Das Wahrsprechen des Subjekts

Michel Foucaults Vorlesung am Collège de France über die "Hermeneutik des Subjekts"

Von Thilo RissingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thilo Rissing

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In diesem Jahr ist die Vorlesung, die Michel Foucault 1981/82 am Collège de France gehalten hat, unter dem Titel "Hermeneutik des Subjekts" im Suhrkamp Verlag erschienen. Zeitlich bewegt sich die Untersuchung im Kontext des Foucault'schen Spätwerks, das durch die drei Bände zu "Sexualität und Wahrheit" gekennzeichnet ist. Thematisch aber erforscht Foucault in dieser Vorlesung Aspekte, die in seinen letzten Publikationen nur marginalen Raum einnehmen: Das zentrale Interesse liegt auf der je unterschiedlichen Verhältnisbestimmung von "Subjektivität" und "Wahrheit".

Um zu bestimmen, wie sich diese Relation entwickelt hat, greift Foucault auf zwei Zeiträume innerhalb der Antike zurück: Zum einen bezieht er sich auf den platonischen Dialog "Alkibiades" und auf die Schriften Epikurs als Werke der klassischen griechischen Antike; zum anderen auf die beiden ersten Jahrhunderte nach Christus, wobei Autoren wie Seneca, Epiktet, Marc Aurel u. a. im Fokus seiner Forschung stehen. Implizit aber beruht seine Untersuchung auf drei Blöcken, die sich voneinander abheben: Die klassische Antike mit Platon als Schwerpunkt, die philosophischen Strömungen der römischen Kaiserzeit und schließlich die Transformation jener Denkfiguren bei den christlichen Autoren der nachfolgenden Jahrhunderte. Foucault unternimmt in seiner Vorlesung somit den Versuch einer Wiederentdeckung jener fruchtbaren Zwischenzeit, die durch die bisherige Konzentration der Forschung auf die klassische Philosophie (Platon; Aristoteles) oder die frühchristlichen Kirchenväter verdeckt und verdrängt worden war.

Auch diese Vorlesung zeugt dabei von der beeindruckenden Fähigkeit Foucaults, Denkströmungen und Problemkomplexe der Vergangenheit in ihrer Relevanz für die Gegenwart zu erschließen. Es fällt sofort ins Auge, dass Foucault in dieser Vorlesung von seiner These vom "Tod des Subjekts", wie er sie noch in "Die Ordnung der Dinge" vertrat, abrückt. Vielmehr interessiert er sich nun für bestimmte Formen der subjektiven Selbstkonstitution, wie sie sich besonders um die Thematik der "Sorge um sich" (epimeleia heautou) in der Philosophie der römischen Kaiserzeit (Stoizismus, Epikurismus, Kynismus u. a.) gruppiert haben. Dieser Komplex der "Sorge um sich" gewinnt für Foucault eine große Bedeutung, weil es ihm eine wichtige Gegenoption zum dominanten Zug des delphischen "Erkenne dich selbst" (gnothi seauton) zu bieten scheint. Foucault sieht eine enge Verbindung zwischen diesen beiden Grundsätzen, wobei in der Antike die "Sorge um sich" als Aufforderung, sich um sich selbst zu kümmern, eine umfassendere Geltung für sich beanspruchen konnte, während das "Erkenne dich selbst" als ein Aspekt dem Komplex der Selbstsorge lediglich untergeordnet war. Foucaults Interesse an diesen beiden antiken Denkformen beruht auf dem Sachverhalt, dass im Laufe der Philosophiegeschichte die Konstitution des Subjekts als Erkenntnissubjekt vollständig den Themenkomplex der "Selbstsorge" verdrängen konnte, so dass spätestens im cartesianischen Rationalismus das Subjekt allein über den methodischen Zugang zur Wahrheit gesucht wurde. Zugleich macht Foucault jedoch auch in der Philosophie der Moderne noch immer Nähen zum Komplex der "Selbstsorge" aus, die allerdings in der Vorlesung selbst nicht ausgearbeitet werden, sondern eher vage anklingen. So beschließt Foucault die Vorlesung mit einem Verweis auf Hegels "Phänomenologie des Geistes", in der seiner Meinung nach die beiden Arten der Subjektkonstituierung miteinander verschränkt worden seien:

"Wie ist es möglich, dass das, was vermittelt über die technische Beherrschung sich als Objekt des Wissens gibt, zugleich der Ort ist, wo die Wahrheit des Subjekts, das wir sind, sich erprobt und unter Schwierigkeiten vollendet? [...] Gesetzt, dies ist das Problem der abendländischen Philosophie - wie kann die Welt Erkenntnisobjekt und zugleich Ort der Bewährung [épreuve] für das Subjekt sein; wie ist es möglich, dass es ein Erkenntnissubjekt gibt, das sich die Welt vermittelt über eine techne als Objekt gibt, und ein Subjekt der Selbsterfahrung, das sich dieselbe Welt in der radikal unterschiedenen Gestalt der Bewährung gibt -, gesetzt also, das ist tatsächlich die Herausforderung, der sich die abendländische Philosophie zu stellen hat, dann verstehen Sie auch, warum die Phänomenologie des Geistes den Höhepunkt dieser Philosophie bildet."

Foucault vermittelt in dieser Vorlesung - und das macht das Spannende an ihr aus -, den Eindruck, dass sich als ein kontinuierlicher Subtext unter seinen Untersuchungen zur antiken Philosophie eine Auseinandersetzung mit der modernen Philosophie von Hegel bis Heidegger bzw. Lacan abzeichnet. Auf der Oberfläche interpretiert Foucault bestimmte Texte der Antike, in der die Selbstsorge als ein Geflecht aus Praktiken bestimmt wird, auf dessen Grundlage es dem Menschen erlaubt sein soll, sich um sich selbst zu kümmern, zugleich kristallisiert sich anhand dieser Untersuchungen heraus, dass es in dieser Epoche und in den Verschiebungen dieses Themenkomplexes in der christlichen Nachfolgezeit zu Weichenstellungen innerhalb der Subjektkonstitution gekommen ist, die Auswirkungen bis in die Gegenwart haben.

Ausgangspunkt der Vorlesung zur Hermeneutik des Subjekts ist also für Foucault die Grundunterscheidung zwischen den beiden Grundsätzen "Erkenne dich selbst" und "Sorge dich um dich selbst". Während beim ersten Leitsatz die Beziehung zwischen Wahrheit und Subjekt durch die Erkenntnis bestimmt wird, liegt im zweiten Fall diesem Verhältnis eine "Geistigkeit" zugrunde.

"Wir nennen 'Geistigkeit' das Ensemble von Suchverfahren, Praktiken und Erfahrungen, die Läuterung, Askese, Verzicht, Umwendung des Blicks, Lebensveränderungen usw. sein können, und die, zwar nicht für die Erkenntnis, aber für das Subjekt, das Sein selbst des Subjekts, den Preis darstellen, den es für den Zugang zur Wahrheit zu zahlen hat."

Die Wahrheit ist dem Subjekt demnach nicht über die Erkenntnis gegeben, sondern erfordert eine Praxis des Subjekts, die über die Geistigkeit dazu führt, dass es sich derart transformiert, dass sich ihm die Wahrheit "ereignen" kann. Foucault beschreibt in aller Prägnanz diese Differenz zwischen dem "gnothi seauton" und dem in diesem Kontext interessanteren "epimeleia heautou":

"Die Erkenntnis öffnet sich einfach auf ein unbegrenztes Fortschreiten, dessen Ende man nicht kennt und dessen Gewinn sich im Laufe der Geschichte lediglich in der instituierten Kumulierung von Wissen oder im psychologischen oder sozialen Gewinn darstellt, der sich daraus ziehen lässt, dass man schließlich die Wahrheit erlangt hat, wo man sich doch so großen Mühen unterzogen hat. So wie die Wahrheit von jetzt an geartet ist, ist sie nicht dazu geeignet, dem Subjekt auch das Seelenheil zu gewähren. Wird die Geistigkeit als jene Form von Praktiken definiert, die voraussetzen, dass das Subjekt, so wie es ist, der Wahrheit nicht fähig ist, dass aber die Wahrheit, so wie sie ist, das Subjekt läutern und zu retten fähig ist, dann sagen wir, dass die moderne Epoche der Beziehungen von Subjekt und Wahrheit an dem Tag beginnt, an dem wir voraussetzen, dass das Subjekt, so wie es ist, der Wahrheit fähig ist, dass aber die Wahrheit, so wie sie ist, das Subjekt nicht länger retten kann."

Foucault definiert die Neuzeit als diejenige Epoche, in der das "gnothi seauton" zum alleinig prägenden Leitsatz für die Suche des Subjekts nach Wahrheit geworden ist. Nur die Erkenntnis bildet noch einen angemessenen Zugang zur Wahrheit.

Demgegenüber steht eine lange antike Tradition der Selbstsorge, die bei Platon im Dialog "Alkibiades" ihren Anfang nimmt. Der Jüngling Alkibiades kommt zu Sokrates, um sich über die Voraussetzungen für eine politische Karriere zu erkundigen. Sokrates verweist darauf, dass derjenige, der andere Menschen regieren will, sich zuerst einmal um sich selbst zu kümmern hat. "Die Sorge um sich selbst hat Selbsterkenntnis zu sein." Im platonischen Denken werden Selbstsorge und Selbsterkenntnis miteinander verwoben, wobei der Begriff der Seele im Zentrum der Selbstreflexion steht. Die Seele wiederum ist eng an den Vorgang der Wiedererinnerung geknüpft, wobei es sich um eine Art Rückschau auf den göttlichen Ursprung ihrer selbst handelt. Über diesen Prozess der Hinwendung zu sich selbst werden die Voraussetzungen für das Regieren anderer geschaffen:

"Indem sich die Bewegung, durch die wir uns in der großen Sorge um uns selbst kennen lernen, auf die Erkenntnis des Göttlichen hin öffnet, wird sie der Seele den Zugang zur Besonnenheit ermöglichen. [...] Auf diese Weise mit Besonnenheit ausgestattet, kann sich die Seele wieder der Welt hier unten zuwenden. Sie wird das Gute vom Bösen und das Wahre vom Unwahren unterscheiden können. Die Seele wird sich von nun an angemessen verhalten, und indem sie weiß, wie sie sich angemessen verhält, wird sie die Polis zu regieren verstehen."

Bei Platon wird die Selbstsorge funktional und zeitlich eingeschränkt. Zu ihr aufgerufen werden nur junge Leute, die in einer fest vorgeschriebenen Phase ihres Lebens durch die Selbstzuwendung die nötigen Voraussetzungen erwerben, um im Anschluss in die Politik zu wechseln. Indem sie sich um sich selbst kümmern, erfahren sie Besonnenheit und Gerechtigkeit als notwendige Eigenschaften, um andere regieren zu können.

In der römischen Kaiserzeit hat sich die Selbstsorge zu einer Tätigkeit entwickelt, die das gesamte Leben eines Menschen zu bestimmen hat. "Die Selbstpraxis entwickelt sich zunehmend zu einer kritischen Tätigkeit sich selbst gegenüber, der umgebenden Kultur und dem Leben gegenüber, das die anderen führen." Während die Selbstsorge zur Zeit Platons eine Lebensweise war, die nur denjenigen offen stand, die über hinreichend materielle Güter verfügten, um für ein Leben in Muße abgesichert zu sein und zudem eine Selbstreflexion darstellte, die eigentlich nur in einer spezifischen Phase als Vorbereitung auf ein politisches Mandat empfohlen wurde, erweitert sich der Anspruch der Selbstsorge nun auf alle Gruppen der Bevölkerung, wobei die Beschränkung in den hohen Anforderungen an den Einzelnen zu sehen ist, die nicht von allen in gleicher Weise erfüllt werden konnten: "Dieses Jonglieren zwischen universellem Prinzip, das nur von wenigen gehört werden kann, und dem selten zuteil werdenden Heil, von dem jedoch niemand a priori ausgeschlossen ist, wird, wie Sie wissen, im Mittelpunkt der meisten theologischen, geistigen, gesellschaftlichen und politischen Probleme des Christentums stehen." In der Zeit des ersten und zweiten Jahrhunderts nach Christus entwickeln sich "Praktiken des Selbst", die anschließend unter anderen Vorzeichen vom Frühchristentum adaptiert wurden. Insbesondere Seneca wertet diese "Technologien des Selbst" als notweniges Gerüst, das den gesamten Tagesablauf eines Menschen vom morgendlichen Aufstehen bis zum Schlafengehen regelt. "Ziel der Selbstpraxis ist das Selbst", d. h. ein bewusster Umgang mit sich selbst, um zu verhindern, dass das eigene Leben ohne Einheit und Struktur verrinnt. Kern der Anstrengung, wie sie von Seneca oder Marc Aurel permanent unternommen wird, ist eine Konzentration des Willens in seiner Freiheit und Unbedingtheit auf das einzige Element, das dies gewährleisten kann: das eigene Selbst. So erläutert Foucault bzgl. Marc Aurel:

"Der aufrichtige, gute Mensch hat sich einmal im Leben ein Ziel gesetzt, dem er unbeirrt und geradewegs zustrebt, ohne sich vom Verhalten der Menschen, oder von nutzlosen Wissenschaften oder vor allem von einem Wissen von der Welt, das ihm nichts nützt, ablenken zu lassen. Auch darf er nicht rückwärts schauen, um die Grundlagen seines Handelns hinter sich zu finden. Die Grundlagen seines Handelns sind sein Ziel. Was ist sein Ziel? Er selbst!"

Dieselben Autoren erinnern daran, dass der einzige Weg zum Selbst über die Einbeziehung des anderen verläuft, dessen Hilfe gerade in der Beurteilung der Ergebnisse der einzelnen Praktiken vonnöten ist. Das hat zufolge, dass sich entweder philosophische Schulen ausgebildet haben, wie es in der Frühzeit bei den Epikureern der Fall war, oder aber Lehrer-Schüler-Verhältnisse, wie es in der römischen Kaiserzeit gang und gebe wurde. Auf der Basis der Selbstsorge findet eine Konversion des Subjekts statt, das sich im Rückgriff auf sich selbst stabilisiert, indem es sich von den äußeren Ansprüchen, Wünschen und Fremdzielen befreit. Um diesen Prozess anzustoßen und zu lenken, bedarf es einer Anleitung von außen, die vor Rückfällen bewahren hilft. Neben diesen Ratschlägen eines Lehrmeisters, die zugleich eine Kontrollfunktion ausüben, beschreibt Foucault eine Reihe von Übungen, die helfen sollen, den Blick auf das Selbst umzubiegen. Diese "Praktiken des Selbst" sind elaborierte Weisen des Umgangs mit sich selbst, die ein Modell bilden, um das Subjekt der Wahrheit zugänglich zu machen und über diesem Weg natürlich wiederum die Wahrheit dem Subjekt zu eröffnen. Es bildet also ein autonomes Zwischenglied zwischen dem platonischen Wiedererinnerungsschema (modèle de réminiscence) und dem christlichen Offenbarungsschema (modèle d'exégèse).

Insbesondere die Stoiker haben den Versuch unternommen, eine Praxis zu entwickeln, bei der das Subjekt sich in Relation zur Welt setzt und über diesen Vergleich lernt, sich in seiner Nichtigkeit wahrzunehmen. "Ein punktuelles Dasein in Raum und Zeit. Für uns und in unseren Augen das Sein, was wir sind, nämlich ein winziger Punkt, uns als Punkt im Universum wahrzunehmen: Das ist die Befreiung, die der Blick vollzieht, den wir auf die Gesamtheit der Naturdinge richten können." Bei diesem Verfahren gehen Selbsterkenntnis und Naturerkenntnis Hand in Hand, wobei sich das Subjekt über die eigene Vernunft als Punkt wahrnimmt, zugleich aber durch diese Vogelschau auch in die Position versetzt wird, in der ihm die Beurteilung seines Lebens in Gänze möglich wird. Analog dazu verfährt Marc Aurel, der sich den Dingen per "Infinitesimalblick" zuwendet. Hierbei zerlegt die menschliche Vernunft die begegnenden Sachverhalte in ihre Bestandteile, um über die Analyse ihrer Komponenten das Ganze beurteilen zu können. Dieses Vorgehen ermöglicht dem Subjekt die Herstellung der eigenen Freiheit, indem sich der Blick analysierend von oben den Dingen zuwendet, um sich nicht von ihnen vereinnahmen zu lassen. "Auch hier hat die Übung dasselbe Ziel: durch diesen Blick von oben herab auf die Dinge die Freiheit des Subjekts herzustellen; dieser Blick erlaubt uns, durch die Dinge hindurchzugehen, sie in ihrem Innersten zu erreichen und uns eben dadurch ihren geringen Wert aufzuzeigen." Allein schon diese exemplarischen Übungen demonstrieren, dass es in diesem Zusammenhang nicht um eine reine Erkenntnis der Wahrheit geht, sondern darum, die Wahrheit "einzuüben", sich durch tägliches Training der Wahrheit zugänglich zu machen. Diese Herausbildung eines optimalen Selbstverhältnisses fand über den Weg der "Askesis" statt: Wie ein Ringer sollte auch der Stoiker dazu in der Lage sein, den Lebenswidrigkeiten durch Training bestimmter taktischer Umgangsweisen begegnen zu können, ohne sich von ihnen bestimmen oder gar zerbrechen zu lassen. Das Erlernen von Handlungsanweisungen, sogenannten "logoi", sollte für das Subjekt innerhalb gefährlicher Situationen die nötige Sicherheit des Automatismus geben, der ihm im Falle der Krise Beistand und Schutz gewährt. Es handelte sich bei diesen "logoi" um auswendig gelernte Grundsätze, die dadurch im Gedächtnis griffbereit, zur Hand waren.

Foucault untersucht in seiner Vorlesung im weiteren, wie sich diese "Technologien des Selbst" auf Seiten des Schülers und des Lehrmeisters ausnahmen. Die erste Pflicht des Schülers galt dem Erlernen des richtigen Hörens. In einigen philosophischen Schulen gab es ein Schweigegebot für die ersten Semester, das sich über mehrere Jahre erstrecken konnte. "Und um zuzuhören, bedarf es der empereia, des Sachverstands und der Erfahrung, sogar langjähriger Erfahrung." In dieser Zeit mussten die Schüler das konzentrierte und bewegungslose Aufnehmen des vom Meister Gesagten üben. Viele Meisterworte mussten auswendig gelernt, aufgeschrieben und meditiert werden. Gerade die Meditation war ein wichtiger Teil der "Praxis der Selbstsorge", weil man sich mittels ihrer in eine bestimmte Lage versetzen konnte. Während es dem Schüler oblag, zu schweigen, aufmerksam zuzuhören, sich bestimmte "logoi" zu merken und zu meditieren, war der Lehrer in reziproker Weise dazu verpflichtet, "parrhesia" zu üben. Dieser Begriff lässt sich übersetzen mit "Offenheit des Herzens" oder auch "freimütiger Rede" und stellt für Foucault einen Kernbegriff der "Technologien des Selbst" dar. "Sich die Wahrheit zu eigen machen, zum Subjekt des Aussprechens wahrer Reden werden: Das, glaube ich, ist der Kern jener philosophischen Askese." Der Lehrer muss in der Lage sein, sich als Subjekt mit dem, was er als Wahrheit verkündet, zu identifizieren. In der Person des Lehrmeisters muss eine Einheit zwischen der Wahrheit seines Kerygmas, seines Verhalten und seiner gesamten Lebensführung zu erkennen sein. "Die Grundlage der parrhesia ist, wie ich meine, diese adaequatio zwischen dem Subjekt, das spricht und die Wahrheit sagt, und dem Subjekt, das sich nach Maßgabe der von ihm gesprochenen Wahrheit verhält." Foucault bringt das auf die Kurzformel: "Die Wahrheit, die ich sage, siehst du in mir." Die "parrhesia" gilt als zentrale Tugend des philosophischen Lehrers, weil sie eine gerechte Beurteilung des Entwicklungstandes des Schülers erlaubt und zugleich den Schüler mit einer befreienden Redlichkeit konfrontiert. Dieser Zug zum Wahrsprechen trennt die Disziplin der Philosophie von der Rhetorik. Das Gesagte wird ungeschönt, lediglich der Wahrheit entsprechend, zum Ausdruck gebracht. Ebenso strikt wird die "parrhesia" gegen den Zorn und die Schmeichelei abgehoben. In beiden Fällen handelt es sich nämlich um Arten des Umgangs zwischen Menschen, die in gegenseitige Abhängigkeit münden. Die "parrhesia" stellt demgegenüber eine Haltung der Großmut dar, weil sie auf die Autarkie des Angesprochenen abzielt. "Es geht grundsätzlich darum, so auf sie [die Zuhörer] einzuwirken, dass es ihnen gelingt, für sich, zu sich selbst, ein Souveränitätsverhältnis herzustellen, das für das weise, das tugendhafte Subjekt charakteristisch ist, d.h. für jenes Subjekt, das alle Glückseligkeit, die in dieser Welt zu erreichen möglich ist, erreicht hat."

Um dieses Souveränitätsverhältnis zu sich selbst zu erreichen, dem jegliche Glückseligkeit zugesprochen werden kann, bedarf es eines hinreichenden Maßes an Freiheit aufseiten des Subjekts: "Wäre eine techne ein Regelwerk, dem man sich von A bis Z und ununterbrochen zu unterwerfen hätte, wenn es nicht diese Freiheit des Subjekts gäbe, das sich der techne nach Maßgabe der Zielsetzung, des Wunsches und des Willens, ein schönes Werk zu gestalten, bedienen kann, ließe sich das Leben nicht vervollkommnen." Die Freiheit muss in doppelter Hinsicht gegeben sein: Zum einen indem die Selbstsorge die Praktiken so ausrichtet, das sie die Eigenständigkeit des Subjekts stärken. Zum anderen indem parallel zu diesem Prozess die Distanznahme zur Welt mit ihren Reizen, Wünschen und Irrungen immer stärker vorangetrieben wird. Dazu dienen Übungen der Enthaltsamkeit und Ausdauer. "Auf die Arbeit der Neutralisierung der Gedanken, der Wünsche und der Phantasien kommt es an; darin besteht die Prüfung. Die Enthaltsamkeit muss in dieser Arbeit des Denkens an sich selbst, von dieser Arbeit seiner selbst an sich begleitet sein." Diese Prüfungsperspektive überträgt sich auf das ganze Leben, das als eine andauernde Zeit der Bewährung verstanden wird. In der Meditation des Todes findet diese Reihe von Übungen zur Selbstdistanzierung von allen Lebenswidrigkeiten durch Einübung ihren Höhepunkt:

"Besondere Bedeutung erhalten die Todesmeditation und dieses Art der Übung dadurch, dass sie dem einzelnen erlauben, sich selbst wahrzunehmen, und zwar in zweifacher Weise. Erstens gestattet einem diese Übung so etwas wie einen Blick von oben, einen alles umfassenden Blick auf die Gegenwart zu werfen und denkend einen Schnitt in der Lebensdauer, im Handlungsfluss und im Vorstellungsstrom zu vollziehen. Man stellt sie wie in einer Momentaufnahme still, indem man sich vorstellt, der Moment oder der Tag, den man lebt, sei der letzte. Und sobald die Gegenwart in dieser Unterbrechung des Todes erstarrt, erscheinen der Augenblick, der Tag als das, was sie wirklich sind, genauer gesagt, in ihrem wirklichen Wert. [...] Zweite Möglichkeit, zweite Form des Blicks, die der Tod auf einen selbst eröffnet: Das ist nicht mehr der einen Schnitt vollziehende Blick, sondern das ist der das gesamte Leben umfassende Rückblick. Wenn man sich selbst erlebt, als befände man sich bereits im Augenblick des Todes, dann kann man einen Blick auf das ganze Leben werfen, und damit zeigt sich die Wahrheit, genauer: der Wert dieses Lebens."

In der Todesmeditation dient die Vorstellung des nahenden Todes als Indikator des eigenen moralischen Fortschritts, den man über die ein Leben lang betriebene Selbstsorge zu erreichen trachtete. In der Todesmeditation wird dieser kritische Moment im Leben eines jeden Menschen vorweggenommen, um gewappnet zu sein für den Zeitpunkt, an dem er realiter eintritt.

Mit den Untersuchungen über die Funktion der Todesmeditation endet die Vorlesung über das Verhältnis von "Subjekt" und "Wahrheit". Michel Foucault bietet dem Leser eine Menge historisches Material von diversen Autoren aus verschiedenen Epochen. Es gelingt ihm, die toten Fakten und Dokumente lebendig werden zu lassen, indem er sie einer detaillierten Relektüre unterwirft. Insbesondere sein Vorhaben, die Quellen noch einmal gegen den Strich zu bürsten, um eine neue Genealogie der Subjektkonstitution zu proklamieren, ist bewundernswert. Vor allem gewinnt der Leser den Eindruck, dass Foucault hier über Dinge spricht, die ihn persönlich tangieren. Er folgt dabei selbst dem Gebot der "parrhesia": "Damit die parrhesia (die Freimütigkeit) der Rede, die man hält, gewährleistet ist, muss die Anwesenheit des Sprechenden im Gesagten spürbar sein." Zudem lässt sich eine philosophische Tradition als Hintergrund dieser Vorlesung eruieren, die zwar nie direkt angesprochen wird, aber doch in vielen Formulierungen und Ausdrücken mitschwingt, gleich ob es sich um Heideggers "Sorge-Struktur" des menschlichen Daseins handelt oder um Bezüge zu Hegel oder Nietzsche. Das Buch lohnt eine genaue Lektüre, vor allem, weil es inhaltlich und sprachlich höchst anregend ist. Die sprachliche Qualität verdankt sich auch der eleganten Übersetzung von Ulrike Bokelmann. Als Leser widmet man sich diesem Werk mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Mit Wehmut wird man daran erinnert, dass Michel Foucault, dessen Todestag sich dieses Jahr zum zwanzigsten Mal jährt, viel zu früh starb; dankbar ist man aber doch, dass nun peu à peu seine Vorlesungen veröffentlicht werden, so dass man verspätet immerhin an diesen noch teilhat.

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Michel Foucault: Hermeneutik des Subjekts.
Übersetzt aus dem Französischen von Ulrike Bokelmann.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
648 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3518583883

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