Weder Herz noch Revolution

Über Sophie Dannenbergs Romandebüt "Das bleiche Herz der Revolution"

Von Fabian KettnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabian Kettner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Was ist mit Ihnen geschehen?", fragt der Hochschullehrer Hieronymus Arber die Galeristin Kitty Caspari, "mit Ihnen und all den anderen Kindern der Revolution?" Diese Frage sei wichtig, so Arber weiter, denn "sie geht uns alle an. Sie muß endlich gestellt werden." Er stellt diese Frage Kitty, weil sie "Zeitzeuge" sei, "vielleicht sogar Opfer." Denn Kitty ist Kind eines 68er-Paares. Opfer der 68er ist auch Arber. Er ist aber nicht deren Kind, sondern ihr Wegbegleiter.

Indem Dannenberg deren Geschichte erzählt, kommt auch Realgeschichte vor. Zwar stellt sie vorab klar, dass "reale Personen [...] weder abgebildet noch gemeint" seien, aber man erkennt Ereignisse, Schriften und Personen wieder. Arber arbeitete um 1968 als wissenschaftlicher Mitarbeiter in Frankfurt am Main. Sein Professor ist Aaron Wisent, ein Mix aus Max Horkheimer, Ernst Bloch und Theodor W. Adorno. Wisent wird von seinen aktivistischen sozialistischen Studenten angefeindet und bei einem Happening von nackten Studentinnen überfallen, schließlich mit einem Molotowcocktail ermordet. Arbers Wisent-Nachfolge wird von seinem akademischen Kollegen, Heinz Müller-Skripsi, eine Mischung aus Jürgen Habermas und Niklas Luhmann, verhindert. Weil er wegen seiner schwangeren Freundin Birgitta auf eine Professur in Harvard verzichtet, und weil er auf Müller-Skripsis Betreiben auch sonst nirgends eine Stelle finden kann, muss er sich mit einer Anstellung an der Fachhochschule im ländlichen, stinkenden Vechta begnügen. Trotzdem verlässt Birgitta Arber gen USA, wo Arber seine Tochter Chee (die weibliche Form von Che) später besucht. Diese wohnt inzwischen in heruntergekommenen Verhältnissen mit einem schwarzen Möchtegern-Cherokee zusammen und eröffnet Arber, dass er gar nicht ihr leiblicher Vater sei.

Arber trifft Kitty auf einer ihrer Ausstellungen. Er bringt sie dazu, ihre Geschichte zu erzählen. Kittys Vater ist ein typischer linker Anwalt, der Kriegsdienstverweigerer, Mitglieder der RAF und Volkszählungsverweigerer vertritt und früher in einer Kommune lebte. Kittys Mutter sieht sich als Stadtplanerin (als die sie grauenhafte sozialistische Wohnblocks projektierte, für die die alten Städte abgerissen werden sollten) und fühlt sich zu Höherem berufen, wird aber doch nur Mutter, weswegen sie sich minderwertig fühlt. Später zieht die Familie nach Lüchow-Dannenberg, wo sie sich über Jahre hinweg einen ehemaligen Bauernhof herrichtet.

Kommt in Arbers Geschichte mehr Zeitgeschichte vor, so geht es in Kittys mehr um die inneren und zwischenmenschlichen Prozesse. Ihre Geschichte stellt Arber, als Exposé zu einem soziologischen Forschungsprojekt über 1968 und die Folgen, in der Gegenwart auf einem Bielefelder Soziologiekongress vor, wo er auf alte Kollegen und Feinde trifft, die sein Vorhaben genüsslich und empört abschmettern.

Zur Kritik stehen also zum einen Wisents Studenten, zum anderen Kittys Eltern. Die Studenten beschreibt Dannenberg wie nach einem NS-Verbrecheralbum: die innere Niedertracht muss sich im äußeren Erscheinungsbild manifestieren. Da steht "ein Dicker im offenen Karohemd und ein Großer mit filzigen Haaren", da hat es "Nikotinflecken auf seinen Zähnen", die "farblich zu den Eiterpickeln" passen. Ein Oberarm ist "dick und weich". Der Blick ist "stechend" oder kommt aus "gelben Augen". Sie grinsen mit "lippenlose[m] Mund", aus dem sie "böse zischen" und mit "heiserer Fistelstimme" sprechen.

Aber auch sonst liest sich das zweite Kapitel wie ein Jugendbuch aus der Reihe "TKKG": sprachlich anspruchslos und unoriginell, mit annähernd zwei Vergleichen pro Seite per "wie ..." oder "als ...". Mit den Kapiteln jedoch variiert der Stil. Das erste und das letzte Kapitel sind erzählerisch besser. Dies wirkt, als hätte Dannenberg unterschiedlich weit bearbeitete und ausgereifte Textstücke, die in anderen Phasen geschrieben wurden, zu einem Roman zusammengeklebt. Kittys Kapitel sind erzählerisch stark gerafft, auf das Wesentliche reduziert: auf das, was Dannenberg an den 68ern denunzieren will. Damit nähert sie sich, ironisch genug, der behelfsmäßigen Agitprop-Ästhetik der 68er an, wo Kunst nur ein Transportmittel für politische Parolen ist, von dem man sich größere didaktische Wirkung verspricht. Streckenweise ist das Buch keine Erzählung, sondern, indem nur Stationen aneinander gereiht werden, die etwas bebildern sollen, eine notdürftig ummantelte Message.

Ist "Das bleiche Herz" eine Satire? Eine Satire kennt ihren Gegenstand, Dannenberg aber oft nicht. Ihr Buch ist eher eine Groteske. Das wird für die Autorin peinlich. Im zweiten Kapitel lässt sie Professor Wisent sprechen, gespickt mit keywords wie "Grand Hotel Abgrund" (Georg Lukács), "Amorbach", "negative Dialektik" (Adorno), "negative Anthropologie" (Ulrich Sonnemann), "Prinzip Hoffnung" (Bloch), oder Konstruktionen wie einer "kategorial verkrüppelt[en]" Dialektik. Was mag das sein? Adorno forderte auch nie, man müsse "die Frage nach dem Menschen [...] gieriger denn je [stellen]." Ganz im Gegenteil ging es ihm, "der Menschen wegen", nie um den Menschen, weil es ihm um die Menschen und deswegen "um die von ihnen gemachten und gegen sie verhärteten Zustände" (Adorno) ging. "Wir müssen fragen: Wie schweigen?", das ist Heidegger, dessen sprachliche Umkreisung des Seins zu einem Raunen wurde, weil schweigen muss, wer reine Unmittelbarkeit will.

Zunächst könnte man meinen, Dannenberg wolle Adorno lächerlich machen, indem sie ihn Phrasen dreschen lässt. Aber dann hätte sie ihn verfehlt, denn das, was sie ihn als Wisent sagen lässt, ist genau der Jargon, den Adorno zeitlebens kritisierte. Aber weiß Dannenberg, dass es Phrasen sind? Wisent und Arber, so wird später klar, sind neben Kitty Caspari die Sympathieträger in diesem Buch. Die Mörder Wisents sind eindeutig negativ dargestellt. Sie schaffen es, den Mord zu der Legende von einem Unfall bei einer Performance umzudeuten. Wer dennoch von Mord spricht, wird von Wisents Mördern als Verschwörungstheoretiker diffamiert. Möchte Dannenberg hiermit darauf hinweisen, dass Adornos sich gegen ihn wendende Studenten an seiner nervlichen und körperlichen Zerrüttung, die schließlich zum Tode führte, Anteil hatten? Man hört ja von Parties der Gegenwart aus dem Umfeld der "Neuen Frankfurter Schule" munkeln, wo die Anwesenden sich schadenfroh ihren Anteil am frühen Ableben Adornos zugute halten. Soll also das, was sie Wisent und Arber sagen lässt, ernst gemeint und vernünftig sein? Die theoretischen Texte stammen, so lässt sie den Leser in den Anmerkungen wissen, nicht von ihr, sondern von einem Alexander Oronzov, der für Arber auch Gedichte wie Heidegger schreibt. Sie sollte sich bessere Zuträger aussuchen.

Was Dannenberg an den 68ern kritisiert und wie sie diese kritisiert, das bleibt zu oft unklar. Aus den ehemaligen Wisent-Studenten, die die These vom Mord an Wisent als Verschwörungstheorie ablehnen, macht sie selber Verschwörer. Wie die Rechte macht auch Dannenberg in allen Institutionen, vorzugsweise in denen der Bildung, Linke aus. Professoren und Minister agieren als Seilschaften und verhindern Anstellungen, weil sie in derselben sozialistischen Partei sind. Bedient Dannenberg hier das Wahnbild der Neuen Rechten, die mit ihr den Schulterschluss suchen werden, diese sei in Kindheit und Jugend von Linken manipuliert und terrorisiert worden? Oder will sie die Diskrepanz zwischen revolutionärer Rhetorik und tatsächlicher Stellung bloßstellen? "Dieser Roman beschreibt den Zeitgeist, nichts anderes", so stellt sie vorweg klar. Aber glaubt sie wirklich, dass es jemals Zeitgeist war, dass der Direktor von Kittys Schule auf Elterninitiative wegen eines Auftrittes von Gerhard Löwenthal gefeuert und durch eine Lehrerin ersetzt wurde, die ihren Schülern einflößt, die Zukunft sei russisch? Weiß sie wirklich nicht, dass sie um Jahrzehnte am Zeitgeist vorbeischreibt, wenn Arber auf dem Soziologietag im Jahr 2004 von ehemaligen Marxisten ausgelacht wird, weil er fordert, vom Begriff "Klasse" abzulassen? Waren es doch schließlich Ex-Maoisten und -Stalinisten, die schon früh immer wieder den "Abschied vom Proletariat" (André Gorz) forderten.

Aber es gibt auch einige klare Momente, die jedoch stark ambivalent bleiben; auf diese sei nun näher eingegangen. Dannenberg streift weitere Topoi der Anti-68er. Die angeblich praktizierte antiautoritäre Erziehung habe verzogene Kinder hervorgebracht, die sich alles erlauben, dafür aber voller Ansprüche seien, ohne Achtung, Wert und Leistungswille. Dannenberg bemängelt dies nicht; Kitty Caspari zeigt keine von den beklagten Spätfolgen. Sie erfuhr allerdings auch keine antiautoritäre Erziehung, noch laisser-faire, sondern die alte Repression und Willkür in neuem Gewand. Kitty wird nicht "böse" genannt, sondern "bourgeois" oder "spießig", aber es kommt auf dasselbe heraus. Eine gesellschaftsanalytische Kategorie wird zu einer moralischen, eine sozial bedingte Verhaltensweise, auf die zu reflektieren und über die zu erheben die analytische Kategorie verwendet werden sollte, wird zu einer verworfenen Daseinsweise.

Die anti-bourgeoise Lebensweise wird von den Eltern so demonstrativ und brüsk zur Schau getragen, dass die noch andauernde Verhaftung in den bürgerlichen Werten offensichtlich ist. Ein ungepflegter Körper, das Leben in einer dreckigen Kommune gelten als Befreiung von bürgerlichen Sauberkeitszwängen. Es gibt keine Möbel, was als unspießig gilt und keine Gardinen, weil, wenn alles Private politisch ist, es keine Privatsphäre geben soll. Die Vernachlässigung der guten Umgangsformen schlägt um in gewollte, systematisch veranstaltete Unfreundlichkeit, wenn Kittys Vater seiner Frau mit Absicht weder in den Mantel hilft noch die Tür aufhält. Will Dannenberg auf diese nur abstrakte Negation hinweisen oder empört sie sich nur über das, was ihr gegen den Geschmack und den guten Ton geht? Als Autorin beweist sie auf jeden Fall einen ausgeprägt analen Charakter wie ein perfekt zugerichtetes Kleinbürgerkind. Selten nur fehlt in einer Personenbeschreibung (und bei ihr ist dies stets gleich eine Charakterisierung) die Erwähnung einer Verfehlung hinsichtlich des Körpergeruchs. Sollte sie, Jahrgang 1971, tatsächlich eine Vergangenheit als 68er-Kind hinter sich haben, wie sie behauptet, wäre sie ein weiterer Beleg für die perpetuierte Spießigkeit noch in der Negation der bürgerlichen Gesellschaft.

Die sexuelle Aufklärung der Kinder wird als Nötigung vollzogen und geht über in Missbrauch. Die Kinder müssen sich nackt zeigen und sich an den Genitalien anfassen, damit sich die Eltern darüber freuen können, dass sie "eine so ungehemmte Einstellung zur Sexualität" haben und diese "später konfliktfrei ausüben" können. Zeigt sich die Tochter nicht so ungehemmt wie gewünscht, wird sie als "kleine prüde Konterrevolutionärin" beschimpft. Die Kinder müssen den Eltern beim Sex zuschauen; als Kitty Busen auszubilden beginnt, wird sie von Bruder und Vater gejagt und betatscht.

Die Eltern benutzen ihre Kinder, um ihre eigene Befreiung zu demonstrieren. Wie in jeder normalen bürgerlichen sind auch in Kittys Familie Kinder ihrer Eltern Material für den Versuch, das, was man selber verpasst hat, nachzuholen, müssen Kinder für die Enttäuschungen ihrer Erzeuger geradestehen. Will Dannenberg das zeigen: dass die Emanzipation keine ist? Das hat sie. Oder will sie zeigen, dass Emanzipation nichts taugt? Das hat sie nicht. Wie sehr der Autoritarismus bei den Anti-Autoritären fortwirkte, das haben andere, und zwar 68er wie Hans Jürgen Krahl, Reimut Reiche, Frank Böckelmann und Peter Brückner, bereits besser und trennschärfer gezeigt. Die Befreiung reicht nicht weit. Die nach Berlin zu den Anti-Vietnam-Krieg-Demos reisenden Studenten kuschen vor den aufdringlichen DDR-Grenzern und Kittys Mutter schaltet vor jedem sozialistischen Parteifunktionär auf niedlich und unterwürfig. Auf dem Dorf tritt Kittys Vater der Feuerwehr bei und genießt das Kommandiertwerden. Kitty erkennt den Widerspruch selbst zu ihren dümmlich-naiven sozialistischen Kinderliedern: "Niemals hätten die Arbeiter aus dem 'Auto Blubberbumm' oder die Mädchen aus 'Mensch Mädchen!' solchen Befehlen gehorcht!" Wenn die Eltern aber nur "eine richtig heile Urgemeinschaft" darin sehen, die "eben gut organisiert" sei, dann ist damit die Vorstellung deutscher Linker vom Kommunismus getroffen: der autoritäre totale Staat, in dem Gleichheit als "repressive Egalität" (Adorno / Horkheimer) verwirklicht wird. Ob Dannenberg allerdings zwischen den autoritären Phantasien deutscher Linker und der Verwirklichung einer vernünftigen Gesellschaft unterscheiden kann, darf bezweifelt werden.

Die Kinder fungieren nicht nur als Projektionsfläche für die Wünsche und Hoffnungen ihrer Eltern, sondern auch für deren Frustrationen. Während Kittys Vater seiner Familie gegenüber weitgehend gleichgültig ist und sich mehr in der Kanzlei aufhält, bekommt Kitty den Hass und die Wut ihrer Mutter ab. "Ich lasse mich nicht länger von dir ausbeuten", schreit sie Kitty an; und genauso wurde Ausbeutung immer verstanden: subjektiv, emotional, auf alle Bereiche ausgeweitet - und damit beliebig. Kitty wird als Hindernis wahrgenommen, sie behindere die Emanzipation ihrer Mutter, sie sei asozial, füge sich nicht ein, sei maßlos, egoistisch, egozentrisch und verantwortungslos. "Du machst jetzt, was ich will. Du mußt endlich selbständig werden", lässt Dannenberg die Mutter sagen, einen wunderbar paradoxen Satz, der so dumm ist, dass er echt sein kann. Um Kitty zu ändern, wird sie in eine Psychotherapie geschickt. Als die Revolte im großen Maßstab ausblieb, wandte man sich dem Ich und dessen Pflege, der Ich-Findung sowie der Zwischenmenschlichkeit zu. Das Streben nach Durchstreichen und Auflösen des Individuums im sozialistisch genannten Kollektiv schlug in Ich-Kult um. 'Im Kleinen', Unmittelbaren sollte die gesellschaftliche Umwälzung ihren Anfang nehmen. Als festen Grund wollte man erstmal die eigene "Identität" haben. Dieses Eigene aber war sein eigenes Gegenteil, das subjektive Leiden wie sein positiver Gegenentwurf anonym und unpersönlich. Kittys Therapeutin, Ute Worms, auf die Adornos Satz zutrifft, dass es "bei vielen Menschen [...] bereits eine Unverschämtheit [ist], wenn sie Ich sagen", streicht immer wieder ihre seriell gefertigte Eigenartigkeit heraus: "so individuell", "so vital, so lebendig, so echt [...] so visuell, so originell, so ungemein sinnlich" findet sie sich. Wo es auf den Menschen nicht mehr ankommt, wird sein Begriff beschworen und poliert. "Der Mensch ist die Ideologie der Entmenschlichung" (Adorno). Sie wähnt sich dem gesellschaftlichen Zugriff entzogen und selbstbestimmt. Ihr Ich ist ihr aber lediglich ein "Ausstellungsstück" (Adorno). Weil sie mit sonst nichts wuchern, "durch nichts anderes dem Markt sich angleichen und durchkommen [kann] als durch ihr erstarrtes Anderssein", so stürzt sich sich "passioniert ins Privileg ihres Selbst" (Adorno), ihr Wert, den sie auf den Markt schmeißt und mit dem sie sich an anderen misst.

Der repressive Charakter der "revidierten Psychoanalyse" (Adorno), der in den marktgängigen Psychotechniken zur Ich-Modellierung seit den 1970er Jahren forciert wurde, kommt hervor. Der Analytiker ist Psychagoge. "Ich bin dir nämlich überlegen", lässt Worms Kitty wissen. Dass sie der Sozialtechnologie dient, dass sie Herrschaftscharakter hat, verrät sich durch die verdinglichende Sprache, mit der Worms ihre Therapie beschreibt: "ihr habt richtige Lochkarten voller Neurosen, und dann komme ich mit der Knipsschere und knipse neue Muster hinein". "Das Tolle ist ja", so findet sie, "daß ich dich manipulieren kann." Die Therapie dient nicht der Mündigwerdung, sondern der Brechung, damit danach das Ich neu modelliert werden kann. "Dein falsches Ich", gibt sie Kitty vor, "muß gebrochen werden, damit dein wahres Selbst erwachen kann". Kitty soll "authentisch" gemacht werden. Dafür aber muss sie "endlich die Ohnmacht spüren, die dich zum ganzheitlichen Menschen macht." Der 'ganzheitliche Mensch' ist im Einklang: er akzeptiert und nimmt hin. Dass er sich vor dem verneigt, was ist und dass er gelernt hat, dass es keine gesellschaftlichen Probleme gibt, sondern nur die in ihm selbst oder die von Kommunikation, dass er sich von Gesellschaftskritik entfernt, das unterschlägt Dannenberg freilich, ebenso wie den Zusammenhang mit der letzten Kehre des esoterisch getriebenen Selbst-Suchers: die Hinwendung zum Volk, von der Ich-Identität zur nationalen. Worms ist ganzheitlich, denn sie hat ihren "Schatten integriert". Zur Identitätsfindung gehört, die eigenen destruktiven, rücksichtslosen Potenziale freizulegen und zu aktivieren sowie die eigenen "Wurzeln" zu entdecken.

Schatten fallen von der Vergangenheit her, in sie reichen die Wurzeln zurück. Laut den Anti-68ern habe die übermäßige Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus schädliche Folgen für das deutsche Selbstbewusstsein. Auch laut Dannenberg soll der Fokus auf die Leiden der Opfer im Geschichtsunterricht dazu dienen, die Kinder zu quälen. Kitty solle eine "KZ-Wächterin sein - innerlich. Und im selben Moment dafür gedemütigt werden. [...] Wir wollen keine Unschuld zulassen, in diesem Land der Schuld." An dieser Stelle, wo es nach Geißelung des so genannten 'Nationalmasochismus' aussieht, gelingt Dannenberg eine ihrer besten Einsichten. Jeder soll sich schuldig fühlen, damit die Nachkommen in das Gemeinschafts- und Gründungsverbrechen Judenvernichtung integriert werden können. Die Kinder sollen sich schuldig fühlen, so Kittys linke Lehrerin, "weil unschuldige Menschen keine KZs bauen", deswegen wollen sie schuldige, denn diese könnten es. "Weil sie nicht rauben, nicht quälen, nicht morden. Wir wollen der Welt aber zeigen, daß wir dazu in der Lage sind." Wer sich zu einem Verbrechen bekennt, zeigt auch, dass er dazu immer wieder fähig ist. Indem man bekennt, zeigt man Zähne. "Und zugleich, daß wir reuige Sünder sind. [...] Die einen denken, es sei die Last der Schuld. Die anderen wissen, es ist der Triumph des Bösen." Durch die "Kulturrevolution" der 68er wirkt eine List der Geschichte: die Beschäftigung mit der Geschichte schwächte nicht das Nationalgefühl, bricht nicht der Nation das Rückgrat - ganz im Gegenteil. Die Tätergemeinschaft kann fortgezeugt werden.

Hiervon ist auch das Verhältnis der 68er zu ihren Eltern bestimmt. Kittys Großvater Emil Caspari hat erkannt, dass sie nicht von den Verbrechen ihrer Eltern erschreckt wurden. Nicht den Krieg haben sie ihnen verübelt, sondern "daß wir den Krieg verloren haben [...], daß wir nicht die mächtigen Rächer waren, die wir gewesen sein sollen, sondern Krüppel und Deutsche, denen man das Rückgrat gebrochen hat." Und dann stimmt es schon wieder nicht mehr: "daß wir voller Trauer sind und voller Heimweh, daß wir uns erinnern, das mögen sie nicht", denn sich erinnert und die Verstrickung der eigenen Familie entdeckt haben die Alternativen in ihren Geschichtswerkstätten gerne.

Der Anti-Amerikanismus und sich erst in den 1970ern voll entfaltende Antisemitismus kommen bei Dannenberg nur am Rande vor. Wisent wird als "Pentagon-Jude" beschimpft, und Kittys neue Schulrektorin lästert über das "faschistische Amerikanisch" ihrer Schüler. Der Anti-Amerikanismus ist eine Konstante in den Wandlungen der Linken. In der Gegenwart jubeln die arrivierten Ex-Studenten denen zu, die die USA und das, wofür sie stehen (wenngleich nicht einhalten), bekämpfen. Auf dem Bielefelder Soziologiekongress werden Osama Bin Laden und die Islamfaschisten als die "neuen Ches" präsentiert. Diese hätten "subjektiv zwar ein falsches Bewußtsein", nämlich religiöse Befangenheit, "objektiv aber sei ihr Kampf eine Fortsetzung des antiimperialistischen Kampfes gegen den westlichen Globalismus, Konsumismus, Virtualismus und Liberalismus, ein Kampf für die Befreiung unterdrückter Völker [...]. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis fortschrittliche Intellektuelle sich für diese strategische Option entscheiden würden." Und danach sieht es ja tatsächlich aus.

Die 68er sind bei Dannenberg entweder hysterische Frauen (von denen man i. ü. wie in den Romanen Utta Danellas meist nur den Vornamen erfährt, da ist selbst Rosamunde Pilcher weiter) oder neurotische Männer, die ihre Komplexe, Unsicherheiten, Egoismen und Idiosynkrasien in politische Phrasen kleiden, die ihre Unfähigkeit und ihr Scheitern mit linken Kalendersprüchen rationalisieren. Dies scheint sie lächerlich zu finden. Weil sie die falsche Theorie und Politik der 68er nicht kritisiert, kann sie das Falsche nicht auf ein mögliches Richtiges hin durchsichtig machen. Das scheint sie auch nicht zu wollen. Ein legitimes politisches Anliegen - in Gegensatz zu einem nur vorgeschobenen - bleibt so nicht übrig, sondern nur, dass der Anspruch auf gesellschaftliche Veränderung offenkundig Unfug ist, eine Ersatzleistung. Wenn die gesellschaftlichen Probleme letzten Endes nur verpuppte persönliche - und nichts sonst - sind, so die dann nahe liegende Perspektive, dann müsste man sich nur auf den eigentlichen Ausgangspunkt zurückbesinnen. In diesem Sinne bezeichnet der Klappentext den Roman als "großes deutsches Drama". 1968 war dies in der Tat. Indem ein Ausbruchsversuch auf eine Familienauseinandersetzung reduziert wird, kann man sich bequem zurücklehnen, die Berechtigung von Gesellschaftskritik ausblenden und auf die Familienwiedervereinigung warten. Die fand auch statt. Dass 1968 nur ein deutsches Drama war, nämlich eine Phase einer Metamorphose von sich verpuppenden und sich als Kommunisten missverstehenden Deutschen, bevor sie zu ihrem Seinsgrund zurückstrebten, und nicht mehr, das ist das Elend von 1968, das ist das, was Unbehagen einflößen sollte.

Wie bei den 68ern geht auch bei Dannenberg alles durcheinander, stehen wenige gute Einsichten neben Wirrem und Reaktionärem. Kitty wollte nicht ihre Geschichte erzählen, denn "die 68er haben genug gequatscht." "Aber nicht ihre Kinder", erwidert Arber. Mit "Das bleiche Herz der Revolution" kommen die Kinder ihren Eltern "genug gequatscht", d. h. wenig, und wenn, dann falsch, kritisiert und noch weniger begriffen zu haben, sehr schnell ein gutes Stück näher: sie sind Fleisch vom Fleische, würdige Nachfolger.

[Dank an Peter Kape von der Buchhandlung Kape in Velbert-Langenberg.]


Titelbild

Sophie Dannenberg: Das bleiche Herz der Revolution. Roman.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2004.
303 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 342105830X

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