Wenn Du geschwiegen hättest, Thor!

Rückblick auf einen Literaturskandal und leider keine Neubewertung: Thor Kunkels delirantes opus malum "Endstufe"

Von Stephan LandshuterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Landshuter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unlängst schmähte der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf, jüngster Preisträger des Publikumspreises beim Klagenfurter Bachmann-Wettbewerb, seinen Kollegen Thor Kunkel in der "Süddeutschen Zeitung", wie es in diesem drastischen Ton heutzutage (Maxim Biller selbstverständlich ausgenommen) eher selten vorkommt: Er gratulierte einer Rowohlt-Lektorin, dass man Kunkel "gefickt" habe. Er halte ihn für einen "eitlen, dummen Sack" und überdies: "derart langweilig schreiben, das ginge nicht".

Der ungehemmte Herrndorf stimmte damit ein in den Chor von Rezensenten, die sich im April dieses Jahres über Kunkels Text beugten, sich (bis auf einen wohlmeinenden Kritiker der "F. A. Z. am Sonntag") mit Grausen wendeten und den Autor ab und an auch ad personam beschimpften, als sei er der Antichrist. Selbst Kunkels Beinahe-Verleger Fest beließ es nicht bei einer Kritik des Textes, sondern geißelte den Autor als "Wiedergeburt Parzifals als rechter Schläger". Das mag literarisch anspruchsvoll formuliert sein, gentlemanlike war es nicht - so kann man übers Ziel hinausschießen, wenn man sich in Panik selbst aus der Schusslinie retten will, denn Fest wusste natürlich bestens, wie heikel diese Trennung von einem Autor in letzter Sekunde war, zumal man ihn in der Verlagsvorschau gerade noch angepriesen hatte.

Nachdem der erste Rauch verflogen ist, kann man den Roman, der rasch nach Kunkels Rauswurf aus dem Hause Rowohlt bei Eichborn erschien, in aller Ruhe noch einmal betrachten und bewerten. Doch um es gleich vorwegzunehmen: Alle Gelassenheit kann diesem Roman nicht zu Hilfe eilen, nichts ist rettbar an diesem Opus malum, so sehr man es dem Autor, dessen "Schwarzlicht-Terrarium" (2000) ja teilweise gar nicht übel war, auch gewünscht hätte. Der Inhalt von "Endstufe" ist mittlerweile so oft repetiert worden, dass er mittlerweile vorausgesetzt werden kann.

Immer wieder stellt man sich mit Iris Radisch die Frage: Was soll das? Was will uns der Autor sagen? Was will er mit seiner so penetranten wie penetrierenden Porno-Sprache? Will er, gegen Ende des Romans, der Widerwärtigkeit des Geschehenen - den vielen Vergewaltigungen kurz vor und nach Kriegsende - literarisch Herr werden, indem er die Ekelhaftigkeit der Sprache in ungeahnte Tiefen treibt wie in dem mittlerweile notorischen Kapitel "1945"? Ästhetische Qualität entsteht nicht dadurch, dass das zu beschreibende Grauen in einer deliranten Metaphernflut ertrinkt, die nichts als die Selbstverliebtheit des Autors in seine außer Kontrolle geratene Sprachmaschinerie zum Ausdruck bringt. Dass der Roman nach Verlagsauskunft "die menschliche Natur zeigt, wie sie ist, nicht, wie sie sein soll", hilft da auch nicht weiter. Kunkels Empörung über Massenvergewaltigungen zu teilen, bereitet keine Mühe - seine "Verarbeitung" zu Literatur jedoch sehr.

Es bringt schlicht nichts, von "einem Pfeilregen eines tollwütigen Eros", von der "gnadenlosen Fließbandarbeit von samenden Automaten", von "Proteinpistolen im Anschlag" zu schwadronieren. Was Vergewaltigungen mit "Eros" zu tun haben sollen - "tollwütig" hin oder her -, das möchte man angesichts dieser avancierten Metapher ohnehin gerne erklärt bekommen, aber ein Blick auf andere Versuche des Autors auf dem heiklen Felde der Metaphorik zeigt, welch grundsätzliche Schwächen Thor Kunkel in diesem Roman im Umgang mit Sprache zeigt. Ein Beispiel, bei dem das Bewusstsein eines Menschen in Todesnähe beschrieben wird, der jäh ins Leben zurückkehrt, muss hier genügen: "Dann, als sich die Restzeit seines Lebens nicht länger dehnen lässt, als die Atomzeit implodiert, springt die Zeit zurück ..." Schiefe Metaphorik, so weit das Auge reicht: Die Verben "dehnen" und "zurückspringen" stehen semantisch verbindungslos neben dem "implodieren", und die Vorstellung einer "implodierenden Atomzeit" überfordert uns restlos.

Noch schlimmer als solches Sprachunglück wiegt allerdings das Faktum, dass der Roman als Gesamtheit strukturell wirr ist und, wenn er gerade nicht widerwärtig ist, unerträgliche Langeweile verursacht. Auch hier wieder die Frage: Was sollen all diese öden Geschichten um die Pornofilmerei der Nazis? (Lassen wir die Frage einmal außen vor, ob es diese Filme nun gab oder nicht.) Welchen Erkenntnisgewinn soll man aus Kunkels Blick auf das "Dritte Reich" ziehen? Noch größer als der Ekel ist die Ratlosigkeit, die dieser Roman mit all seinem pornographischen Firlefanz hinterlässt. In dem Punkt hat der anfangs zitierte Herrndorf gewiss recht: Ein Autor darf zuallerletzt langweilig schreiben, das ist noch schlimmer als jede abgestürzte Metapher, die ja immerhin noch unterhaltsam sein kann. Aber neunzig Prozent des Romans sind schlicht so ermüdend wie uninspiriert und intellektuell weitgehend wertlos obendrein.

Eine kleine Äußerlichkeit ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung: Über fast jedem Subkapitel steht eine Sentenz aus der Feder eines großen Kollegen aus der Denkgeschichte, insgesamt 75 Motti werden dem Leser im Romanverlauf um die Ohren gehauen - wahrhaft inflationär. Wenn ein Autor so hemmungslos seinen Zettelkasten entleert (oder plündert er am Ende ein Zitatenlexikon?), dann liegt der Verdacht nahe, hier würde mittels all dieser ungefragt herbeizitierten Geistesgrößen von Heraklit bis Thomas Bernhard Bedeutsamkeit über einen Roman (und dessen Erzeuger!) gestülpt, die eigentlich nicht da ist. Und wenn das Buch auch noch allen Ernstes (und warum sollte das humoristisch zu verstehen sein) "Jesus, Nietzsche und Mohammed" gewidmet wird, dann kann man einfach nur noch den Kopf schütteln und ausrufen: Wenn Du geschwiegen hättest, Thor!

Es bleibt ein Rätsel, weshalb Thor Kunkel nach den desaströsen Reaktionen bei Rowohlt nicht in sich ging und den Text erst einmal in der Schublade verschwinden ließ. Vermutlich war seine Angst zu groß, nach den Insinuationen Fests als Kryptofaschist dazustehen. Der vorliegende Roman gibt keine Hinweise, dass dem so sei und entlastet den Autor. Der Preis, den er jedoch für diesen Nachweis zu zahlen hat, wird groß sein: Anstelle des verunglückten Romans dürfte nun mit ziemlicher Sicherheit der Autor selbst im Abseits des Literaturbetriebs verschwinden.

Titelbild

Thor Kunkel: Endstufe. Roman.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
587 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3821807539

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