Theatralische und häufig unangemessene Posen

Oliver Hilmes' Biografie wirft einige Schatten auf das meist lichte Selbstbild Alma Mahlers

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn sich in den Stuben das Unheil zusammenbraut, lässt es die Trivialliteratur draußen bekanntlich gerne donnern und gewittern. Da wird schon mal erzählt, dass "ein orkanartiger Sturm wütete, sintflutartige Regengüsse niedergingen und die Welt unterzugehen schien", als drinnen "das Todesrasseln" des Kranken einsetzte, oder dass "ein fürchterliches Gewitter tobte und der Himmel sich blutrot färbte", während drinnen ein junges Mädchen mit dem frühen Tode ringt. Doch diese Zeilen stammen nicht aus einem Groschenroman, sondern aus einer in einem angesehenen Verlag erschienenen, an sich durchaus seriösen Biografie. Oliver Hilmes sind sie aus der Feder geflossen und sie beschreiben die Sterbestunden des ersten Gatten und einer der Töchter seiner Protagonistin, Alma Mahler-Werfel, einer wie der Autor schreibt "außergewöhnlich[en]" und "bis heute äußerst umstritten[en]" Frau.

Für Letzteres liefert er eine ganze Reihe beispielhafter Zitate aus dem illustren Bekanntenkreis Mahler-Werfels, wobei die Urteile der Männer - ablehnende wie begeisterte - meist ein gerütteltes Maß Misogynität erkennen lassen. Ersteres, dass Mahler-Werfel eine außergewöhnliche Frau war, zeigt die Biografie als Ganze, auch worin das Außergewöhnliche dieser Frau lag. Dabei ist der Autor seiner Protagonistin durchaus nicht mit übermäßiger Sympathie zugetan und lässt aus guten Gründen etliche dunkle Schatten auf das allzu lichte Selbstportrait fallen, das sie in ihrer Autobiografie "Mein Leben" für das Publikum zeichnete.

Was es allerdings rechtfertigt, bei Abweichungen der Autobiografie gegenüber den von Hilmes intensiv ausgewerteten Tagebuchnotizen per se von "Manipulationen" zu sprechen, bleibt unklar. Ist es doch durchaus üblich, dass AutorInnen ihre Tagebücher ebenso wie andere Notizen bei der Abfassung einer Autobiografie nur heranziehen, nicht aber getreulich abschreiben. Auch ist keineswegs gewährleistet, dass Tagebücher 'wahr' sind und Memoiren, wo sie von ihnen abweichen, verfälschend, weder was in den Erinnerungen zurückhaltender formulierte "despektierliche Urteile" über andere, noch was Tatsachenbehauptungen betrifft. Man kann sich leicht gute Gründe vorstellen, aus denen beispielsweise die Tagebuchaufzeichnungen eines Juden oder Widerstandskämpfers in Nazideutschland weniger offen und wahrhaftig sein können als seine später verfassten Memoiren. Für Hilmes liegt die Sache jedoch denkbar einfach: "Wer ein Tagebuch führt, schreibt 'persönlich/vertrauliche' Briefe an sich selbst", sei es Marc Aurel, der "barocke Londoner" Samuel Pepys, der "deutsche Jude" Victor Klemperer, der - wie Hilmes sehr wohl weiß - sein Tagebuch "unter Lebensgefahr" schrieb, oder sei es die "unter Rotarmisten im eroberten Berlin" lebende "Anonyma". Unbekannt scheint Hilmes zu sein, dass TagebuchautorInnen Kürzel und Chiffren, Pseudonyme und Verfälschungen einsetzen, um Unbefugten die Lektüre zu erschweren, und dass sie mit schielendem Blick auf posthume Veröffentlichung möglicherweise Tatsachen verfälschen und verschweigen. Zudem sind Tagebücher keineswegs reine Spiegel reflexionsloser Wirklichkeit, sondern bedienen sich literarischer Stilmittel. Und zumindest dies gilt zweifellos für die - wie Hilmes nahe legt, im Unterschied zu den Memoiren - "unzensierten Tagebücher" Alma Mahler-Werfels, in denen sich schon früh ein deutlicher Stilwille bemerkbar macht, so etwa wenn die Zwanzigjährige im September 1899 aphoristisch über ihre Mutter schreibt: "Wir sind ihr nichts mehr - höchstens im Wege." Doch schließlich beschleichen auch Hilmes Zweifel an der Unmittelbarkeit des 'Wahren' in den Tagebüchern, entdeckt er doch in ihnen gelegentlich eine "bühnenreife Darbietung von Gefühlen" und hält es - zumindest gelegentlich - für "schwierig, den Wahrheitsgehalt ihrer Aufzeichnungen zu ergründen". Dem ist wohl so, und insofern unterscheiden sie sich nicht von der Autobiografie.

Neben Mahler-Werfels Lebenserinnerungen lagen vor Hilmes' Arbeit bekanntlich schon fünf "Alma-Biographien" vor, deren Buchtitel, "die Richtung" vorgaben, wie der Autor der sechsten meint: Für Karen Monson etwa sei Mahler-Werfel "die unbezähmbare Muse", und Susanne Keegan habe in ihr die "Windsbraut" erblickt. Doch auch sein Titel gibt die Richtung vor, neigt sein "neue[s] überraschende[s] Portrait einer Persönlichkeit voller Widersprüche, eine[s] äußerst ambivalenten Charakters" doch dazu, Mahler-Werfel auf eine "Witwe im Wahn" zu reduzieren.

Bei der Titelgebung dürfte allerdings auch der Wohlklang der Alliteration eine Rolle gespielt haben, andernfalls hätte er wohl "Die hysterische Witwe" oder ähnlich gelautet. Denn Hilmes führt die von ihm konstatierte Wahnhaftigkeit Mahler-Werfels auf deren "hysterische Persönlichkeitsstörung" oder - wie es an anderer Stelle heißt - auf ihre "hysterische Persönlichkeitsstruktur" zurück. So besagt denn auch die das Buch einende These, Mahler-Werfel sei eine Hysterikerin gewesen. Die Symptome haben sich Hilmes zufolge schon bei "der jungen Alma Schindler" gezeigt: "das ständige Schwanken zwischen emotionaler Kälte und erotischer Überspanntheit, ein Hang zur Koketterie bei gleichzeitiger Ablehnung körperlicher Nähe, die ausgeprägte Vorliebe für theatralische und häufig unangemessene Posen, die starke Neigung zu Oberflächlichkeit und Tagträumereien, das Spielen mit Selbstmordgedanken sowie eine weitgehende Unfähigkeit, Kritik zu ertragen". Doch will er seine Diagnose nicht als solche verstanden wissen. "Alma", wie er seine Protagonistin vertraulich und ohne den Einspruch der Toten gewärtigen zu müssen gerne nennt, sei "nicht krank" gewesen, ihr Leben "keine Fallgeschichte". So gehörten typisch hysterische Verhaltensweisen, wie "Konflikte zu verdrängen, ja sie vollkommen vom Bewusstsein abzuspalten" nicht zu ihren "Bewältigungsstrategien". Lese man jedoch die "wissenschaftliche Literatur über die hysterische Form neurotischen Krankseins", würden etliche "Parallelen" zwischen dem Krankheitsbild und Mahler-Werfels Verhalten augenfällig. Die "stimmigsten Erklärungen" für Alma Mahler-Werfels "Leben und Wesen" habe er jedenfalls "in den Fallgeschichten und theoretischen Arbeiten der Hysterieforscher von Chacot über Freud bis zu Bräutigam, Mentzos und Christine von Braun" gefunden. Ein seltsames Namedroping disparater TheoretikerInnen, die es sicher nicht alle gerne sehen, in einem Atemzug miteinander genannt zu werden. Aber diese Aneinanderreihung mal mehr, mal minder klangvoller Namen soll offenbar Hilmes' These von Mahler-Werfels Hysterie beglaubigen. Ins Auge fällt, dass Elisabeth Bronfen in der Reihe nicht genannt wird.

Zwar versichert der Autor, er sei "weit davon entfernt, mit dem meist frauenfeindlich gebrauchten Schimpfwort 'hysterisch' Alma denunzieren oder gar pathologisieren zu wollen." Das sein Hysteriebegriff gleichwohl eindeutig negativ konnotiert ist, wird deutlich, wenn er meint, in ihrem Tagebuch "überführ[e] sie [Mahler-Werfel] sich sogar selbst als Hysterikerin". Hilmes Auffassung, dass es "das Terrain der hysterischen Frau" sei, "einen Mann ungeheuer anzuziehen, ihm alles zu versprechen, ihn zu betören und ihm dann klar zu machen, dass er jüdisch, unansehnlich oder [...] impotent sei und sie gar nicht verdient habe", klingt gar eher nach einer angstbesetzten Männerfantasie als nach dem Ergebnis der Lektüre einer ganzen Reihe von HysterieforscherInnen.

Nun rühmt sich Hilmes nicht nur, diese in nicht eben geringer Zahl gelesen zu haben, sondern auch, sich "jahrelang durch zehntausende von Seiten von und über Alma Mahler-Werfel hindurchgearbeitet" zu haben, mit ihren Tagebuchnotizen als erster "die intimsten Quellen sprudeln [zu lassen], die es gibt", und den bislang unveröffentlichten Briefwechsel zwischen Mahler-Werfel und Oskar Kokoschka - ein "brisant[er]" und "besonderer Quellenschatz" - ausgewertet zu haben. Dennoch scheint der Blick, den er ins tiefste Innere Mahler-Werfels werfen zu können glaubt, gelegentlich etwas insolent. Insbesondere, wenn er es besser zu kennen glaubt als sie selbst. Hilmes zufolge "[m]einte Alma noch Jahrzehnte später, die tiefe Verletzung zu spüren, die Mahler ihr in jenen Dezembertagen 1901 beigebracht habe". Eine Formulierung, die insinuiert, Mahler-Werfel habe sich nach all diesen Jahrzehnten über ihre damaligen Gefühle getäuscht, zumal überhaupt fraglich sei, ob Mahler sie damals verletzt habe.

Trotz solch kritischer Anmerkungen bleibt festzuhalten, dass Hilmes' Arbeit zweifellos Licht in einige dunkle Winkel von Mahler-Werfels Leben, Denken und Empfinden wirft. Ihr kaum durch politische Überlegungen oder auch nur Überzeugungen, wohl aber psychologisch zu erklärender Antisemitismus war zwar auch schon vor Hilmes' Biografie bekannt und berüchtigt, manche bislang unveröffentlichte Bemerkungen sind allerdings dazu geeignet, einem neuerliche Schauer über den Rücken laufen zu lassen. Das sind weniger die letztlich unbedarften Äußerungen der politischen Analphabetin, von der Hilmes zu Recht feststellt, dass sie kein "kohärentes antisemitisches Weltbild" gehabt habe und keine "ideologische Antisemitin" gewesen sei. Von allen ihren zahlreichen antisemitischen Anwürfen, Klagen und Fantasmen - "Der Geist der Analytik, der Sozialdemokratismus, der Liberalismus, all dieser 'Aufkläricht' ist durch die Juden in die Welt gekommen", "Der Jude strebt nach Klarheit, der Arier nach Rausch [...]. Wie verwirrt muss es also in den Juden aussehen, und wie klar im christlichen Hirn", "Noch immer hassen sie in mit die unverschmockte, schöne Christin. Denn die Juden verzeihen uns unsere lichtere Art nicht. [Sie sind] ein dunkles wildes Ostvolk. Schwarzseelig und mitleidlos", um nur einige aus der vorliegenden Biografie zu zitieren - sind die Ausfälle gegen ihre Tochter Anna am scheußlichsten: "Sie ist mir artfremd", notiert Mahler-Werfel etwa Ende Juli 1929, "Kühl - überlegend und jüdisch." Und im September 1936: "Es ist ein solcher Schmerz für mich, eine 150 % Jüdin aus mir geboren zu haben."

Was Mahler-Werfels Beziehungen zu ihren zahlreichen Geliebten und Gatten betrifft, gilt Hilmes' Interesse begründetermaßen Mahler-Werfels drei Ehemännern, Gustav Mahler, Walter Gropius und Franz Werfel sowie Oskar Kokoschka. Wobei er es insbesondere für den gehörnten Mahler nicht an Verständnis und Mitgefühl mangeln lässt, obwohl er durchaus sieht, dass Mahler alles andere als eine gleichberechtigte Ehe führen wollte, worunter seine Frau nicht wenig litt. Mahler, so konstatiert Hilmes, suchte in seiner Frau "die 'Kameradin', die sich aus Respekt vor seiner künstlerischen Mission unterordnete und ihm im Alltag den Rücken freihielt". So erklärte Mahler bereits 1901 seiner künftigen Frau unumwunden, sie müsse werden, "wie ich es brauche", außerdem sei sie "zu jung und unreif, um schon echte Persönlichkeit zu besitzen". Während der Ehe war sie, laut Hilmes, denn auch "in der Tat nicht mehr als ein Ornament, das sich seinen Wünschen unterzuordnen hatte". Sie weint viel, woraus Mahler folgert, "dass mit seiner Frau etwas nicht stimmte". Auf die Idee, dass vielmehr Mahlers Partnerschaftskonzeption im Argen lag, scheinen weder ihr Mann noch ihr Biograf zu kommen. Einmal meint Hilmes gar, sie habe "die Rolle der geknechteten Ehefrau" nur gespielt und Mahler den "Part des herrschsüchtigen Ehemanns" zugedacht.

Ein merkwürdiger Widerspruch findet sich auch in Hilmes' Darstellung von Alma Mahlers psychischer Verfassung nach dem Tod ihres Mannes. Konstatiert der Autor zunächst, dass, obwohl "vor wenigen Monaten" die Freiheit der "sehnlichste Wunsch" der jungen Witwe gewesen sei, "sie nun nichts damit anzufangen" wisse, so behauptet er zwei Seiten weiter über den gleichen Zeitraum, sie habe "[n]ach der unglücklichen und sie einengenden Ehe [...] ihre neue Freiheit" genossen. Im übrigen insinuiert er, sie sei schuld an Mahlers Tod gewesen und präsentiert als Beleg ein "späteres Geständnis": 1920, neun Jahre, nachdem Mahler verstorben war, notierte sie in ihr Tagebuch: "Gustavs Tod auch - habe ich gewollt."

Gropius bleibt in dem Buch ebenso wie in Mahler-Werfels Leben der blasseste der drei Ehemänner. Ihr Geliebter Kokoschka wird insbesondere in seinen ans Psycho- und Soziopathische grenzenden Verhaltensweisen, nicht zuletzt seiner "hemmungslose[n]" und "grenzenlos[en]" Eifersucht, gezeigt. Lässt Hilmes an seiner Protagonistin kaum ein gutes Haar - deren sie vermutlich auch nicht allzu viele schmückten -, so schneidet Werfel ebenfalls nicht besonders gut ab - zumindest, was seinen politischen 'Instinkt' betrifft. Zu Recht, wie man weiß.

Als Alma Mahler ihn 1929 heiratete war, sie bereits 50 Jahre alt. Obwohl weiterhin von uneinsichtigem Antisemitismus durchdrungen und der nationalsozialistischen Judenhatz gegenüber durchaus nicht ablehnend, ging sie 1938 mit ihm ins Exil, wo er 1942 mit dem Roman "Das Lied der Bernadette" seinen größter Erfolg feiern durfte und 1945 den Folgen eines Herzinfarktes erlag. Seine Frau überlebte ihn um nahezu 20 Jahre, die wenig berichtenswert zu sein scheinen. Doch bietet Hilmes einiges Interessante über die Entstehungsgeschichte der beiden Autobiografien, denen sich Alma Mahler-Werfel nach Werfels Tod widmete: "Mein Leben" und der unveröffentlichten ersten Fassung "Der schimmernde Weg".

Titelbild

Oliver Hilmes: Witwe im Wahn. Das Leben der Alma Mahler-Werfel.
Siedler Verlag, Berlin 2004.
477 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-10: 3886807975

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