Weltuntergangsszenarien und Utopie-Modelle

Hans Krah untersucht Zukunftsentwürfe in literarischen und filmischen Narrationen von 1945 bis 1990

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor genau zwanzig Jahren vertrat die feministische Utopieforscherin Elaine Hoffman Baruch bereits die Auffassung, dass die Utopien der Männer die Dystopien der Frauen sein könnten. Ähnlich, wenn auch ohne die geschlechterdifferente Zuspitzung oder auch nur Bezugnahme auf die feministische Utopieforscherin und ihre altbekannte These, verkündet der Passauer Literaturwissenschaftler Hans Krah in seinem neuen Buch, "[w]as als Utopie, was als Dystopie zu setzen" sei, sei "im Wesentlichen pragmatisch, von der jeweiligen Perspektive des Interpreten abhängig".

So unspektakulär diese These ist, so wenig kann es überraschen, dass es ihm ohne weiteres gelingt, sie - etwa anhand von Oskar Maria Grafs Roman "Die Erben des Untergangs" (1959, zuerst 1949 unter dem Titel "Der Eroberung der Welt") - zu verifizieren. Was Graf als "moderne Utopie" - wie Krah in laxer Formulierung sagt - "verkauft", sei "ein mit den Mitteln totalitärer Diktaturen geschaffener, selbst Totalität/Globalität beanspruchender vormoderner, bäuerlich-patriarchal organisierter Weltentwurf", mithin für Krah eine Dystopie. Eine Bewertung, die sich leicht nachvollziehen lässt.

Allerdings sind nicht alle Thesen und Ansätze, die Krah in seiner mit einigen stilistischen Eigenheiten ausgestatteten und nicht immer ganz flüssig zu lesenden Untersuchung der "Weltuntergangsszenarien und Zukunftsentwürfe" in den "Narrationen vom 'Ende' in Literatur und Film" offeriert, derart unspektakulär und so wenig innovativ wie die oben genannte. So setzt er etwa anstelle des Gegensatzes Utopie/Dystopie denjenigen von "aporetisch-komplexitätsreduzierende[r] Utopie", der die eigentliche Utopie entspricht und der der Dystopie entsprechenden "apodiktisch-restriktive[n] Utopie". Aporetisch-komplexitätsreduzierend nennt er erstere aufgrund ihrer "konstitutive[n] Ideologie des Alle-jeder-ganz-Denkens" und deren "Vereinnahmung sämtlicher Lebensbereiche", wobei der "Ausgleich zwischen Anspruch auf Individualität und Integration (und Unterordnung dieser Individualität) in eine (und als wesentlich gesetzte) Gesamtheit" ein "zentrales Moment" dieser Utopie-Form sei. Die komplexitätsreduzierende "Ideologie des 'Alles'" produziert, wie Krah zeigt, notwendigerweise Aporien und Widersprüche. Weitere Charakteristika der aporetisch-komplexitätsreduzierenden Utopie bestehen darin, dass die "gleichsam unveränderlich[e]" ideale Gesellschaft von den Figuren "verdient" werden muss, obwohl sie in der Narration ebenso "konkurrenzlos" wie "einzigartig" ist und es keine "Alternativkonzept[e]" zu ihr gibt.

Während aporetisch-komplexitätsreduzierenden Utopien "apokalyptische, explizite Katastrophen" vorausgegangen sind, die schließlich zur utopischen Transformation der Welt führten, schildert ihr Counterpart, die apodiktisch-restriktive Utopie, "'soziale' Katastrophen". "Vorgeführt werden jeweils als totalitär gesetzte Staatsgebilde oder Gesellschaftssysteme, in denen eine bereits verfestigte, neue Ordnung als statisches nicht thematisches und somit überzeitliches Faktum die Welt organisiert."

Zweifellos liegt in der genaueren Bestimmung von Krahs Begriffspaar ein Gewinn gegenüber dem Gegensatzpaar Utopie/Dystopie. Nachteilig macht sich allerdings bemerkbar, dass Krah ohne die nähere Bestimmung - aporetisch-komplexitätsreduzierend bzw. apodiktisch-restriktiv - des Öfteren ganz allgemein von "Utopie" spricht, die dann überhaupt eine Gesellschaft mit "deutlich verändertem Sozialgefüge" - gleichgültig, ob positiv oder negativ - meint, womit Krahs Begriff der Utopie gegenüber demjenigen des alten Begriffpaars an Bestimmtheit verliert. Die Vorteile beider Gegensatzpaare hätten sich zum Gegensatz aporetisch-komplexitätsreduzierende Utopie versus apodiktisch-restriktive Dystopie verbinden lassen, ohne die jeweiligen Nachteile des herkömmlichen und des von Krah kreierten Gegensatzpaares in Kauf nehmen zu müssen.

Das Ziel von Krahs Untersuchung ist es, "dem Phänomen des Untergangs der Menschheit in der medialen Phantasie nachzugehen", dessen Konzeptionen nachzuzeichnen und seine Kontexte strukturell, argumentativ sowie mentalitäts- und denkgeschichtlich aufzuzeigen. Gegenstandsbereich der Untersuchung sind die Darstellungen und Verhandlungen 'echter' - also nicht metaphorisch zu verstehender - Weltuntergänge in Literatur und Film. 'Echt' auch insofern, als sie nicht durch Eingriffe mystischer Mächte, sondern durch "die gedachten Folgen eines rationalen Aspekts der Technik" ausgelöst werden. Zu diesen 'echten' Weltuntergangsphantasien gehört zweifellos auch Ulrich Horstmanns anthropofugales Manifest "Das Untier" (1983), das von Krah allerdings nicht berücksichtigt wird. Dies überrascht, zumal Horstmann - wie er in einem Interview erklärte - "imaginativ vorwegnehmen" wollte, "mit welchen Erklärungsmustern das philosophische Denken wohl auf den Erduntergang reagieren würde". Denn dies sei "in Ermangelung überlebender grauer Zellen" post festum nicht mehr möglich (vgl. das Interview mit Horstmann in literaturkritik.de 11/1999). Womit sich Horstmanns Buch für Krahs Untersuchung umso mehr angeboten hätte, als dieser ganz ähnlich feststellt, dass "die globale Katastrophe zwar denkmöglich, aber notwendigerweise (noch) nicht realisiert ist", weshalb die von ihm untersuchten literarischen und filmischen Narrationen notwendigerweise nicht "realitätsabbildend" sein können. Allerdings beschränkt Krah seinen Gegenstandsbereich auf das narratologische Genre der Science Fiction, wozu Horstmanns Essay dezidiert nicht zu rechnen ist.

Den Korpus des Untersuchungsgegenstandes bilden auf literarischer Ebene überwiegend deutschsprachige Produktionen, ergänzt von einer Reihe wichtiger angloamerikanischer Texte; auf filmischer Ebene überwiegen US-Produktionen.

Das Jahr 1945 bildet den Einstieg in die Untersuchung, und zwar aufgrund der, wie der Autor überzeugend argumentiert, "seit den Bombenabwürfen von Hiroschima und Nagasaki in das öffentliche Bewusstsein getretenen Möglichkeit einer von Menschen realisierbaren Katastrophe globalen Ausmaßes". Wieso der Untersuchungszeitraum 1990 endet, wird hingegen nicht begründet, hat seine Ursache allerdings vermutlich im Entstehungszeitraum der Untersuchung und ist somit nicht durch den Untersuchungsgegenstand selbst bedingt.

Krahs Arbeit setzt mit Oskar Maria Grafs Roman "Die Eroberung der Welt" ein, da dem Text, wie der Autor zeigt, ein "Zwischenstatus" zukommt, der die Grenze des untersuchten Diskursfeldes aufzeigt. Zwar wurde der Text 1949 publiziert, doch treten "in einigen seiner Konzeptionen", wie etwa der des Blutes oder der Masse "Elemente" des Diskurses der Frühen Moderne hervor, womit der Autor - allerdings unausgesprochen - die um 1900 situierte literarische Moderne meint und nicht die ein Jahrhundert früher anzusetzende philosophische. Auch das der Frau in Grafs Roman zugeschriebene "unbändige" und daher vom Manne zu domestizierende Bedürfnis nach Sexualität entstamme dem Gedankengut der Frühen Moderne. Dieser Zwischenstatus gelte auch für die im Roman dargestellte Katastrophe selbst, diene sie hier doch noch als "Grundlage eines Gedankenexperiments". Ihre zeichenhafte Strategie entstamme somit einer Zeit, in der die Fiktion einer globalen Katastrophe nichts weiter als ein bloßes Gedankenspiel sein konnte.

Im "typische[n] 50er-Jahre-Modell" fungiert die fiktive Katastrophe in Literatur und Film sodann als "sinnhafte 'Sintflut'", bei der das überlebende Paar zeichenhaft als symbolisches Überleben aller zu lesen sei, womit die Schreckensvorstellung dieser Zeit - das Aussterben der menschlichen Rasse - gebannt werde. Nicht etwa "Rekonstituierung" und "soziale Neuorganisation" der Gesellschaft werden in diesem Jahrzehnt thematisiert, vielmehr liegt bereits im Überleben der Menschheit um ihrer selbst willen der einzige, letzte und unhinterfragte Sinn.

Bilden sich in der Endzeit- und Untergangsliteratur der 50er Jahre schnell zahlreiche Variationen globaler Katastrophen aus, deren Gestaltung Krah zufolge der parabolischen Verarbeitung anderer Phänomene dient, so entwickeln sich zur gleichen Zeit in den filmischen Verarbeitungen des Genres "deutlichere Strukturkonventionen", "die sich primär einer narrativen Verdichtung des Erzählten verdanken". Für die 60er Jahre kann der Autor "spezifische Modalisierungen des Endzeitdiskurses" verzeichnen, da sowohl literarische als auch filmische Texte des Genres die Diskurse "extremisieren", sie - etwa in Form von Satiren - "scheinbar brechen" und den Diskurs als ganzen "auf eine andere Ebene heben". Anliegen der Endzeitfilme des folgenden Dezenniums ist es, "neue Strategien der Sinngebungsargumentation aus[zu]testen", wie Krah etwas unschön formuliert. Nunmehr wird auch auf cineastischer Ebene längst "mit einem - auch ideologisch - breiten Spektrum an Varianten experimentiert". Für die 80er Jahre ist insofern ein "Paradigmenwechsel" zu verzeichnen, als bisherige Modellierungen von Weltordnung, Heldenkonzept und Geschlechterbeziehung ebenso wie die Katastrophe selbst "refunktionalisiert" werden. Im Jahrzehnt der Proteste gegen den Nato-Doppelbeschluss scheint die Katastrophe nicht nur realistischer zu sein, sie ist in der filmischen ebenso wie in der literarischen Fiktion - als dezidiert atomare - auch zeitlich und räumlich näher gerückt. Daneben entwickeln sich verschiedene Modalisierungen, die zu Beginn der 90er Jahre den Diskurs verändern, der zwar noch immer auf die umfassende Katastrophe Bezug nimmt, jedoch ohne dass sie einen privilegierteren Status innehätte. Dabei entsteht eine Form der "Genrebrechung", deren "Aspekt des Unernstes" sich als "Genremix" präsentiert.

Zwar beleuchtet Krah wiederholt die Konstruktion der Geschlechterrollen und -verhältnisse sowie die Wandlungen, die diese im Laufe der Jahrzehnte in den Katastrophen- und Endzeit-Narrationen durchlaufen. Dafür erstaunt es aber umso mehr, dass er, von nur einer Ausnahme abgesehen, ausschließlich Werke männlicher Literaten und Regisseure unter die Lupe nimmt. Bei dieser einen Ausnahme handelt es sich ausgerechnet um Kate Wilhelms "Where Late the Sweet Birds Sang" (1976), dessen Geschlechterkonstruktionen sich nicht von denjenigen in den Werken männlicher Autoren unterscheiden. So findet Krah den Roman denn auch nur insofern bemerkenswert, als die hier von einer Frau entworfene "Geschlechterspezifik" zeige, dass eine "notwendige Koppelung von von Autorinnen gestalteten Konzeptionen und eher (und im weitesten Sinne) feministischen Konzeptionen nicht gegeben sein muss", was allerdings alles andere als eine bahnbrechende Erkenntnis ist. Ungleich interessanter wäre es gewesen, statt Wilhelms Roman die Werke feministischer Autorinnen heranzuziehen. Und da hätten sich durchaus einige angeboten, die sich grundlegend von denjenigen ihrer männlichen Kollegen unterscheiden. Man denke nur an Sally Miller Gearharts "The Wanderground" (1979), an Marge Piercys Standardwerke "Woman at the Edge of Time" (1976) und "He, She, and It" (1991), an Margarete Atwoods "The Handmaid's Tale" (1985) - Krah zieht nur Schlöndorffs Verfilmung heran, ohne auf die literarische Vorlage auch nur hinzuweisen - oder an Doris Lessings "The Memoirs of a Survivor" (1974), das Krah immerhin in einer Fußnote erwähnt. Es mag also zwar sein, "dass es sich beim Endzeitfilm strukturell um ein dezidiert 'männliches' Genre handelt". Für Endzeitliteratur gilt dies jedoch ebenso dezidiert nicht.

Es sei hier nicht versäumt, noch auf eine besondere Überraschung hinzuweisen, mit der der Anhang aufwartet: Das Begriffsregister bietet den seltenen, wenn nicht gar einmaligen Fall, dass zwar der Begriff "Mann" aufgenommen wurde, nicht aber der Begriff "Frau". Das weibliche Geschlecht ist nur durch die "Mütter" und die "Schwangerschaft" vertreten. Dafür fehlen wiederum die Väter. Und so ist auch hier letztlich alles im Lot.

Titelbild

Hans Krah: Weltuntergangsszenarien und Zukunftsentwürfe. Narrationen vom "Ende" in Literatur und Film.
Verlag Ludwig, Kiel 2004.
415 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-10: 3933598915

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