Kitschfreie Kitschgeschichte

Simone Borowiaks erster großer Roman "Pawlows Kinder"

Von Klaus Cäsar ZehrerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Cäsar Zehrer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was für ein Stoff! Dr. Jordan wird in dem Internat, in dem er einstmals selbst Schüler war, als Junglehrer eingestellt. Er schart eine bunte Truppe außergewöhnlicher, meist problembelasteter Jugendlicher um sich und bringt sie, bekämpft von seinem fischkalten, zynischen Kollegen Baumann, unter aufopferungsvollem Einsatz zum Abitur. Besonders das verstörte, vernachlässigte Heimkind van Hagen genießt Jordans liebevolle Aufmerksamkeit. Am Schluß erfährt man, daß Jordan als Kind von seinem Vater mißbraucht worden ist und sich deshalb so engagiert um schwierige Schüler kümmert. Und so wird alles, alles gut: Jordans Zöglinge bauen ihr Abi mit Bravour, van Hagen zeigt großes Talent als Schauspielerin und brennt, scheint's, mit Jordan durch, und sogar des fiesen Baumanns Herz taut in der Wärme der Liebe zur schönen Musiklehrerin Patrizia.

Um aus dieser Fabel keine Sozpäd-Schmonzette, sondern einen lesbaren Roman zu fabrizieren, braucht es überdurchschnittliches Erzähltalent und ein schmalzresistentes Gemüt. Simone Borowiak hat beides. Als langjährige "Titanic"-Redakteurin kann ihr eine Neigung zur Melodramatik nicht nachgesagt werden, und wie hinreißend sie erzählen kann, hat sie schon 1992 mit der luftigen Sommergeschichte "Frau Rettich, die Czerni und ich" bewiesen.

Für ihren ersten großen Roman "Pawlows Kinder" war Borowiak die gehobene Unterhaltungskunst und der leichtfüßige Stil nicht genug. Mag sein, daß sie eine andere Seite von sich ausprobieren wollte, mag sein, daß sie dem Irrglauben aufgesessen ist, nur das Abarbeiten wuchtiger Themen und Aufzeigen menschlicher Abgründe bringe große Literatur hervor - jedenfalls: Simone Borowiak hat sich bemüht, einen klassischen Aufbau zu konstruieren, Witz und Ernst behutsam auszutarieren, das Internatsmilieu (das sie aus eigener Erfahrung kennt) realistisch-humoristisch darzustellen.

Im Großen und Ganzen ist ihr das alles gelungen; von ein paar Abstrichen abgesehen: Warum heißt das Buch "Pawlows Kinder"? (Ja, ich weiß, Pawlow war der mit dem Hund - aber was hat der mit Dr. Jordan zu tun, der sonst das ganze Buch hindurch Cromwell genannt wird?) Warum wird, wenn der Auftritt der wichtigen Figuren schon so präzise getimet ist, im ersten Satz eine Person eingeführt, die im weiteren Roman so gut wie keine Rolle mehr spielt? Warum bleibt unklar, wie Jordan die Wandlung vom gebrochenen, selbstmordgefährdeten Mißbrauchsopfer zum selbstbewußten, ehrgeizigen, überdies promovierten Kämpfer für die Schwachen und Schutzbedürftigen geschafft hat? Da leuchtet so manches nicht ein.

Die Stärke des Buchs indes ist die alte Stärke Simone Borowiaks: die Gabe zum gewitzten Seitenhieb, zum komischen Aperçu, zur fast beiläufigen Pointe. Nicht von ungefähr läßt sie so viele seltsame Vögel auftreten, denen sie so schöne Sätze in den Mund legen kann wie: "Ihr Deutschen denkt doch immer nur an das eine! Ihr müßt immer wieder bei Adolf und Eva anfangen." Oder: "Aber könnte ich das Periodensystem auswendig rauf- und runterleiern und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz und eine klingende Schelle." Oder: "Wir waren soo arm - wir hatten noch nicht mal eine Stradivari."

Ich habe "Pawlows Kinder" gern gelesen. Aber noch lieber würde ich ein Buch lesen, das Simone Borowiak ohne groß zu planen in zwei inspirierten Wochen heruntergeschrieben hätte.

Titelbild

Simone Borowiak: Pawlows Kinder. Roman.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
260 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3821803304

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