"Könnten Sie mich bitte nicht berühren?"

Terézia Mora erzählt in ihrem ersten Roman "Alle Tage" vom Zustand existenzieller Fremdheit

Von Maja RettigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maja Rettig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schöner fremder Mann, der Held. Rätselhaft und anziehend, und fremd nicht nur in dem Sinne, dass er von anderswo kommt: fremd viel grundsätzlicher, fremd im Leben, fremd wohl auch sich selbst. Terézia Mora, die in Ungarn geborene Bachmann-Preisträgerin von 1999, hat mit Abel Nema in "Alle Tage", ihrem ersten Roman, eine eindrucksvolle Figur geschaffen: einen vollkommen passiven Helden, der sich konsequent entzieht, dem alles immer nur widerfährt.

Er flieht vor der Einberufung, als in seinem Land der Krieg ausbricht, aber das ist nicht die erste Vertreibung. Vorher noch wird er aus der Liebe ausgewiesen. Er gesteht sie seinem Freund Ilia, nach der Abiturfeier, als alles richtig losgehen soll, und dieser weist ihn zurück. Vielleicht ist es dieses Erlebnis, das alles Kommende zum unerheblichen Rest herabstuft.

Es geschieht dann jedenfalls ein Unfall mit einem Gasherd, in dessen Folge eine Gabe über ihn kommt, die ihn zum Sprachgenie macht, zum akzentfreien Zehn-Sprachen-Beherrscher und neurolinguistischen Fall, und zwar in jenem neuen Land, das an keiner Stelle Deutschland genannt wird. Von Anfang an hat er dort Glück, ganz entgegen der Erwartbarkeit und im Gegensatz zu den anderen hier vorgeführten Emigranten-Schicksalen: Die zeugen sämtlich von Sprach- als Chancenlosigkeit, enden in Ausweisung, Selbstmord oder Gewalt. "Meiner Muttersprache beraubt, spiele ich nur noch als Ackergaul und Sexualobjekt eine Rolle", sagt einmal eine Landsmännin Abels.

Abel Nema spricht zehn Sprachen, aber er spricht sie vornehmlich im Sprachlabor; "Nema" bedeutet "der Stumme". Sprache, das Kommunikationsmittel unter den Menschen, bedeutet nicht Kontakt für ihn. Sein Talent bleibt im Grunde nutzlos - "die Welt als Vokabel". Sinnbild dafür ist sein toter Geschmackssinn, Nebenwirkung des Gasunfalls. Damit ist die Zunge, Geschmacksorgan und Sprechwerkzeug in einem - und in den meisten Sprachen synonym mit "Sprache" - ihrer Fähigkeit beraubt, zu schmecken, Welt zu erfahren.

Abel Nema fasziniert und empört. Er trage seine Fremdheit vor sich her wie ein Schild, sagt einmal jemand, und "dass er nichts anderes wollte, als um jeden Preis einsam zu sein, eine Randfigur, in nichts wirklich eintreten." Diese Beobachtung stammt von seiner Schein-Ehefrau, die ihn liebt, wie viele andere auch. Mindestens aber löst er erotische Unruhe aus, in allen Köpfen bleibt er haften. Nicht klar ist, ob er seine Homosexualität wirklich auslebt, nicht restlos geklärt wird, was ihn so maßlos verstört hat. Es ist gut, dass Terézia Mora nicht alles offenbart, der Held bleibt dem Leser dadurch so mysteriös wie den anderen Figuren. Es passt deshalb nicht so gut, dass mit der konsequenten Außenperspektive am Schluss gebrochen wird und der stumme Abel einen wortreichen Drogenrausch-Monolog zu führen hat. Bei ihm nimmt sich das als Geschwätzigkeit aus. Auch sind manche Nebengeschichten unerheblich detailliert. Im Ganzen aber erweist sich Mora als souveräne Romanautorin, die gekonnt und in Schnitten, Zeitebenen, Milieus und Stimmen montiert und imstande ist, leichthin die Erzählerrolle zu ironisieren ("aus unbekannten Gründen blieb er stehen").

Nach ihrem Erzählungsband "Seltsame Materie" (1999) mit knappen, harten Geschichten aus der Kindheits- und Heimatperspektive hat sie damit Form und Blick gewechselt. In "Alle Tage" fehlt jede Heimatfolklore, Zeit und Ort sind unbestimmt und allgemein. Gefragt, wie es dort aussehe, wo er herkommt, antwortet Abel Nema: "Ganz ähnlich. Es ist dieselbe Klimazone."

Titelbild

Terézia Mora: Alle Tage. Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2004.
430 Seiten, 22,50 EUR.
ISBN-10: 3630871852

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