Von Kindern und Wahrnehmungen

Oh Jung-Hees Roman "Vögel"

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Mädchen beobachtet genau. Kein Wunder: Was Selbstverständlichkeit bedeuten könnte, hat es verloren. Seine Mutter ist fort, und geblieben ist nur die Erinnerung an die Schläge, mit denen der Vater die Mutter traktiert hat. Zusammen mit ihrem kleineren, zurückgebliebenen Bruder wird die Erzählerin von den einen Verwandten zu den anderen geschoben, stets lästig, derweil der Vater auf fernen Baustellen Geld verdient. Früh durchschaut sie die Verhaltensweisen der Erwachsenen: eine in der koreanischen Literatur häufige Erzählperspektive, die dazu dient, moralische Normen oder deren allzu rigide Anwendung bloßzustellen, mitsamt der Heuchelei, die sie erzwingen. Diese Erzählerin, am Beginn des Romans vielleicht zehn Jahre alt und am Ende etwa zwölf, sieht jedoch noch mehr: Dinge. Die tiefblauen Augen einer Schlange etwa, die dazu diente, Schnaps zu veredeln und sich im Laufe der Jahre im Alkohol fast aufgelöst hat. Licht und Farben, Gesichter in Fotoalben. Gerüche durchziehen den Roman, und Geräusche, oder aber Stille. Nie verselbständigen sich die Wahrnehmungen, immer bleiben sie an eine realistische Situation rückgebunden; doch durch sie überschreitet der Roman die Grenzen eines anklagenden sozialen Realismus, den die einfach aufgebaute Handlung nahezulegen scheint.

Der Verlauf ist schnell skizziert. Nach wenigen Seiten Exposition lockt für die ungeliebten Kinder eine Wende zum Besseren. Der Vater verfügt nun über Geld und hat eine neue, junge Frau gefunden. Für seine Verhältnisse gebessert, prügelt er sie nur ein einziges Mal und bereut es rasch. Seine Kinder kommen mit in die neue, helle, frisch tapezierte Wohnung. Vermieterin wie Nachbarn wirken freundlich. Doch erwartungsgemäß bleibt es nicht dabei. Wie sämtliche sozialen Beziehungen in der Nachbarschaft, so zerbricht auch die neue Liebe des Vaters. Die Frau entpuppt sich als Ex-Prostituierte, die er mit seinem Verdienst von ihrem Zuhälter freigekauft hat, die jedoch bald die langweilige Existenz mit dem älteren und primitiven Mann nicht erträgt und verschwindet. Der Vater, ohnehin meist weit weg auf irgendwelchen Baustellen, taucht nun kaum mehr auf. Einmal nur schläft er noch in seiner Wohnung und betastet grob Brüste und Po seiner noch kaum pubertierenden Tochter, die daraus lernt: Sexualität tut weh. Sonst sind die Kinder auf sich alleine gestellt, in einer Umgebung, in der eine Kranke zu einem frömmelnden Christentum bekehrt wird, ein als Totschläger entlarvter Nachbar flieht und ein hämisch-brutaler Lastwagenfahrer ein lesbisches Paar zu entlarven sucht, das sich in verständnisloser Umgebung als Mann und Frau getarnt hat.

Kinder können einfach so verlassen werden? Wo der Staat schwach ist, ja. Die koreanische Tradition kennt die Familie als die zentrale Einheit, so fürsorglich wie autoritär. Zerfällt sie, wie in westlicher Modernisierung unvermeidlich, so ist noch heute Leere - vielleicht ein Noch-nicht, gemessen am europäischen Sozialstaat, der freilich gerade zerstört wird; vielleicht also unser Bald-wieder. Der Staat immerhin schickt im Roman eine "Beratungsmutter", die mit klischeehaften Leerformeln jede Annäherung unmöglich macht und sich mit Platitüden im Pflichttagebuch der Erzählerin, die auf institutionalisierte Zuwendung keinen Wert legt, abspeisen lässt. Bald lassen die Kinder anschreiben. Notwendige Reparaturen werden nicht mehr ausgeführt, und dann kommt die sommerliche Regenzeit, mit einer in Mitteleuropa unvorstellbaren Schwüle. Die Tapeten, Symbol des gescheiterten Neubeginns, lösen sich von den Wänden, Maden kriechen heraus, der Bruder, der nach einem nicht ganz geklärten Unfall deliriert, scheint kurz vor dem Tod, als die Erzählerin ins Unbekannte aufbricht.

Dem Stoff entgegen handelt es sich nicht um die deprimierende Schilderung einer sozialen Misere. Dass schlimm ist, was da geschieht, daran lässt Oh keinen Zweifel. Wohl kaum hat das Mädchen, das am Ende in die Fremde wandert, die Chance auf eine bessere Zukunft. Dennoch ist es nicht nur Sarkasmus, wenn am Ende die Erzählerin eine "warme Stimme" hört, die sie ruft, damit sie "das schönste Mädchen im Weltall würde" und ihren Bruder, der immerhin wohl im Sterben liegt, ruft, "damit er der herrlichste Mann im Weltall würde". Wie einerseits diese Sätze gerade an diesem Schluss darauf verweisen, dass es sich um Selbstüberredung handelt, so erzwingt doch die überlegene Beobachtungsgabe, die die kleine Erzählerin zuvor stets bewiesen hat, eine nicht ganz hoffnungslose Interpretation dieses Endes.

Vertrackt ist es allemal, wie weit man der Erzählerin folgen darf. Ein kompliziertes Verhältnis von ihrem Wissen zur Erkenntnis des Lesers prägt den Roman. Der Leser nämlich mag sich überlegen fühlen, denn oftmals erkennt er viel früher als das kleine Mädchen die Situation; angedeutete Wahrnehmungen genügen, um gesellschaftliches Hintergrundwissen zu mobilisieren. Doch schöpft den Roman bei weitem nicht aus, wer sich auf diese Ebene des Durchschauens beschränkt. Der unbestechliche Blick der Erzählerin auf ihren Alltag durchkreuzt die Arroganz, es doch schon gleich gewusst zu haben.

Dieser Blick richtet sich auch, richtet sich gerade auf gar nicht so üble Menschen. Als durchweg böse erscheinen allenfalls Randfiguren; für die unzureichenden Verwandten, für alle Mieter ist immerhin Verständnis möglich. Die Vermieterin ist, was die Zahlungsmoral betrifft, nachgerade zuvorkommend. Umso mehr berührt, dass dennoch der Untergang unausweichlich scheint. Keine Person ist damit mehr verbunden als die "Beratungsmutter", die noch einen kurzen, schemenhaften Auftritt hat, bevor die Erzählerin zuletzt ins Ungewisse wandert. Auch ihr, die versagt, ist kein Versagen vorzuwerfen. Sie bewahrt die Distanz, die Sozialarbeit eben braucht und bleibt damit so weit wie nur möglich von den Bedürfnissen der Kinder entfernt, die diese selbst nicht benennen könnten.

Dieser Ersatz der Ersatzmutter ist zentral, insofern sie den gesunden Menschenverstand jener Leser repräsentiert, der weiß, welches gesellschaftkonformes Verhalten den allein gelassenen Kindern zum Segen gereichte. Was pragmatisch richtig sein mag, berührt die Lebensrealität nicht und ist also wertlos. Bilder von Vögeln, vom Fliegen, von Befreiung, aber auch von Gefangenschaft durchziehen den Roman. Der Bruder mag wohl gestürzt sein; die Schwester wandert, mit dem Gedanken an einen Flug, und wohin? Ob wenigstens die titelgebende Symbolik eine konkrete Perspektive zu geben vermag, entscheidet der Roman, wie so vieles, nicht.

Die Übersetzung vermittelt das Spannungsverhältnis von Präzision und Offenheit, das den 2003 mit dem LiBeraturpreis und 2004 mit dem Übersetzungspreis der koreanischen Daesan-Stiftung ausgezeichneten Roman prägt. Die Sachen sind benannt und bleiben doch letztlich nicht verfügbar. Der Leser erfährt alles, und dennoch entziehen sich ihm die Kinder; dies ist auch ein Verdienst der Übertragung von Edeltrud Kim und Kim Sun-Hi, denen kaum je ein Satz unterläuft, dem man störende Koreanismen noch anmerkt. Ein kurz gehaltenes Nachwort und nützliche Sacherläuterungen ergänzen die Ausgabe.

Titelbild

Jung-Hee Oh: Vögel. Roman.
Übersetzt aus dem Koreanischen von Edeltrud Kim und Sun-Hi Kim.
Pendragon Verlag, Bielefeld 2002.
126 Seiten, 12,80 EUR.
ISBN-10: 3934872263

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch