Tag und Nacht

Das geraubte Kind - Eine Legende der mongolischen Tuwa-Nomaden, erzählt vom Stammeshäuptling Galsan Tschinag

Von Alexander SupadyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexander Supady

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dem Polen Józef Korzeniowski wird nachgesagt, das genaueste und schönste Englisch seiner Zeit geschrieben zu haben. Der Mongole Irgit Schynkbaj-oglu Sshurukuwaa schreibt ein wunderschönes Deutsch. Seine bildhafte Sprache ergreift den Leser, packt ihn und zieht ihn in die Erzählung. Man liest nicht, sondern erlebt.

Der Seefahrer Józef Korzeniowski erlangte unter dem Pseudonym Joseph Conrad als englischsprachiger Schriftsteller Weltruhm. So weit ist Galsan Tschinag, Stammesoberhaupt der Tuwa-Nomaden, in deren Sprache er Irgit Schynkbaj-oglu Sshurukuwaa heißt, sicher noch nicht. Aber ein bedeutender deutschsprachiger Erzähler - er studierte in den sechziger Jahren in Leipzig Germanistik - ist er allemal. Mit seinem neuesten Roman "Das geraubte Kind" beweist er es erneut.

Tschinag erzählt die Geschichte von Hynndynn - hynn, der Tag, dynn, die Nacht. Seine Erzählung setzt drei Tage nach Hynndynns Geburt im Jahre 1732 ein. Als Waise wächst dieser bei Pflegeeltern in der Dorfgemeinschaft des Ails, des Jurtengehöfts des Stammeshäuptlings auf. Unbeschwert lebt bei unter den Nomaden. Schließlich, er ist mittlerweile acht Jahre alt, erfüllt sich der auf ihm lastende Orakelspruch, er werde im Wechsel acht Sommer auf Erden und sieben Winter im Himmel leben. Der Junge wird entführt. In einem chinesischen Fürstentum - im Himmel? - lebt er die kommenden Jahre in Gefangenschaft, erneut unter der Obhut einer Pflegemutter. Er lernt fremde Sprachen und Schriften, und er trifft seine künftige Frau. Zögerlich offenbart der Erzähler die Absichten der Entführer. In feinste Stoffe gekleidet, eine wunderschöne Prinzessin an seiner Seite und mit stattlichem Gefolge wird Hynndynn sieben Winter später als Fürst in seine Heimat, das Altai-Gebirge, zurückgeschickt. Auf diese Weise, so das Kalkül der Chinesen, ließen sich die Nomaden kampflos ihrer Herrschaftsgewalt unterordnen.

Doch die Tuwa bestehen auf ihrer Eigenständigkeit und sind bereit, im Kampf für ihre Unabhängigkeit ihr Leben zu opfern ...

Der Stamm der Tuwa ist ein Nomadenvolk, eine ethnische Minderheit, die auf den Steppen des Altai-Gebirges im Gebiet der heutigen Mongolei leben. Oft waren sie in ihrer Selbstbestimmung und Unabhängigkeit bedroht. Sie mussten sich ihre Freiheit erkämpfen und diese behaupten. Wie Russland im Norden und China, das 'Reich der Mitte' im Süden, stellte auch die Mongolei als Großmacht eine immerwährende Bedrohung für sie dar.

Galsan Tschinag erzählt eine alte Tuwa-Legende, die ihm, so erfahren wir am Ende des Buches, von Gök-Anai, dem letzten Weisen der Tuwas, überliefert worden ist. Als Erster schreibt er sie auf und bewahrt die mündliche Überlieferung so vor dem unwiederbringlichen Vergessen und einsamen Verhallen in der endlosen Weite der Steppe seiner Heimat. Es ist die Geschichte vom Kampf um Unabhängigkeit, Freiheit und Selbstbestimmung eines kleinen Volkes gegen die Übermacht des chinesischen Kaisers mit seiner unheimlichen Streitmacht. Militärisch ist der kleine Stamm den Kriegern aus dem Reich der Mitte nicht gewachsen, "ein Tümpel gegenüber einem Meer". Bezwingen können sie diese nur mit Intelligenz, mit List und mit Zusammenhalt.

Galsan Tschinag umgarnt seine Leser mit einer Sprache bildhafter Intensität, die seine Liebe zur Natur seiner Heimat offenbart. "Die hellmähnigen, blauroten Berge und die knittrigen, gelbbraunen Steppen, ihre wehenden, lärmenden Wälder und flammenden, duftenden Gräser, die Menschen und Tiere, ihr vielfältiges Stimmengewirr, die rauchenden, dampfenden Jurten erfüllten dabei längst wieder all seine Sinne und drohten sie zu zersprengen."

Nicht schwülstig. Poetisch, niemals kitschig.

Wahre Meisterschaft erringt er in der Darstellung seiner Charaktere und ihrer Gefühle. Nicht oberflächlich und allgemein benennend, sondern tiefgründig erforschend und bildhaft beschreibend, stellt er sie vor. "Sie war erfüllt von einer großen berauschenden Freude, beschattet von einer kleinen, zwickenden Sorge. Die Freude kam, strudelte wohl aus ihr selber heraus, während die Sorge ihr von außen zuflog und sich in ihr Inneres legte, so wie der Staub der Steppe auf ihr Äußeres."

So fängt Tschinag seine Leser, lässt sie mit ihm um die Belange der Tuwa bangen und gegen das Unrecht der militärischen Großmächte antreten. Die spannende, sich zusehends verdichtende Handlung fesselt den Leser genauso wie Tschinags Weisheit, sein Humor und sein Witz.

Titelbild

Galsan Tschinag: Das geraubte Kind. Roman.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
318 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3458171843

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