Verweigerter Krieg

Michael Jürgs erzählt die vergessene Geschichte eines "kleinen Friedens im Großen Krieg" zu Weihnachten 1914 an der Westfront

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der 90. Jahrestag des Kriegsausbrauchs vom August 1914 rückt den Ersten Weltkrieg in den Blickpunkt des Interesses. Wie immer bei solchen Jahrestagen erscheinen auch eine Reihe von Büchern, die das Ereignis behandeln. Und so kommt auch Michael Jürgs Buch genau zur rechten Zeit. Es erzählt eine ungewöhnliche Geschichte aus dem "Großen Krieg", wie der Erste Weltkrieg in England und Frankreich bis heute genannt wird, die in den vielen sonstigen Rückschauen zumeist nicht vorkommt. Späte Erfüllung der Anstrengungen der Militärs beider Seiten, die jenen kleinen Frieden im Großen Krieg, der zu Weihnachten 1914 weite Teile der Westfront ruhen ließ, vergessen machen wollten. Ihnen war die Kriegspause, die ohne Rücksicht auf die Kriegsinteressen der jeweiligen Militärführungen von den Soldaten aus ihren Schützengräben heraus vereinbart worden war, mehr als suspekt. Erahnbar wurde, was ihnen sämtliche Macht gekostet hätte: Soldaten verweigern den Krieg. Doch soweit kam es am Ende nicht. Zwar sind sich die Soldaten, die sich im zerschundenen Niemandsland zwischen den Schützengräben treffen, schnell einig darüber, wie sehr sie alle diesen Krieg verfluchen, doch, so schreibt Jürgs, "[...] sie ziehen keine Konsequenzen aus der Erkenntnis. Es bleibt der nächste Schritt aus, nämlich zu besprechen, was man gemeinsam tun könne, um weiteres Blutvergießen zu verhindern. So weit dringt der Frieden nun doch nicht vor, er schafft es nicht in die Köpfe der Beteiligten, er bleibt im Herzen." Aber vielleicht ist es gerade das, was die Weihnachtsereignisse 1914 so eindringlich macht, weil mit einem Male die von ihren Kriegsherren zu Menschenmaterial erniedrigten Soldaten aus eigener Kraft wieder zu eigenständigen Menschen mit normalen Empfindungen wurden. Zudem zeigen die Ereignisse, dass diesem Krieg noch die Unausweichlichkeit rassistischer oder ideologischer Verblendung und Hass unter den Soldaten fehlt, was freilich die Propaganda auf beiden Seiten schon eifrig zu proben bemüht war.

Dieser Krieg ist am Ende des Jahres 1914 im Westen festgefahren. Entlang einer Linie von der Nordsee bis ins französisch-schweizerische Grenzgebiet zieht sich die Front durch Belgien und Frankreich. In ihren Schützengräben liegen sich die Soldaten teils auf Rufweite gegenüber. Vor allem im Norden, an der Front in Flandern bei Ypern, wo im nächsten Jahr eine weitere Eskalation des Tötens durch den ersten Einsatz von Giftgas erreicht werden sollte, leiden die Soldaten. Die Gräben, in denen die Deutschen zumeist vier Tage überleben müssen, die Engländer und Franzosen nur zwei oder drei Tage, bevor sie ausgetauscht werden, sind eine unmenschliche Zumutung. Seit Wochen stehen sie unter Wasser, Schlamm, Dreck und Kälte setzen den Soldaten zu. Unmengen von Ratten finden hüben wie drüben ungeahnte Nahrungsreserven, indem sie die überall herumliegenden vermodernden Leichen, oder die durch den Artilleriebeschuss immer wieder von neuem aus dem Dreck geschleuderten Leichenteile anknabbern. In dieser Situation, die der Autor an vielen Stellen in seinem Buch ausführlich beschreibt, sehnen sich die Soldaten nach einer kurzen weihnachtlichen Ruhezeit. Zunächst werden Lichter entzündet, Tannenbäume werden aufgestellt und Weihnachtslieder ertönen aus den Schützengräben. Die da friedliche Weihnachtssignale aussenden, sind vor allem bayrische und sächsische Soldaten. Sie liegen entlang einer etwa fünfzig Kilometer langen Linie um Ypern herum, zwischen Diksmuide und Neuve Chapelle, wo schließlich die meisten der Weihnachtsverbrüderungen stattfanden, zumeist englischen Soldaten gegenüber. "Es ist wahr", schreibt Jürgs, "obwohl es nicht passt ins gedruckt verbreitete Bild vom deutschen Soldaten als brutalem Menschenschlächter, dass fast alle Annäherungsversuche, die schließlich an Weihnachten selbst in der Geschichte vom kleinen Frieden im Großen Krieg münden, von den Hunnen ausgehen werden [...]" Während die Engländer recht schnell auf das Friedensangebot reagieren, bleiben Belgier und Franzosen zunächst reserviert. Fraternité mit den ins Land eingefallenen Feinden? Doch schließlich siegen auch bei ihnen die menschlichen Empfindungen: dieser kleine Friede ist ein Friede der ausgepowerten Soldaten - gegen denfalschen Heroismus der Oberen.

Sehr ausführlich und sorgsam recherchiert rekonstruiert Jürgs nun die Kontaktanbahnung aus den Schützengräben heraus und was danach geschieht. Zunächst wird überall vereinbart, die Kriegspause zur Bergung der seit Tagen und Wochen im Schlamm vermodernden Gefallenen beider Seiten zu nutzen. Die Begegnungen der Soldaten intensivieren sich, Geschenke werden ausgetauscht. Schließlich kommt es an den beiden Weihnachtsfeiertagen sogar zur Verabredung von gemeinsamen Fußballspielen zwischen Deutschen und Briten. En passant: diese Fußballspiele sind bis heute im kollektiven Gedächtnis der Briten präsent, so dass beispielsweise politische Karikaturisten das Motiv bis heute benutzen. Die Kontakte sind so intensiv, dass an einigen Frontabschnitten noch bis in die Januar/Februartage 1915 Verabredungen gelten. So warnt man sich beispielsweise gegenseitig, wenn die eigenen Vorgesetzten den echten Krieg verlangen und Feuer befehlen. Gelingen die Warnungen nicht rechtzeitig wird bewusst über die Köpfe geschossen.

"So durfte es nichtweitergehen. Die Hunde des Krieges", so der Autor mit Bezug auf ein britisches Propagandaplakat, auf dem die Hunde des Krieges vom tollwütigen deutschen Dachshund geweckt werden, "nehmen Witterung auf." Auf allen Seiten wird die Kontaktaufnahme mit den Gegnern verboten. In England und Frankreich wurde die Fraternisierung vor Kriegsgerichten als 'Feigheit vor dem Feind' bewertet, in Deutschland galt die "Schützengrabenfreundschaft" als Hochverrat - in beiden Fällen drohte die Todesstrafe. So geriet der Weihnachtsfrieden 1914 gezielt in Vergessenheit. Besonders in Deutschland und Frankreich sorgte die Zensur für die gewünschte Wahrnehmung. Da zudem im weiteren Verlauf des Krieges die meisten der Beteiligten fielen, gab es kaum noch Berichte über das Engagement der Soldaten. In England dagegen blieb das Ereignis intensiver haften. Dort berichteten auch die Zeitungen mit Fotos, die an der Front gemacht worden waren sowie Aussagen beteiligter Soldaten. "Christmas truce" war in England ein Thema. Warum? "Wohl," schreibt Jürgs, "weil sie der britischen Vorstellung entsprechen, das Ganze sei ein großes, zwar inzwischen höchst blutiges, aber letztlich doch faires Spiel unter Gentlemen. Die sich, sieh da, auch mal eine Pause vom Töten gönnten."

Jürgs erzählt die ganze Geschichte, ihre Voraussetzungen und ihr Nachwirken mit journalistisch geprägtem Stil. Der neigt zuweilen zu übertriebenen Effekten. Auch einige Wiederholungen, wie beispielsweise die immer wiederkehrende Schilderung der Zustände in den Schützengräben, dienen der Steigerung des dramatischen Empfindens. Überflüssig eigentlich, denn die Geschichte des kleinen Friedens im Großen Krieg ist auch so gut genug.

Titelbild

Michael Jürgs: Der kleine Frieden im Großen Krieg. Westfront 1914: Als Deutsche, Franzosen und Briten gemeinsam Weihnachten feierten.
C. Bertelsmann Verlag, München 2003.
351 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3570007456

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