Nr. 17 erwarben, Haus und Hof, mit 6 Morgen Land, 100 Obstbäumen, Nebengebäuden, Vieh, einsam und verwunschen, direkt am Seeufer gelegen, ein "eigenes Heim [...], in dem wir die Tür zumachen können und die Welt draußen sein lassen können, was sie will" (Rudolf Ditzen an die Eltern im Juli 1933). "Geschichten aus der Murkelei", so nannte Hans Fallada eines seiner bekanntesten Kinderbücher, in dem ihm vieles aus dem Carwitzer Alltagsleben zu Literatur geworden ist. "Es war einmal ein Vater", heißt es dort, "der wünschte sich viele Kinder, am liebsten ein Dutzend, sechs Jungen und sechs Mädchen. Es geschah ihm aber nicht nach Wunsch, sondern er hatte nur zwei: einen Jungen, den nannte er Murkel, und ein Mädchen, das hieß er die Mücke." Was ein Murkel ist, weiß man, speziell wurde Falladas am 14. März 1930 geborener Sohn Ulrich so gerufen. Schriftsteller denken sich halt originelle Namen für ihre Kinder aus. Es ist schließlich ihr Beruf, sich etwas Originelles auszudenken.

Mehr als 50 Jahre nach dem Tod des Romanciers erschien nun erstmals eine Auswahl aus der Korrespondenz zwischen Rudolf Ditzen und seinem Sohn Ulrich, der in der Familie und in den Briefen liebevoll Uli genannt wurde und der auch als Herausgeber dieses Bandes mit diesem Namen zeichnet, eine stille Liebeserklärung an den Vater schon auf dem Titelblatt. Der Briefwechsel umfasst die Jahre 1940 bis 1946, die Jahre der "Verbannung" Ulis aus Carwitz, dem Paradies der Kindheit, gegen die er sich so verzweifelt wie erfolglos gewehrt hatte. Auch die Erklärung, er lerne schon genug in der heimatlichen Dorfschule, er denke gar nicht daran zu studieren, das sei auch gar nicht nötig, denn er wolle einmal Lastwagenchauffeur werden ("Heute bei uns zu Haus"), half nichts. Sein Vater, der für seinen "Erstgeborenen" erstrebte, was ihm selbst versagt geblieben war, Abitur und ein Hochschulstudium, schickte Ulrich ab 1940 auf das traditionsreiche Joachimsthalsche Gymnasium bei Templin, wo er bis 1945 in einem Internat lebte. Nur zu den seltenen Wochenendbesuchen und während der Ferien kehrte er nach Hause zurück. Dazwischen waren Vater und Sohn wochenlang auf Briefe angewiesen. Erfolge und Misserfolge in der Schule, Ereignisse in Carwitz, große und kleine Zwischenfälle in Haus und Hof, im Dorf und in der Familie, zu der auch die Tiere gehörten, die Hunde, die Kaninchen, das Geflügel, nicht zuletzt Neuigkeiten vom Baden, das waren die Dinge, die Vater und Sohn einander zu berichten hatten. Es mag Leute geben, die sich nach dem Sinn dieser Veröffentlichung fragen und den Briefwechsel zwischen Rudolf und Ulrich Ditzen als "reine Privatsache" auffassen. Aber was ist bei Fallada schon Privatsache?

Vielmehr ist der Briefwechsel von Vater und Sohn ein editorischer Glücksfall. Nicht nur, dass überhaupt erstmals eine repräsentative Auswahl aus einer der Korrespondenzen Ditzens veröffentlicht wurde, auch der Inhalt der vorgelegten Briefe und das Schicksal der Überlieferung berechtigen zu dieser Einschätzung; nicht zuletzt ist die komplizierte rechtliche Situation in Erwägung zu ziehen, in der eine solche zeitnah erscheinende Ausgabe von Selbstzeugnissen und persönlichen Dokumenten steht. Wie schwierig das Terrain ist, das konnten Fallada-Leser etwa an der 1998 erschienenen Ausgabe des Gefängnistagebuchs sehen, die nicht nur übersät ist von Auslassungen, sondern in der sogar noch nachträglich Namen unkenntlich gemacht wurden, merkwürdiger Weise sogar der Name Ditzen.

Bei den nunmehr der Öffentlichkeit überantworteten Briefen handelt es sich um authentische Dokumente aus der produktivsten Phase eines Schriftstellers, der zu den bedeutendsten deutschsprachigen Erzählern des 20. Jahrhunderts zählt, zugleich aber auch um ein eigentümliches Zeugnis aus seinen letzten Lebensjahren. Am 5. Februar 1947 fand Rudolf Ditzen endlich Ruhe, erschöpft, ausgezehrt von der Sucht, zu Tode gehetzt, "noch in seinen besten Jahren", wie sein Sohn Ulrich Ditzen schreibt, berührend "einsam, arm und würdelos". Es waren Schicksalsjahre für die Familie Ditzen wie für das ganze Land. Während das Reich in Zerstörung und Agonie versank, kam es in Carwitz zu schrecklichen Szenen zwischen Rudolf und Anna Ditzen. Die Ehe wurde geschieden, Rudolf Ditzen in eine Nervenheilanstalt eingewiesen. Als sich Ulrich Ditzen im Februar 1945 mit dem Fahrrad aus Templin absetzte, befand sich Deutschland in Auflösung. Seine Mitschüler wurden zum Volkssturm eingezogen. Aber auch das Paradies der Kindheit war zerstört. Der Vater hatte dem Sohn gerade seine Eheschließung mit Ulla Losch mitgeteilt. Die kurze Phase des Neubeginns, die Rudolf Ditzen nach 1945 noch vergönnt war, stand im Zeichen der sich zuspitzenden Suchterkrankung. Klinikaufenthalte wechselten mit einem chaotischen Leben in der von Johannes R. Becher beschafften Villa in Berlin. Trotzdem bemühte sich Ditzen, die ganze Zeit über so etwas wie Normalität für seinen Sohn aufrecht zu erhalten, ein Inselreich im Zusammenbruch. Muss man ihm einen Vorwurf daraus machen, dass er es in Wirklichkeit nicht vermochte?

Stellenweise liest sich die Korrespondenz Ditzens mit seinem Sohn wie eine Fortsetzung und ein dritter Teil der in den Jahren 1940-1941 entstandenen Erinnerungsbücher "Damals bei uns zu Haus" und "Heute bei uns daheim". Aber es ist keine Fiktion, sondern die Wirklichkeit, die dem Leser in diesen Briefen entgegentritt, natürlich gemildert und gefiltert, aufbereitet in Mitteilungen eines Vaters an seinen heranwachsenden Sohn, zusätzlich noch einer strengen politischen Selbstkontrolle unterworfen. Niemand hatte damals die Freiheit, in seinen Briefen zu schreiben, was er wollte, schon gar nicht einer der bekanntesten Schriftsteller, der in Deutschland zu leben versuchte. Es ist Rudolf Ditzen als Vater, der uns in diesem Briefwechsel entgegentritt, aber auch der Schriftsteller Hans Fallada. Die Briefe gestatten einen Blick in sein Alltagsleben, aus dem er unmittelbar für seine Bücher schöpfte. Ein frecher Dachs kommt darin vor, eine Rattenplage, gegen welche die Katt ins Gefecht geschickt wird, der Hund Teddy, die Bienenvölker. Ditzen zeigt sich in seinen Briefen meist als liebevoller Vater, der Verständnis aufbringt für den Sohn, ihn unterstützt, lobt, ihm von zu Hause erzählt. Aber der Briefwechsel dokumentiert auch jähe Brüche, epistolarischen Zornes-Donner, der hervorbricht, wenn Uli den Vorstellungen der Eltern nicht entsprach, etwa in seinen brieflichen Äußerungen gegenüber der befreundeten Familie Burlage, oder bei schulischem Versagen. So etwas konnte nicht akzeptiert werden, schließlich war Hans Fallada, worauf er mehrfach mit Betonung hinwies, ein "deutscher Schriftsteller".

Die Briefe Falladas aus den 40er Jahren sind auch deshalb wichtig, weil sie die Haltung dokumentieren, die der Schriftsteller gegenüber den Nationalsozialisten einnahm. Bereits im Dezember 1945 wurde von seiner ehemaligen Sekretärin Else Marie Bakonyi der Vorwurf gegen Fallada erhoben, er habe versucht, sich den Nationalsozialisten anzudienern, und Hans Habe bezeichnete den Verfasser von "Wolf unter Wölfen" nach dem Krieg als "literarischen Alibisucher des Hitlertums". Tatsächlich finden sich 1943 - Rudolf Ditzen besuchte im Auftrag des Reichsarbeitsdienstes die Kriegsschauplätze im Westen, um eine Reportage zu schreiben - plötzlich sonderbare Töne in seinen Briefen, nationalistische Phrasen, Endsiegparolen, Wunderwaffengeschwätz. Im September 1943 schrieb er aus Frankreich: "Es ist nicht wichtig, mein lieber Junge, dass Du ein bisschen mehr oder weniger zu essen bekommst, das ist nun einmal der Krieg, wichtig ist allein, dass Du ein Kerl, ein wirklicher Deutscher wirst. Jeder von uns, auch Du, wir haben grosse Aufgaben zu erledigen, wir werden eines Tages die Herren Europas sein, vielleicht auch die der ganzen Welt, da ist es wichtig, dass man ein ganzer Kerl ist. [...] Und wenn wir jetzt im Osten zurückgehen, so hat das alles seine tiefen Gründe. Glaube es mir: wir gehen nicht aus Schwäche zurück. In zwei oder drei Monaten beginnt ein ganz anderer Krieg, wir müssen nur Zeit gewinnen. Dann wird England am Boden liegen, und sogar Amerika werden wir mit unsern neuen Waffen erreichen und zerschmettern!" Diese Eigentümlichkeit nicht verschwiegen und kaschiert zu haben, ist ein Verdienst des Herausgebers. Offenbar handelt es sich bei solchen Äußerungen um ein verwegenes Spiel mit dem Zensor, wie im Kommentar unter Hinweis auf die Biographien von Werner Liersch und Cecilia von Studnitz resümiert wird. Deutliche Worte fand Fallada erst nach dem Sturz der Diktatur. Am 9. Mai 1945 schreibt er: "Zwölf Jahre lang, zwölf endlose trostlose Jahre hindurch habe ich unter der Naziherrschaft nicht ein Wort von dem schreiben dürfen, was mir am Herzen lag". Für die kurze Zeit nach dem Krieg, die Rudolf Ditzen noch vergönnt war, stellt sich die Frage unter anderem Vorzeichen, wie weit es ihm gelungen ist, als Schriftsteller in Deutschland zu leben - jenseits von Emigration oder Verstummen.

Hans Fallada hatte sein erfolgreichstes Buch 1932 veröffentlicht, als der Nationalsozialismus bereits heraufdämmerte. Er war damals einer der bekanntesten Schriftsteller Deutschlands. Und er stand auf dem Höhepunkt seiner literarischen Produktivität. Er besaß ein außergewöhnliches erzählerisches Talent, das auch noch in seinen Briefen spürbar ist. Nach der Machtergreifung sah er sich Diffamierungen, einem drohenden Berufsverbot ausgesetzt, gleichzeitig wurde er zu einem gesuchten Autor. Verschiedene Filmgesellschaften, der Reichsarbeitsdienst und sogar das Reichspropagandaministerium versuchten, ihn für ihre Zwecke einzuspannen. Aber natürlich konnte und wollte sich der Autor, der die unbedingte Ehrlichkeit, auch über den Tod hinaus, zu seinem Programm, seinem Namen erhoben hatte, nicht instrumentalisieren lassen. Er versuchte, seine Existenz zu sichern, das hieß für ihn vor allem: Schreiben, unter allen Umständen. Dieser Zwiespalt ließ sich im Briefwechsel mit dem Sohn nicht direkt darstellen. In den Ratschlägen, die der Vater seinem Sohn erteilte, wird jedoch auch das Programm deutlich, unter dem sein Leben stand: "Ein Mann will hinauf". Aber er scheitert immer wieder. Ganze Bücher sind über den tieferen Sinn, den Erfolg des Scheiterns bei Fallada geschrieben worden. In seinen Werken, auch in den weniger bekannten Erzählungen und Drehbüchern der 40er Jahre, erscheint Fallada nicht als deklassierter Bürger, nicht als einer jener "letzten Männer", wie sie Emil Jannings in dem wenige Jahre früher entstandenen Murnau-Film verkörperte, nicht als einer, der von einem der Handlanger eines unmenschlichen Systems in die Gosse gestoßen wurde, sondern als Kronzeuge jener Jahre, als einer, der keine Alternative sah in den politischen Parteien und sich doch irgendwie arrangieren musste, um sich durchzumogeln. Fallada als klassisches Beispiel für die deutsche Psychose?

Natürlich ist der Briefwechsel zwischen Vater und Sohn ein sehr privates Dokument. Vater Ditzen drang auf regelmäßige Korrespondenz und bewahrte offenbar alle Briefe auf, auch die Durchschläge seiner Gegenbriefe. Überliefert ist ein wohlgeordnetes Konvolut von 461 Blatt, das die Wirren der Zeit überdauerte und nach dem Tod der Mutter Anna Ditzen, die 1990 in Feldberg verstarb, in die Hände der beiden Söhne Ulrich und Achim gelangte. "Lange sahen wir davon ab, den Schriftverkehr zu sichten. Schließlich ließ die Pietät nach, das Interesse nahm zu. Neben manchem, was noch heute verschlossen ist, fand sich ein alter Leitz-Ordner [...], handbeschriftet: 'Kinder'. Ein alter abgegriffener Ordner. Meine Mutter - die Mummi, wie sie von Ehemann, Kindern, Freunden und vielen ihr sonst Nahestehenden genannt wurde -, die Mummi also muss ihn oft in der Hand gehabt haben." Aus diesem Konvolut hat Ulrich Ditzen etwa 40% ausgewählt und wiedergegeben, begleitet von knappen Erläuterungen zu den einzelnen Abschnitten und einer Einleitung. Wie schön der Bruch von der Darstellung in der dritten Person zum Erzählen in der ersten Person. Ein Durchbruch. "Für mich tat sich, als ich die alten Briefe las, eine verlorene, eine neue Welt auf." Und Ulrich Ditzen, inzwischen selbst über 70 Jahre alt, beginnt zu schwärmen von der Büdnerei Nr. 17, noch hinter Carwitz, am Ende der Welt gelegen: "Sie wurde für Familie Ditzen zur Heimat, für die Kinder zum Paradies - mit einem Vater, der nach seiner nächtlich-morgendlichen Schreiberei für sie Zeit hatte, sie auf den Acker, in den Stall mitnahm, mit ihnen im Kahn zum Schwimmen fuhr und mit dem Sohn dann auch über Krieg und Politik sprach, über das, was im Staatsrundfunk und im 'Völkischen Beobachter' verkündet wurde, ebenso wie über das, was die Feindsender sagten (der Sohn hatte zuletzt 52 aufgelistet). Dieser Vater war schon ein Traumvater!" Seit Ende 1945 lebte Ulrich Ditzen bei seinem Vater und dessen neuer Frau in Berlin, dem "Ruinenfeld" der Nachkriegsjahre, wo er den Schulbesuch wieder aufnehmen sollte. Als 16-jähriger war er überfordert mit der Aufgabe, als "De-facto-Haushaltsvorstand" für sich und seine kleine Stiefschwester Jutta zu sorgen, während die Eltern der Sucht lebten und alles in Unordnung und Chaos versank. In dieser Zeit kam ihm, wie er schreibt, "die Achtung vor meinem Vater abhanden". Die innere Abkehr ging so weit, dass er von dem Vater nur noch als von "diesem Mann" sprach. Auch für Ulrich Ditzen war dieses Buch ein Glücksfall: "Mit diesem Briefwechsel hat mein Vater sich mir wiedergegeben, über ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod."

Mit dem Briefband stellt der Aufbau-Verlag erneut seine maßgebliche Rolle für die Rezeption Falladas seit 1945 unter Beweis. Zahlreiche wichtige Editionen stammen aus dieser Berliner Neugründung vom 16. August 1945, beginnend mit der Neuausgabe von "Wer einmal aus dem Blechnapf frisst" (1946), "Der Alpdruck" (1947) und "Jeder stirbt für sich allein" (1947), dem "Trinker"-Roman (1950) über die ausgewählten Werke in Einzelausgaben (Zehn Bände, 1962-1987) bis hin zu den Nachlasseditionen und Neuausgaben von Werken wie "Dies Herz, das dir gehört" (konzipiert 1939 als Filmerzählung für einen Zarah-Leander-Film, aus dem dann aber nichts wurde), "Wizzel Kien" (1995), "Drei Jahre kein Mensch" (1997), dem Gefängnistagebuch von 1924 (1998). Der Briefwechsel Falladas mit seinem Sohn Ulrich ist ein schön gestaltetes Buch, auch darin ist dieser Band ein Glücksfall. Er nimmt das gefällige Format auf, das der Verlag auch schon anderen Nachlass- bzw. Neuausgaben gegeben hat. Die nötigen Fakten zum Verständnis der Briefe hat Hartmut Schönfuß im Kommentar bereitgestellt, der maßvoll und kenntnisreich ist, wenn er den Leser auch in einigen Punkten hilflos lässt. Eine sorgfältige Auswahl von eindrucksvollen Bilddokumenten begleitet die Edition. Störend wirkt allerdings die Werbung, die sich auf elf Seiten am Ende des Bandes breit macht. Diese Seiten hätten Herausgeber und Verlag besser nutzen können, durch Indices der erwähnten Namen und Werke Falladas und durch eine tabellarische Übersicht der wichtigsten Daten.

So gefällig der Briefband äußerlich erscheint, fragt sich doch, warum die Neuerscheinungen des Aufbau Verlages seit den 90er Jahren nicht an die Ausgabe in Einzelbänden angepasst wurden. Damit wird die editorische Zerstreuung fortgesetzt. Eine Gesamtausgabe ist nicht in Sicht. Das ist zu bedauern, zeigt sie doch durch die Briefedition erneut, dass hier noch ein ganzer Kontinent zu entdecken und zu publizieren ist, eine weitgehend unbekannte Provinz. Wohlgeordnet und nur in Auszügen bisher bekannt geworden sind im Fallada-Nachlass noch Schätze zu heben wie die Briefwechsel mit den anderen Familienangehörigen, allen voran der mit Anna Ditzen (Suse), mit den Eltern, der Schwester Elisabeth, mit Johannes Kagelmacher, die Tageskladden, die Erinnerungen der Schwester Elisabeth, und, ganz besonders wichtig, die Korrespondenz mit Ernst Rowohlt und dem Rowohlt Verlag.

Wenn etwas an der Briefausgabe ernsthaft zu kritisieren bleibt, dann das, was sie nicht gibt: Vollständigkeit, eine Beschreibung des Nachlasses insgesamt, einen planvollen Zugriff auf das Briefwerk und die Lebenszeugnisse. Jede Auswahl hinterlässt Zweifel. Allerdings soll das vollständige Briefkonvolut, das dieser Edition zugrunde lag, später einmal dem Hans-Fallada-Archiv übergeben werden, so dass der Forschung zukünftig auch der komplette Briefwechsel zur Verfügung stehen wird. Bleibt das Desiderat eines Editionsplanes. Aber auch als Einzelausgabe ist dieser Briefwechsel eine beachtliche Novität. Obwohl die Bedeutung der Korrespondenz Rudolf Ditzens längst erkannt ist, Biografien und Monografien über Fallada stützen sich stets auf Zitate aus den Briefen, hat es bisher bis auf wenige Ausnahmen noch kaum nennenswerte Brief-Editionen gegeben. Die 1993 erschienene Bibliographie von Enno Dünnebier enthält in der Rubrik Briefe gerade einmal vier Einträge, eine selbständige Ausgabe ist nicht darunter. Mit umfangreichen Briefzitaten warten auch die auf Dokumentarisches gestützten Biographien auf, zu nennen wären etwa die von Jürgen Manthey besorgte Ausgabe "Fallada in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten" (Rowohlt 1963) und die von Gunnar Müller-Waldeck und Roland Ulrich unter Mitarbeit von Ulrich Ditzen herausgegebene Auswahl "Hans Fallada. Sein Leben in Bildern und Briefen" (Aufbau 1997). Unter der Nr. 314, dem letzten Eintrag seiner Bibliografie, verzeichnete Dünnebier die kleine Auswahl aus der Verlagskorrespondenz, die 1991 als Nr. 1 der Taschenbuchreihe des Aufbau Verlages erschien, ausdrücklich unter dem Sigel der Vorläufigkeit. Einem der Briefe dieser Sammlung ist zu entnehmen, dass Fallada die Gesamtausgabe seiner Werke bereits selbst angeregt hat. Am 24. November 1946 schrieb er an Kurt Wilhelm, den Leiter des Verlages: "Sie werden ja in der nächsten Zeit noch mehr Falladas veröffentlichen - warum nicht für alle das gleiche Format (was auch im Hinblick auf eine spätere Gesamtausgabe wünschenswert wäre!) -?"

Weitere Informationen auf der Internet-Seite der Hans Fallada Gesellschaft e. V. (1991 gegründet, Sitz Carwitz, Hans-Fallada-Haus, Zum Bohnenwerder 2, 17258 Feldberger Seenlandschaft), www.fallada.de

Titelbild

Hans Fallada / Uli Ditzen: Mein Vater und sein Sohn. Briefwechsel.
Aufbau Verlag, Berlin 2004.
245 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 3351029934

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch