Wo das Unerwartete lauert

"stadt land krieg" - Autoren der Gegenwart erzählen auf unterschiedlichem Niveau von der deutschen Vergangenheit

Von Elisabeth KapfererRSS-Newsfeed neuer Artikel von Elisabeth Kapferer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vielversprechend klingt es, was Tanja Dückers und Verena Carl im Vorwort der Anthologie "stadt land krieg" ankündigen: junge Autoren mit einer neuen Art, den Zweiten Weltkrieg und seine Folgen literarisch zu verarbeiten - ohne "Pathos, ohne Verharmlosung, aber auch nicht kalt und distanziert", und mit individuellem Ton. Die "interessantesten Geschichten" der jüngeren deutschen Literatur über "deutsche Vergangenheit" beanspruchen die Herausgeberinnen ausgewählt zu haben. Und so sollen die abgedruckten Texte wohl repräsentativ sein für den Umgang mit der Vergangenheit, die aus der Zeit der Eltern und Großeltern nachwirkt. Fänden sich nicht einige Autoren, denen die Sache ernst zu sein scheint, man müsste sich Sorgen machen.

Da wird an Geschichten konstruiert, was das Zeug hält. Als böte die Vergangenheit nicht Motive genug, an denen entlang Literatur entstehen könnte, muss hier noch ein besonderes Detail und da noch eine unwahrscheinliche Parallele eingeflochten werden. Da zaubert bei Nina Petrick eine Großmutter ihrer Enkelin gegenüber eine "beste Freundin" aus Kindertagen hervor; die Erinnerung an deren Schicksal kann sich allerdings kaum gegen den überraschenden Besuch des Gemeindebeamten behaupten, der dem Großvater zum Geburtstag gratuliert - verspätet, warum auch immer, vielleicht hat es einen tieferen Sinn, man mag nur allmählich nicht mehr darüber nachdenken. Schnaps wird serviert, die Großmutter spricht kurz über "den Russen", schließlich bricht aus dem Großvater ein traumatisierendes Kriegserlebnis hervor. Zu all dem läuft im Wohnzimmer der Großeltern der Fernseher, ein Musiksender bietet Anlass, sich über den allgemeinen Sittenverfall zu äußern. Ob es nun einen solchen Sonntag tatsächlich gegeben hat oder nicht: Indem spärliche sechs Seiten damit überfrachtet werden, entsteht noch keine Literatur.

Immer wieder erweist sich die Sprache als Problem. Die Peinlichkeiten in Marko Martins Beitrag "In Jerusalem", einer Passage aus seinem im August erscheinenden Roman, sollen hier gar nicht näher kommentiert werden, bleibt doch zu hoffen, dass das Manuskript noch überarbeitet wurde. An der Sprache kann man auch auf höherem Niveau scheitern: "Poetisch-geheimnisvoll" nennen die Herausgeberinnen den Ton, mit dem Tanja Langers Erzählerin der rätselhaften und größtenteils auch rätselhaft bleibenden Mutter nachforscht und dabei gleichzeitig ein Familienbild entwirft. Die Figuren des Textes gewinnen kaum Leben, und die Sprache tut es der Mutter gleich und bleibt bis zuletzt "geheimnisvoll", nämlich diffus. Eine raunende Sprache erweist aber der "Spurensuche", die da betrieben werden soll, keinen Dienst; sie lässt noch undeutlicher werden, was ohnehin auf Mutmaßungen fußt.

Die Texte von Tanja Langer, Nina Petrick, Barbara Bongartz und Katrin Dorn, teilweise auch jener von Verena Carl, wollen zu viel und erreichen zu wenig, erzählen vieles gleichzeitig und verlieren dabei zu viel aus den Augen, wirken immer wieder künstlich, wo sie künstlerisch sein wollen. Da werden verschiedene Zeitebenen plump ineinandergezwängt und den Figuren bedeutungsvolle Dialoge in den Mund gelegt, die so nie und nimmer geführt würden, da werden Schicksale von Großvätern, Vätern, Familien angerissen und stehengelassen, da wird mit auffälligen Details gespielt, auf deren Funktion man vergeblich wartet - und das alles auf so kleinem Raum, dass Genauigkeit doch verlangt werden dürfte.

So lauert das Unerwartete an allen Biegungen, die die Autorinnen ihren Texten zu geben bemüht waren. Aber es ist nicht wirklich interessant, dem Beschriebenen nicht wirklich förderlich, was da alles an Aufputz dazugegeben wird, vielmehr erweckt es den Anschein von Beliebigkeit. Warum eine Mutter immer wieder im Wald verschwindet und eines Tages nicht mehr zurückkehrt, bleibt dann ebenso unklar und unwichtig wie die Frage, wie die restliche Familie damit umgeht; der Großvater, der im allgemeinen Gemurmel gerade vergeblich dazu ansetzt, sich etwas von der Seele zu reden, ist zwar präsent, aber man weiß nicht, was mit ihm anfangen; und das Leben eines anderen Großvaters gewinnt so wenig Kontur wie das der Enkelin und interessiert letztlich auch nur so wenig wie die Frage, was es mit den Vorfahren des afroamerikanischen Liebhabers auf sich hat oder mit dem Balalaikaspieler, der die S-Bahn betritt, in der die Enkelin ihren Gedanken nachhängt. Das Unerwartete wird strapaziert, und solches verstellt fast den Blick auf jene wenigen Texte des Bandes, in denen die deutschsprachige Literatur sich von einer interessanteren Seite zeigt.

Denn das alles geht tatsächlich auch anders. In Arne Rautenbergs Text "Der Schatten des Falters im Zimmer" skizziert ein Erzähler in knapper Sprache das Leben des Großvaters. In kleinen Abschnitten, die sich zusammenfügen wie Mosaiksteine, entsteht ein Bild von einem Leben vor, in und nach dem Zweiten Weltkrieg. Was der Erzähler weiß, vermischt sich mit dem, was er nicht wissen kann und dennoch erzählt; doch an keinem Punkt vermutet man sich bei Rautenberg auf dem Terrain vager Mutmaßung.

Norbert Kron bleibt in der Gegenwart und legt seinen Protagonisten auf die Couch der Psychoanalyse. Der Patient schweigt, während sich in ihm alles um die entscheidende Frage dreht: Ist seine Therapeutin Jüdin? "Er würde es sich wünschen. Er kann aus dem Stegreif nicht sagen warum, aber er würde es sich wünschen, wobei er sich zugleich fragt, ob dieser - philosemitische - Wunsch nicht im tiefsten Inneren antisemitischer Natur ist." Dieser seltsame "Kohn in der Couch" ist eine Figur, die zum Lachen bringen und Angst machen kann. Immer tiefer steigert er sich in seine Wünsche, Schuldgefühle, Träume und Ängste hinein, immer absurder werden die Selbstanschuldigungen, immer schneller drehen sich die Gedanken; in letzter, fast schon an Wahnsinn grenzender Konsequenz wird er vom Patienten zum Therapeuten seiner selbst. Und die Sprache hält das Tempo mühelos.

Im Nebeneinander des Unvereinbaren gründet die Stärke von "Möglichkeiten eines Ablaufs - Eine heimatkundliche Erzählung". Jörg Bernig stellt auf wenigen Seiten die Zufälligkeit von Ereignissen und ihre Abhängigkeit von größeren Zusammenhängen gegeneinander. Alles hätte immer auch anders kommen können; das Unerwartete bricht nicht herein, weil es von vornherein kein zu Erwartendes gibt.

In "Superball" spielt eine junge Frau ein Fernseh-Computerspiel, ihr Großvater hatte es einst mit Bomben und Gewehrkugeln zu tun. So versucht Stefan Beuse, Ungleichzeitiges gleichzeitig zu machen. Das funktioniert, und es funktioniert auch nicht: Es funktioniert, solange diese so gegensätzlichen Situationen einfach nebeneinander stehen gelassen werden, ohne weitere Erklärung; der Text lebt von einer zufälligen Parallelsituation. Es funktioniert nicht, wo Beuse versucht, die Leerstelle zwischen den beiden Leben zu füllen, wo Sätze wie: "Es waren bereits alle erschossen. Nur er war noch übrig. Sie weiß davon nichts. Niemand hat es ihr je erzählt." hereinbrechen oder ein Ich-Erzähler mit eigenen Kommentaren auftaucht. Es spielt gar keine Rolle, wer hier erzählt oder was sich dieser Erzähler denkt oder fragt. Und wenn konstatiert wird, dass die junge Frau, die hier Superball spielt, das Schicksal des Großvaters nicht kennt, winkt dahinter schon der erhobene Zeigefinger der Moral. Weiter geht Beuse an dieser Stelle glücklicherweise nicht, und so bleibt doch ein Text, der in seiner knappen Sprache und klugen Komposition größtenteils überzeugt.

In Michael-André Werners "Schwarzwälder Kirsch" feiert eine Familie den 69. Geburtstag der Großmutter. Als die jüngste Enkelin sich einen Hund zu ihrem Geburtstag wünscht, brechen schlagartig Erinnerungen über die Frau herein, Erinnerungen, die offenbar über die Jahre nie kommuniziert wurden, jetzt erst recht nicht erzählt werden können. Von einem Moment auf den anderen findet die Gefeierte sich isoliert mit ihren Bildern von früher im Kopf, allein in ihrem Aufruhr. Was sie zu sagen versucht, stößt auf Unverständnis. Die Kluft zwischen ihr und den anderen kann nicht überwunden werden. Die Banalität, die dem Text zu Beginn anhaftet, kann Werner bald ablegen; was bleibt, ist Beklemmung.

Was nach Lektüre aller zweiundzwanzig Texte der Anthologie bleibt, ist vor allem eine gewisse Ratlosigkeit über die Absicht der Herausgeberinnen. Die Qualität der Texte ist äußerst unterschiedlich, die Auswahl selbst ist kaum nachvollziehbar; sie lässt allerdings auf eine nicht allzu stark ausgeprägte Sensibilität für literarischer Qualität ebenso wie für den Umgang mit Geschichte schließen. Auch das Vorwort gibt eher Rätsel auf, als dass es Fragen beantworten würde. So ist zu lesen: "ost- und westdeutsche Autoren werfen gleichermaßen einen Blick zurück auf ihre Erfahrungen und Lebenswirklichkeiten." Wo wird da der in Leningrad geborene Vladimir Vertlib eingeordnet, der schon in Israel, Österreich und den USA, nicht aber in Deutschland gelebt hat und dessen Blick zurück wohl kaum ost- oder westdeutsch zu nennen ist? Auch so kann das Unerwartete hereinbrechen.

Man könnte "stadt land krieg" abtun als eine Anthologie der Beliebigkeit, gäbe es da nicht einige wenige Texte, die in diesen Band gelangt sind und deretwegen sich die Lektüre lohnt. Auf Arne Rautenbergs Art der "Spurensicherung" kann man sich gespannt einlassen, ebenso auf die "Frontverläufe", die Norbert Kron, Stefan Beuse und Jörg Bernig nachzeichnen. Und Matthias Göritz ist in seinem Beitrag "Der kurze Traum des Jakob Voss" ein ebenso sensibler Seismograph für die "Nachbeben" der Geschichte wie Michael-André Werner. Es gibt die Autoren, die einen interessanten Blick zurück auf deutsche Geschichte zu werfen vermögen. Es gibt sie - vereinzelt - auch in diesem Buch.

Titelbild

Tanja Dückers / Verena Carl (Hg.): Stadt Land Krieg. Autoren der Gegenwart erzählen von der deutschen Vergangenheit.
Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 2004.
244 Seiten, 8,50 EUR.
ISBN-10: 3746620457

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