Die fabelhafte Welt der Phobien

Mariana Leky leistet mit ihrem zweiten Buch "Erste Hilfe"

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Welch fabelhafte Welt! Hier heißt man nicht einfach Hans und Franz, sondern Sylvester und Jeromin, man wohnt in einer rein weißen Wohnung oder arbeitet, um die Magisterarbeit zu finanzieren, in der voll gestopften Zoohandlung mit einem extrem geräuschempfindlichen Chef. Eine Frau bekommt von ihrem Verflossenen, der sie wieder erobern will, statt einem Schoßtier gleich "den größten Hund der Welt" geschenkt. Die Ich-Erzählerin treibt tapfer durch diesen kleinen Kosmos von Kuriositäten und versucht, wiewohl sie mit sich selbst genug zu tun hat, ihrer Freundin Matilda wie Sylvester, ihrem WG-Genossen, Ex-Lover, vertrauten Freund und vielleicht doch noch mehr, in allen Lebenslagen beizustehen.

Vieles erinnert den Leser von Mariana Lekys Roman "Erste Hilfe" an Jeunets Film "Die fabelhafte Welt der Amélie": eine junge, schlanke, staunende Heldin, die heimliche Hilfsbedürftigkeit und beherzte Hilfsbereitschaft vereint, die realistisch erscheinende Szenerie, in der sehr merkwürdige Dinge geschehen können, das leicht altmodische Kolorit, dann auch die Riege origineller Figuren, die Leichtigkeit des Erzählens und eine gehörige Portion Wille zum Stil; glücklicherweise fehlt dem Buch die Überdrehtheit, Geschwätzigkeit und Selbstverliebtheit des Films!

Treuherzig und beinahe naiv lässt Leky ihre Ich-Erzählerin das Geschehen berichten. Das könnte ein modischer WG-Satire-Roman über Menschen um die 30 sein. Der witzige Umzugskarton-Umschlag erinnert sogar an ein Jugendbuch, und die Konzentration auf psychische Probleme wie der scheinbar simple Ton verstärken den Eindruck. Doch die anspruchslosen Wörter lullen den Leser ein, der sich erstaunt die Augen reibt, wenn er plötzlich in ein gar nicht mehr angenehmes Abenteuer geraten ist.

Matilda, die gerne die WG von Sylvester und der Ich-Erzählerin besucht, will plötzlich für länger bleiben, weil sie eine manifeste Phobie quält: "Man ist bereits verrückt, wenn man sich nicht über eine Straße traut, aus Angst, verrückt zu werden, dachte Matilda, man ist bereits verrückt, auch wenn das Verrücktsein noch nicht in einen hineingerannt und wieder aus einem ausgebrochen ist. Es ist bereits bei einem untergebracht und so gut wie ausgebrochen, wenn man Angst vor dem Ausbrechen hat, wenn man wegen der vorausgeschickten Hintergrundsinformationen und Verhaltensregeln des Verrücktseins das, was man können muss und immer konnte und was alle anderen immer noch können, plötzlich unter keinen Umständen mehr kann." Ihre beiden Freunde nehmen Matilda, ihren rasch wachsenden Hund mit Namen Januar und - so hilflos wie mutig - den Kampf gegen die Krankheit auf.

Lakonisch, ohne eine irritierende Grundheiterkeit aufzugeben und damit um so wirkungsvoller inszeniert Leky den Einbruch des Verrückten. Einfache Sätze und Verhaltensweisen der Figuren wirken auf einmal bedeutungsschwer und unklar, das ganze Leben wie unterkellert, die konventionellen Hilfsaktionen für Matilda sympathisch, aber auch ungenügend. Leky lässt die Ich-Erzählerin über seitenlange Reflexionskaskaden stürzen, die in ihrer ziellos bohrenden Intensität und ihrem Hang zur Wiederholung durchaus an Thomas Bernhard erinnern. Als wäre das noch nicht genug, erfindet sie Szenen, in denen Rührendes, Komisches und Bedrohliches auf einmal geschieht. Wie schwierig, absurd und beängstigend ist es beispielsweise, während einer Fahrt zum psychiatrischen Notdienst mit Matilda, die als einzige noch fahrtüchtig ist, ein Thema zu finden, das sie wach hält, dabei aber nichts Verfängliches streift.

Was der Leser längst ahnt, dass auch Sylvester und die Ich-Erzählerin ihre psychischen Defekte durchs Leben schleppen, wird immer deutlicher, ohne dass je auf die Tränendrüse gedrückt würde. Im Gegenteil, Slapstick-Einlagen, provozierte Peinlichkeiten und Rückblenden sorgen für Tempo und Auflockerung. Während der ausführlich begleiteten Therapie Matildas flacht allerdings im letzten Viertel die Spannung etwas ab, und dann ist der Roman mit einer Pointe plötzlich zu Ende.

Der Leser schaut auf, das Gesicht voller Fragezeichen: Was war das jetzt? Ein Freundschaftsroman? Sogar ein Frauenfreundschaftsroman? Therapeutische Prosa samt autosatirischer Spitzen? Ein Liebesroman? Ein unterhaltsames Buch über die verwirrten Singles von heute? Ein sprachliches Experiment, das die Untiefen des Verrücktwerdens auslotet? Ein Werk mit Ausbaupotential? Ja! Ja! Ja! Ja! Ja! Ja! Ja!

Titelbild

Mariana Leky: Erste Hilfe. Roman.
DuMont Buchverlag, Köln 2004.
190 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3832178783
ISBN-13: 9783832178789

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