Die Technik der Ellipse

Ein Gespräch mit dem Dramatiker Oh Tae-Suk

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Oh Tae-Suk, geboren 1940, ist einer der wichtigsten Dramenautoren Südkoreas. Im Gegensatz zu vielen anderen Dramatikern verließ er sich nie auf eine überkommene Dialogtechnik. Sein Theater setzt auf Bildlichkeit, überraschende Schnitte und die körperliche Präsenz der Darsteller. Mangelnder Zuspruch durch das Publikum zu Beginn seiner Laufbahn vermochte Oh nicht zu irritieren. Stattdessen trat er zunehmend als Regisseur eigener wie auch fremder Werke in Erscheinung und gründete 1984 eine eigene Theatergruppe, das Mokhwa-Theater, mit der er vorwiegend eigene Texte inszeniert. Von der Stadt Seoul gefördert, bespielt die Gruppe kleine Bühnen im Seouler Theaterbezirk Hyehwa; im Staggione-Prinzip wird ein Stück über drei oder vier Wochen hinweg jeweils nachmittags und abends gespielt, ein für die Darsteller äußerst kräfteraubendes, doch wirtschaftlich notwendiges Vorgehen.

Das Gespräch zwischen Oh Tae-Suk und Kai Köhler wurde vermittelt und übersetzt von Lee Kyungbun.

Köhler: Ich habe Ihr Werk zuerst als Leser kennen gelernt und erst später Ihre Inszenierungen. Was mich sofort angesprochen hat, war, dass es Leerstellen gab, Stellen, wo mir als Leser nichts erklärt wird, sondern ich etwas ausfüllen muss. Das liegt natürlich auch an der Gattung Drama, scheint mir aber insgesamt für die koreanische Literatur ungewöhnlich zu sein. Wie haben Sie diese Schreibweise entwickelt, haben Sie gleich so eingesetzt?

Oh: Eigentlich bin ich zuerst von der Beschäftigung mit europäischer Literatur zum Schreiben gekommen, und das ist mir schwer gefallen. Da habe ich mich gefragt: Was ist diese ungewohnte Art, diese Schwierigkeit, und so bin ich darauf gekommen, dass etwas fehlte, eben diese Leere und ohne Erklärung einfach weiter zu springen, wie man es beim Pansori und Maskentanz findet, wo der Zuschauer mitdenken muss. Dabei habe ich viel Freude gehabt und die Zuschauer auch, und auf diese natürliche Weise bin ich vom Europäischen zum Koreanischen gekommen.

Köhler: Das scheint mir eine paradoxe Erklärung zu sein.

Oh: Wieso?

Köhler: Das Paradoxe wäre, dass das Ergebnis dieses Bezugs auf die koreanische Literatur etwas ist, das dem europäischen Publikum besonders nahe kommt, und zwar nicht als Exotisches, sondern als das Moderne, an das man sich mittlerweile gewöhnt hat. Welche Erfahrungen, Herr Oh, haben Sie mit den Reaktionen des Publikums gemacht, in Europa, aber auch in Asien?

Oh: In Bremen wurde 2001 meine Version von Shakespeares "Romeo und Julia" gespielt, und das Publikum war begeistert. Die koreanische Sprache war ganz reduziert im Theater, und alles war in den koreanischen Rhythmus umgewandelt, mit einer Abfolge von je drei und vier Silben. Wir haben viel vom Text weggelassen. Weil der Text mit traditionellen koreanischen Rhythmen poetisiert wurde, sagte die Kritik, dass die Rhythmik von Shakespeares Original vergessen war, sie aber durch die Bearbeitung wiederentdeckt wurde. Wichtig war auch der Einsatz von Pausen.

Köhler: Pausen innerhalb dramatischer Abläufe?

Oh: Ja! Das wurde als sehr schön empfunden. Sehr lustig ist, dass das koreanische Publikum mittlerweile sehr europäisch erzogen ist und meinem Theater oft ratlos gegenübersteht.

Köhler: Traditionen wie Maskentanz oder die koreanische Opernform Pansori sind also nicht mehr lebendig - lebendig nicht in dem Sinne, dass man mal in der Schule davon gehört hat, sondern dass man noch Schönheit und Funktion dieser Mittel wahrnehmen kann?

Oh: Nur eine winzige Minderheit interessiert sich für diese Traditionen. Der Grund dafür ist, dass die Spieler früher zur untersten Schicht der Gesellschaft gehörten, Außenseiter waren. Daher hat man ein solches Spiel immer als minderwertig eingeschätzt. Erst seit 50 Jahren gilt Theaterspiel als Kunst.

Köhler: In Bremen haben Sie mit "Romeo und Julia" einen europäischen Stoff aufgegriffen. Das hat es sicher dem europäischen Publikum erleichtert, dem Verlauf zu folgen. Haben Sie auch Erfahrungen gemacht mit Stücken, die ihren Stoff aus der koreanischen Überlieferung nehmen?

Oh: In Europa nicht, aber einige Stücke wurden in den USA aufgeführt. Ich weiß nicht viel über die Reaktionen auf "Mumiengrab" und "Nachgeburt", aber "Chunpos Frau" habe ich in New York miterlebt. Auch da war der Eindruck der New Yorker Kritiker, dass gerade durch den Bezug auf die Tradition das Stück sehr modern wirkt.

Köhler: Auch Ihr einziges Stück, das bislang ins Deutsche übersetzt ist, "Warum das Mädchen Sim-Tscheong zweimal ins Wasser ging", bezieht sich auf einen traditionellen koreanischen Stoff; in der Vorlage ist Sim-Tscheong eine vorbildliche Tochter, die alles für ihren Vater tut, sich schließlich opfert und dafür belohnt wird. Dem durchschnittlichen deutschen Leser fehlt zwar eine Bedeutungsschicht, die wichtigsten Konflikte dürfte er jedoch leicht verstehen. Wie aber verhält sich das Stück zur Tradition? Ich hatte den Eindruck, dass auf der Ebene der Form die Tradition aufgegriffen wird, um dann auf der Ebene des Inhalts die traditionelle konfuzianische Moral zu kritisieren.

Oh: Das stimmt. Das Stück ist sicher gegen diese Moral gerichtet. Und was die Form betrifft, so geht es gerade hier darum, eine Technik der Ellipse, des Überspringens aufzugreifen. Meine Frage war immer: Was kann dem Zuschauer Spaß machen, wenn er selber mitarbeitet? Aber manchmal will ich den Zuschauer auch quälen. Und aus diesen Absichten ist die Form entstanden.

Köhler: Bestandteil der Form ist, wie Sie oben gesagt haben, der Rhythmus. Gerade diese Ebene, scheint mir, ist schwer zu übertragen. Der Inhalt von Sätzen ist ja leidlich von einer Sprache in die andere übersetzbar. Ein Rhythmus und gar noch seine Wirkung sind wesentlich schwerer zu vermitteln. Die Funktion von Metrik im deutschen Drama dürfte ja eine andere sein.

Oh: Mein Rhythmus hat etwas mit dem Atmen zu tun. Hören Sie? ... Gáshiri, gáshiri, gáshiri-ikó. Die Einheiten von drei oder vier Silben entsprechen dem Ein- und Ausatmen. Das synchronisiert Sprache und Körper und verleiht dem Schauspieler die Kraft, die über weite Strecken notwendig ist. Von besonderer Bedeutung ist das für die Tanz-Szenen, bei denen das Sprechen ja sehr schwierig ist. Das Problem löst sich aber, wenn man im Rhythmus des Atmens spricht. Für die Schauspieler ist dann der Rhythmus naturgemäß.

Köhler: Das Ziel wäre dann also eine Einheit von Atem, Sprache und Tanz?

Oh: Ja. Und was der Schauspieler ohne Mühe tun kann, das überträgt sich auf den Zuschauer. Auch für ihn ist dann die Aufführung mühelos und angenehm.

Köhler: Kann ein solcher Sprachrhythmus schon beim Schreiben entstehen? Oder erst bei der Arbeit mit den Schauspielern?

Oh: Wenn ich einen Text schreibe, spreche ich ihn laut. Dabei lege ich den Rhythmus schon fest. Aber wenn das Ergebnis einem Schauspieler schwerfällt, dann ändere ich auch wieder.

Köhler: Wobei sich das Problem stellt, für diese Art des Theaters Schauspieler zu finden. Ist denn die Schauspielausbildung in Korea darauf abgestimmt?

Oh: Das ist in der Tat schwierig. Höchstens 20 Prozent der Schauspieler können einen solchen Rhythmus sprechen; das tut mir immer wieder sehr Leid.

Köhler: Wie sind denn überhaupt die äußerlichen Bedingungen, unter denen Sie arbeiten, zumal wenn das koreanische Theater sich erst seit kurzem als Kunst etabliert hat? In Deutschland gibt es schmerzhafte finanzielle Kürzungen. Trotzdem dürfte es im internationalen Vergleich immer noch viel sein, was der deutsche Staat für das Theater tut. Wie aber überlebt das hier?

Oh: Viel Förderung gibt es nicht. Die Stadt Seoul finanziert pro Jahr zwanzig oder dreißig Theatergruppen, und davon können nur wenige Schauspieler existieren. Zuschauer sind meistens neugierige Studenten, die nicht reich sind, und darum ist die Situation schwierig. Ich möchte die Zuschauer halten, aber das Arbeitsleben ist häufig so anstrengend, dass die jungen Leute nach dem Examen wegbleiben. Die Schauspieler wollen mit 35 Jahren meistens eine Familie gründen, dann verlassen sie meine Theatergruppe und gehen zum Fernsehen oder Film, wo sie mehr verdienen. Manchmal kommen sie zurück; in meiner nächsten Inszenierung spielen zwei bekannte Filmschauspieler mit, die aus meiner Theatergruppe kommen.

Köhler: Ich gehe noch einmal zu den Anfängen Ihres Schreibens zurück, obwohl ich mir denken kann, wie oft Sie die folgende Frage schon haben beantworten müssen. Mit welchen europäischen Autoren haben Sie sich am Anfang Ihres Schreibens auseinandergesetzt?

Oh: Die deutsche Literatur war sehr wichtig für mich, aber das liegt lange zurück. Rilke, Kafka, Hesse, auch Remarques "Im Westen nichts Neues" waren wichtig. Als Dramatiker Büchner. Als Regisseur habe ich mich mit Brechts "Dreigroschenoper" und "Der gute Mensch von Sezuan" beschäftigt, natürlich auf koreanische Verhältnisse übertragen. Umgekehrt ist übrigens für Deutschland für nächstes Jahr eine Aufführung von "Sim-Tscheong" geplant, von der noch nicht sicher ist, ob sie stattfinden kann. Außerdem wünsche ich mir, dass später mein Stück "Fahrrad" gespielt wird.

Köhler: Bei der Lektüre Ihrer Stücke, auch der englischen Übersetzungen, habe ich sehr oft an Heiner Müller gedacht, wegen der Verknappung, weil die Texte durch Bilder aufgefüllt werden müssen, aber auch wegen der Grausamkeiten, die bei Ihnen vorkommen. In "Sim-Tscheong" etwa gibt es einen Mann, dessen Gesicht völlig weggebrannt wird und der sich später auf einem Jahrmarkt verdingt, wo man Bälle auf sein mit einer weißen Maske verhülltes Gesicht werfen kann; bei jedem Treffer spritzt ein Blutimitat auf. Als Sie in den sechziger Jahren zu schreiben begonnen haben, war Müller sicher noch zu unbekannt; haben Sie sich später mit seinen Texten auseinandergesetzt?

Oh: Ich möchte gerne einmal mit Texten von Müller arbeiten. Einmal hatte ich ein Angebot, in Japan Müller zu inszenieren, das hat aber nicht geklappt. Ich habe also die Bücher bei mir stehen, doch habe ich sie bisher nicht intensiv durchgearbeitet. Es bleibt aber der Plan, Müller auf die Bühne zu bringen.

Köhler: Ich möchte noch einmal auf den Aspekt der Grausamkeit und Gewalt eingehen. In den Texten findet sich viel an Verstümmelungen, Folter, Tod. Gleichzeitig habe ich den Eindruck, dass durch die Art der Inszenierung die Wirkung zurückgenommen wird. Wenn in "Sim-Tscheong" sehr langsam der Verband vom verbrannten Kopf entfernt wird, erklingt gleichzeitig eine Opernmusik, die etwas Tröstliches hat. Ich frage mich also, welche Funktion die Grausamkeit und gleichzeitig eine solche Abmilderung hat.

Oh: Durch das ganze 20. Jahrhundert hindurch sind wir ja in Korea mit Gewalt konfrontiert gewesen. Denken Sie an die 36 Jahre der japanischen Kolonialherrschaft, an den Korea-Krieg, an die Spannungen, die es bis heute an der Demarkationslinie zwischen Nord und Süd gibt. Durch eine solche Geschichte haben sich die Koreaner ziemlich immunisiert, und um durch diese Fettschicht das Innere der Zuschauer zu erreichen, braucht man starke Mittel. Und darum versuche ich, ein Erschrecken hervorzurufen.

Köhler: Wird denn das Fett durchstoßen? Oder stößt das Gezeigte ab, gucken die Zuschauer weg? Oder, vielleicht auch eine Gefahr: Tritt eine Gewöhnung ein? Ich bemerke das an mir als Kinozuschauer: Was mich vor zehn Jahren noch schockierte, nehme ich heute gleichmütig hin.

Oh: Obwohl wir nicht mehr in einer Diktatur leben, gibt es ja überall noch gewalttätige Auseinandersetzungen, bei den Kämpfen der Gewerkschaften zum Beispiel, und auch eine gewalttätige Sprache. Bei allem, was schon in der Realität zu sehen ist, denke ich, dass ich noch deutlicher, noch radikaler sein sollte. Vielleicht bin ich das nicht, weil ich schon etwas älter geworden bin. Ich glaube, man versteht schon, was ich zeige. Aber die Koreaner sind aus Beton, zu verhärtet.

Köhler: Etwas, das mir an Ihren Stücken auffällt, oder zumindest in Ihren Inszenierungen, das ist das heftige Klagen. Die Schauspieler drücken Schmerz vielleicht nicht intensiver, aber doch lauter als auf einer deutschen Bühne aus, deutlich nach außen gerichtet. Auch ein Versuch, das Fett zu durchstoßen?

Oh: Das ist ein Element der Tradition, es soll gar keine unmittelbare Mitteilung sein. Im Koreanischen wird ja häufig etwas anderes gesagt, als was gemeint ist. Dass das dann grell wirkt, das ist vielleicht die Folge des einprägsamen Rhythmus, über den wir oben gesprochen haben. Ein anderer Aspekt ist die Geschichte des koreanischen Theaters. Es wurde draußen gespielt, im alltäglichen Leben. Man sprach ein wenig lauter, damit die Vorbeigehenden aufmerksam wurden. Dabei wurde vieles Nebensächliche weggelassen, es ging um die Kernpunkte. Aber diese Tradition betrifft nicht nur das Theater. Auch private Gespräche waren öffentlich, Eheleute verständigten sich laut von einem Zimmer zum anderen, so dass das ganze Dorf mithören konnte.

Köhler: Ist das kein Widerspruch - das indirekte Sprechen der Tradition, die medial und sozial vermittelte Notwendigkeit, etwas laut und deutlich mitzuteilen? Wie kommt das zusammen?

Oh: Das indirekte Sprechen ist keine intime Sprechweise. Man sagt das alles öffentlich, und nur die Angesprochenen verstehen, was gemeint ist. Darum ist das kein Widerspruch. Es geht um eine multiperspektivische Kommunikation, ein Satz gewinnt für verschiedene Adressaten einen unterschiedlichen Inhalt.

Titelbild

Tae-Suk Oh / Joh-Yool Park / Eui-Kyung Kim / Kang-Baek Lee: Warum das Mädchen Sim-Tscheong zweimal ins Wasser ging. Vier moderne koreanische Theaterstücke.
Übersetzt aus dem Koreanischen von Miy-He Kim und Sylvia Bräsel.
Edition Peperkorn, Thunum/Ostfriesland 1996.
200 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-10: 392918110X
ISBN-13: 9783929181104

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Tae-Suk Oh / R. B. Graves / Ah-Jeong Kim: The Metacultural Theater of Oh Tae-Suk: Five Plays from the Korean Avant-Garde.
University of California Press, Honolulu 1999.
176 Seiten, 13,00 EUR.
ISBN-10: 0824821580

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch