Walter Benjamin meets pyrenäischen Höllenhund

Anne Webers Roman "Besuch bei Zerberus"

Von Patricia NickelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Patricia Nickel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwar neigen sich der Sommer und damit die allseits beliebte Reisezeit dem Ende zu, dennoch kann es nie schaden spannende Reiseliteratur zu empfehlen, die zu jeder Jahreszeit das Reise- bzw. Lesefieber zu entfachen vermag.

Anne Weber schickt ihre Leser in "Besuch bei Zerberus" in mehrfacher Hinsicht auf eine abenteuerliche Reise. Zum einen besucht die Erzählerin den realistischen Ort Cerbère. Gelegen in der Einöde der Grenzregion zwischen Frankreich und Spanien trifft sie nicht nur auf einen merkwürdigen Menschenschlag, sondern auch auf das Grab von Walter Benjamin. Zum anderen gilt Cerbère als kleine Vorhölle, als Grenze zwischen Leben und Tod, die bewacht wird vom Zwitterwesen Zerberus. "Gefolgt von einem Hund, der bis vor kurzem noch ein rein mythologischer war", beginnt die Ich-Figur von nun an durch das Geröll ihrer eigenen Erinnerungen und Gedankenverzweigungen zu stolpern.

In selbstreflexiver Manier setzt sich die Ich-Erzählerin mit dem eigenen Schreiben, dem Sein und dem Denken auseinander. Existenzielle Fragen in teilweise aphoristischer Manier begleiten ihre Gedankensprünge und verbinden sich oft mit surrealen Anekdoten in einer zeitgemäßen dekonstruktivistischen Erzählweise.

Als eine Person, die nur aus der "Hinter-Glas-Perspektive" erzählen kann, muss sie bald feststellen, dass sich die Worte verselbstständigen und somit eine stringente Beschreibung ihrer Erlebnisse in Cebère durch die unüberwindbare Komplexität der Welt hinfällig wird. Ausgesprochenes Ziel: sich von allem, was man je wusste, frei zu machen. Themen wie das Erwachsenwerden, Abnabelung von der Familie, Wahnsinn oder das eigene Körpererleben werden mit lyrischen Naturbeschreibungen und metaphorischen Definitionsversuchen über den Tod - ausgelöst durch das Sterben des eigenen Vaters - verknüpft. Doch immer wieder kommt die Erzählfigur auf ihre Ratlosigkeit im Umgang mit der Sprache zurück: "So stehe ich dann auf einsamer Flur, um mich herum Tausende von Wörtern [...] weiß kaum noch wozu sie dienen, wie sie sich sinnvollerweise aneinanderketten lassen, ich bin allein mit einer Horde Fremder."

Eine wichtige Rolle während des Aufenthaltes der Protagonistin in den Pyrenären spielt Walter Benjamin. Sowohl in ihren Gedanken wie auch auf der tatsächlichen physischen Reise erkennt sie in ihm einen Geistesverwandten. Noch deutlicher wird dies in surrealen, teils stark symbolisierten Passagen, in denen sie von Benjamin als intellektuellem Übervater träumt: "So schafft man sich ein übermenschliches Gegenüber, das einem stets etwas zu sagen oder zu erklären hat." Schließlich verschmelzen ihr sterbender Vater und Benjamin zu ein und derselben Person, die unnahbar auf einem unerreichbaren Olymp sitzt und eine für sie unverständliche Sprache spricht: "Schon am Frühstückstisch entspann sich zwischen ihr und dem Vater ein angeregtes Gespräch, an dem auch mehrmals das Kind beteiligt werden sollte, aber das Kind saß stumm und rührte jedes Wort, das ihm in den Sinn kam, lange in der Teetasse herum." Der Vater bleibt körperlos, ein Wesen ohne Ohren und dennoch zum Zu-Hören. Doch gerade diese Unzulänglichkeit treibt die Protagonistin nach eigenen Aussagen zur Schriftstellerei, da die Sprache sie nicht nur ständig herausfordert, sondern auch ihre Komplizin ist, die ihr den notwendigen emotionalen Abstand zum Vater verschafft. Hier wird ihr die Möglichkeit geschaffen, über das, was ihr im Moment seines Sterbens geschieht, zu reflektieren.

Webers bildhafte Denkstrukturen und ihr großes Imaginationsvermögen offenbaren sich in unzähligen aphoristischen Miniaturgeschichten und der bewussten Verschmelzung von Figur und 'realen' Personen. Weber findet somit einen Kompromiss zwischen Wirklichkeitsausschnitt, Reflexion und Narration. Teilweise verkrampfte Wortspiele wie etwa "Wahrscheinlich werde ich nie einen Fuß auf Neuseeland setzten. (Werde ich überhaupt je einen Fuß auf Neuland setzten?)" und zu eindeutig wirkende Platzfüller ("Also ist auch an den beiden letzten Sätzen etwas faul") sind unnötig und weisen eher auf eine völlig unberechtigte Unsicherheit hin.

Das letzte Drittel des Buches schließt an den Anfang an. Der Leser spürt Webers Kampf mit der Sprache, der Spaß macht und den sie eindeutig gewinnt: "Wie der Romancier seine Figuren in den Griff zu bekommen versucht, so bemühe ich mich unter größter Willensanstrengung, die Worte und Silben und Buchstaben in Schach zu halten und nicht der Bequemlichkeit nachzugeben, die mich dazu verführen will, mich ihrem Drängen und Ziehen zu überlassen und mich vom ersten bis zum letzten Satz von ihnen ins Schlepptau nehmen zu lassen." Schön ist, dass Weber nicht den Weg des Romanciers für ihre Darstellung gewählt hat, solange sich der Leser auf eben das ANDERE der Beschreibbarkeit einlässt. Weber ist mit ihrer Prosa ein großartiger Kunstgriff gelungen, da es ihr gelingt, den Leser in eine mystisch angehauchte Gedankenwelt zu entführen, in der der Tod zum Leben dazugehört. Hierbei tun sich verschiedene Metaebenen auf, die ein Gefühl der Tiefe hinterlassen und dem Leser somit genügend Freiraum zur eigenen Reflexion bieten.

Titelbild

Anne Weber: Besuch bei Zerberus.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
112 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 3518416065

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