Rede vom Hauch

Über das Lesen und Interpretieren von Gedichten

Von Wulf SegebrechtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wulf Segebrecht

Ausgerechnet den Hauch zum Thema einer öffentlichen Rede zu machen, mag Ihnen vielleicht ein wenig skurril, möglicherweise sogar ridikül erscheinen. Als gäbe es nichts Wichtigeres zu besprechen als einen bloßen Hauch, eine schwache Luftbewegung, einen kaum spürbaren Atemzug! Andererseits hängt unser ganzes Leben daran: Mit dem letzten Atemzug haucht unsereins, so pflegt man zu sagen, seine Seele aus, und bis es so weit ist, fordert sicherlich nicht nur ein Klischee, dass der Mensch seine innigsten und zärtlichsten Empfindungen in Worten und mit Küssen der oder dem Angebeteten zuhaucht. "Könntest du dem Papier das einhauchen, was so voll, so warm in dir lebt", klagt der arme Werther. Er kann es nicht. Es will ihm nicht gelingen. Vielleicht ist das ein Grund seiner Leiden. Dass er nicht hauchen kann, das macht ihn zwar groß als Leidenden, aber es trifft ihn zugleich tödlich. Oder denken Sie an den Hauch in Goethes berühmtem Nachtlied des Wanderers:

Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.

Dem Wanderer wird selbst noch der leiseste Hauch in den Wipfeln, den er wahrnimmt, zu einem traurigen, aber zugleich auch tröstlichen Zeichen. Es verheißt ihm vollkommene Ruhe, aber noch im letzten Rest von Unruhe erfährt er sich selbst als lebendiges und das heißt als unruhiges Wesen: "Spürest du / Kaum einen Hauch", so bist du, immerhin, noch am Leben.

Wie schon diese Zitate zeigen, hat der Hauch, jedenfalls Goethe zufolge, viel mit dem Leben, zugleich aber auch viel mit der Kunst zu tun. Vor allem mit Gedichten. Denn die eigentliche Leistung des lyrischen Künstlers müsse darin bestehen, sagt Goethe ein andermal, sein Gedicht selbst zu einem Hauch werden zu lassen:

Bilde, Künstler, rede nicht!
Nur ein Hauch sei dein Gedicht!

Diesen gereimten Zweizeiler hat Goethe 1815 als Motto dem Abschnitt "Kunst" in seinen gesammelten Gedichten vorangestellt. "Bilde, Künstler, rede nicht! / Nur ein Hauch sei dein Gedicht!" Goethe scheint hier geradezu für das holde Ungefähr des Gedichts zu plädieren, für das nur Angedeutete, das mit viel Gefühl, aber wenig Kunst Hingehauchte, dem wir, zumal in Deutschland, eine lyrische Massenproduktion zu verdanken haben. Solange sie in der Schublade bleibt, ist dagegen auch nicht viel einzuwenden. Aber sie tritt immer dann öffentlich zutage, wenn es um Lyrikpreisausschreiben oder neue Anthologien geht. Die vierhundert Lyriker, mit denen Brecht nichts zu tun haben wollte, als er sie als Jurymitglied zu beurteilen hatte, die zahlreichen mittelmäßigen lyrischen Bewisperer, die Gottfried Benn in seiner Marburger Rede "Probleme der Lyrik" attackierte, die spracharmen Dilettanten, deren massenhaftes Erscheinen Enzensberger im lyrischen Betrieb vermeldete - sie alle könnten sich fatalerweise auf Goethes Plädoyer für das Gedicht als Hauch berufen. Wenn das Gedicht nur ein Hauch sein muss, dann fühlen sich viele zum Dichter berufen: "Hauchen kann ich auch". An solche Künstler richtet sich Robert Gernhardt mit seiner inständigen Bitte:

Bitte, Künstler, bilde nicht
und verzicht auf dein Gedicht.
Wort ist Wind, und gar kein Hauch
tut es in der Regel auch.

Ein frommer Wunsch. Er wird nicht viel helfen. Es wird weitergehaucht.

Aber es wäre doch leichtfertig, Goethe ohne weiteres für diese inflationäre Entwicklung verantwortlich zu machen. Seine Sentenz, derzufolge als Ergebnis der Kunstbemühungen im Idealfall am Ende "nur ein Hauch" spürbar bleiben soll - nicht mehr, aber auch nichts anderes als ein Hauch -, ist gewiss merkwürdig, aber auch nachdenkenswert. "Nur ein Hauch" - das heißt: Verzicht auf jeden Pomp und jeden Aufwand, Bemühung um den schlichtesten, offenbar auch leisesten, natürlichsten, unauffälligsten, aber doch innigsten Ausdruck des Lebens. Keine emotionalen Deklamationen, keine artifiziellen Extravaganzen, mit einem Wort: keine Rhetorik; "rede nicht!" - das wird dem lyrischen Künstler denn auch im Befehlston nahe gelegt. Und mit gleicher Entschiedenheit wird er aufgefordert: "Bilde, Künstler"! Der Lyriker soll ein Gestaltender sein, ein Praktiker, kein Theoretiker. Er soll nicht über etwas reden, nicht räsonnieren, sondern er soll das, was er entwirft, Bild und Gestalt werden lassen, er soll etwas "bilden". Ein Gebilde soll sein Gedicht werden, zart wie ein Hauch. Dieser "Hauch", der im besten Falle als Ergebnis der bildenden Arbeit herauskommt, wäre also keineswegs unkontrolliert oder gar unbewusst, er wäre sorgfältig gestaltet. Goethe plädiert gewissermaßen für das Gedicht als "gebildeten Hauch", wobei unter Bildung die produktive Gestaltungskraft zu verstehen ist, die schöpferische Inspiration, die Beseelung des Geschaffenen. In der Aufforderung "Bilde, Künstler!" steckt der Vergleich des Dichters mit dem Schöpfergott, den schon der Student Goethe in seiner enthusiastischen Shakespeare-Rede verwendete. Shakespeare, heißt es dort, "wetteiferte mit dem Prometheus, bildete ihm Zug vor Zug seine Menschen nach [...]; und dann belebte er sie alle mit dem Hauch seines Geistes".

Gut und schön, könnten Sie sagen, aber was soll man mit einer solchen Bestimmung schon anfangen! Wozu sollte sie gut sein! Nicht einmal den schönsten unter Goethes eigenen Gedichten könne man das Qualitätsmerkmal "Gebildeter Hauch" zusprechen. Das "Mailied":

Wie herrlich leuchtet
Mir die Natur!
Wie glänzt die Sonne!
Wie lacht die Flur!

Es dringen Blüten
Aus jedem Zweig
Und tausend Stimmen
Aus dem Gesträuch

Und Freud und Wonne
Aus jeder Brust.
O Erd', o Sonne,
O Glück, o Lust

O Lieb', o Liebe
[...]

Nur ein Hauch? Oder nicht vielmehr ein einziger Lustschrei! Oder denken Sie, da schon von Prometheus die Rede war, an die große Hymne, in der Prometheus den Zeus herausfordert:

Hier sitz' ich forme Menschen
Nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sei,
Zu leiden, weinen,
Genießen und zu freuen sich,
Und dein nicht zu achten,
Wie ich.

Nur ein Hauch? Oder nicht vielmehr eine höhnische, wütende Zornrede gegen die höchste göttliche Autorität? Diese Überprüfung ließe sich fortsetzen über die klassisch-gemäßigte Lyrik Goethes, seine wohlkomponierten Sonette, die sinnenfrohen Divan-Gedichte bis hin zu den späten melancholischen Elegien. Viel Bildung, so ließe sich polemisch kommentieren, aber wenig Hauch.

So könnten wir die Sache mit dem Hauch vorerst auf sich beruhen lassen. Ein hübsches Aperçu, aber eben doch nur sehr bedingt zutreffend wie alle die vielen poetischen Vergleiche und Metaphern, die Lyriker sich ausgedacht haben, um das Wesen der Lyrik wenigstens im Bild festzuhalten, wenn es sich schon im Begriff nicht bestimmen lässt. "Gedichte sind gemalte Fensterscheiben", hat Goethe bei anderer Gelegenheit gesagt. "Mein Gedicht ist mein Messer", hat Hans Bender im Anschluss an eine Gedichtzeile von Wolfgang Weyrauch demgegenüber behauptet, und Robert Frost bezeichnet das Gedicht noch rabiater sogar als Axt. Günter Eich betrachtete seine Gedichte als "trigonometrische Punkte oder als Bojen", die ihm, wie er schreibt, helfen, sich "in der Wirklichkeit zu orientieren". Für Paul Celan, der hier Ossip Mandelstamm folgt, kann das Gedicht "eine Flaschenpost sein", und mit Cees Nooteboom kehren wir verblüffenderweise wieder zum Hauch zurück; "der Kopf" des Dichters, so heißt es bei ihm,

entläßt die Zeilen,
sein Atem gebiert
die Kadenz des Denkens,
das Gedicht,
nichts als ein Hauch.

So viele und so inkommensurable Bestimmungen dessen, was ein Gedicht angeblich eigentlich ist oder sein sollte, wären nicht möglich und nicht erforderlich, wenn darüber auch nur der Ansatz eines Konsenses bestünde. Das Gedicht ist aber offensichtlich nicht nur zu verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen Autoren etwas je Verschiedenes, sondern auch für die Leser von Gedichten. Was es jeweils ist, hängt im weitesten Sinne von der Situation ab, in der seine Eigenart, seine Wirkung, seine Anwendung bestimmt und erfahren werden, wobei diese Erfahrungsmöglichkeiten selbst wieder abhängig sind von geschichtlichen Faktoren des so genannten Erwartungshorizonts. Keinem Autor des Barockzeitalters wäre es eingefallen, sein Gedicht etwa als Hauch oder als Axt zu bestimmen, und keinem Leser wäre es eingefallen, eine solche Erwartung auf Gedichte zu richten. Gedichtdefinitionen bewegten sich damals im Umkreis von Belehrung und Beredsamkeit, Frömmigkeit und traditionellen Erwägungen über Nutzen und Vergnügen der Poesie. Um 1814 dagegen, als Goethe sein Diktum vom Gedicht als gebildetem Hauch niederschrieb, war man schon eher darauf eingerichtet, Kunstgebilde mit natürlichen, ursprünglichen, ja sogar kindlichen Lebensäußerungen zu vergleichen. In Friedrich Schlegels berühmtem 116. Athenäumsfragment über die progressive Universalpoesie z. B. wird die Reichweite der romantischen Kunst ausgedehnt "bis zum Seufzer, dem Kuß, den das dichtende Kind aushaucht". Auch in diesen geschichtlichen Zusammenhang gehört Goethes Aufforderung an den Künstler. Der Hauch, der Seufzer und der Kuss rangieren in dieser Zeit eindeutig vor der Rede und der Gelehrsamkeit, wenn es darum geht, Prioritäten für Künstler festzusetzen.

An sie, an die Künstler, wendet sich Goethe ausdrücklich. Aber sein Plädoyer für den Hauch kommt natürlich zugleich solchen Lesern entgegen, die vom Gedicht wie von einem Hauch sanft berührt und ergriffen, keineswegs aber intellektuell sonderlich beansprucht werden wollen. Der antirhetorische Affekt in Goethes Diktum unterstützt solche Option auf Einfühlung.

Diese wie manche andere Reaktion der Leser auf Gedichte mag aus der Sicht mancher Künstler und Kritiker verfehlt sein; sie gehört jedoch zu den unaufhebbaren Freiheiten des Lesers im Umgang mit Gedichten. Niemand kann ernsthaft bestreiten, dass Gedichte sogar auch Lebens- und Sterbenshilfe sein können. Eine "falsche" Benutzung von Gedichten kann es deshalb eigentlich nicht geben. Was mich anrührt wie ein Hauch, kann schlechterdings nicht "falsch" sein.

Der Leser lässt es sich nun einmal nicht nehmen, Gedichte auf seine persönlichen Verhältnisse anzuwenden, auch wenn sich die Lyriker dagegen wehren und die Kritiker Hohn und Spott über diejenigen ausgießen, die sich so verhalten, von den ernsten Literaturwissenschaftlern ganz abgesehen. Die Freiheit der Leser, mit Gedichten anzustellen, was sie wollen, ist uneinschränkbar. Leser suchen und finden sogar immer noch Trost in Gedichten, obwohl kein Geringerer als Marcel Reich-Ranicki gerade erst wieder abschließend mitgeteilt hat: "Nein, trösten oder besänftigen kann uns die Lyrik nicht". Er befindet sich mit dieser Auffassung in Übereinstimmung mit den besten und kompromisslosesten Lyrikern. "Das Gedicht ist nicht der Ort, wo das Sterben begütigt / wo der Hunger gestillt, wo die Hoffnung verklärt wird", heißt es in Christoph Meckels "Rede vom Gedicht". Und doch kann es niemandem verwehrt werden, selbst solche desillusionierenden Verse als tröstlich zu empfinden. Man mag darüber streiten, ob es die Aufgabe der Lyrik sein sollte, zu trösten, und ob sie so richtig verstanden wird; die Tatsache, dass sie auch zum Trost dient, lässt sich nicht leugnen. Auf keinen Seiten der F.A.Z. - ich fürchte: das Feuilleton nicht ausgenommen - findet man, neben den einschlägigen Bibelzitaten, so viele Gedichte und Gedichtzitate abgedruckt wie dort, wo die Todesanzeigen stehen. Die Trauernden vertrauen sich der Aura der Lyrik an, wenn es gilt, den "unsagbaren Schmerz" sagbar zu machen und den Verstorbenen etwas Bleibendes, etwas Schönes, etwas Sinnvolles und etwas zuletzt Geheimnisvolles nachzusagen. Sollten wir solche Ausdrucksbemühungen wirklich kalten Herzens als "Missbrauch" diskreditieren? Und wie steht es mit Hölderlin im Tornister der Soldaten, mit Goethe, Heine und Eichendorff in den Konzentrations- und Kriegsgefangenenlagern? So wenig man der Lyrik vorschreiben kann, was sie zu sein hat und was nicht, so wenig kann man es auch den Lesern verweigern, Gedichte zu einem Bestandteil ihres Lebens zu machen, zu Lust und Liebe, in Trauer und Trübsal.

Wozu aber, wenn der Leser ohnehin immer im Recht ist bei seinem Umgang mit Gedichten, wozu dann überhaupt noch Interpretationen? "Wenn zehn Leute einen literarischen Text lesen, dann kommt es zu zehn verschiedenen Lektüren. Das weiß doch jeder." Enzensbergers bestechende Philippika gegen die Gedichtinterpretation, aus der ich hier zitiere, läuft darauf hinaus, dass es angesichts der uneinschränkbaren Freiheit des Lesers eine "falsche" Interpretation gar nicht geben könne, weil jeder Leser ein Gedicht auf seine nur ihm selbst eigentümliche Weise lese. Das ist eine überaus sympathische These: liberal, tolerant, ein wenig kess, aufmüpfig und antiautoritär, wenn auch nicht ganz so ungewöhnlich, wie es der Gestus der Provokation, den Enzensberger liebt und den wir an ihm lieben, wahrhaben möchte. Im Gegenteil: So etwas hören wir gern. Denn wir lassen uns nicht gern gängeln.

Noch einen Schritt weiter geht Enzensberger allerdings mit einem Zitat aus Susan Sontags "hervorragender Tirade" (wie er sagt) "Against Interpretation" aus dem Jahre 1967, dem er sich vorbehaltlos anschließt und das er mit weiteren Beobachtungen und Kommentaren zu einem so genannten "Normenbuch Deutsch" der Kultusministerkonferenz zu untermauern sucht. "Heute", so zitiert Enzensberger Susan Sontag zwanzig Jahre später, "ist die Interpretation zu einem überwiegend reaktionären, unverschämten, feigen, unterdrückerischen Projekt verkommen. So wie die Abgase der Industrie und des Autoverkehrs die Atmosphäre unserer Städte verpesten, so vergiftet der massenhafte Ausstoß von Interpretationen unsere Sensibilität". Das ist nun in der Tat starker Tobak. Und es hilft nicht viel, wenn wir uns daran erinnern, dass Enzensberger selbst mit einigen originellen Interpretationen, u. a. auch in der "Frankfurter Anthologie", zu diesem angeblich "unterdrückerischen Projekt" der Gedichtinterpretation sein Scherflein beigetragen hat. Es ist vielmehr festzustellen, dass - jedenfalls in der so genannten wissenschaftlichen Fachwelt - die Attacken gegen die Interpretation seither Konjunktur haben. Da mögen die braven Interpreten noch so treuherzig ihre Gutwilligkeit beteuern und versichern, dass es ihnen lediglich um die Annäherung an die Gedichte, um den Dienst am Autor und am Text und um die Fortsetzung des Gesprächs über Lyrik gehe - ungerührt werden ihnen Machtgelüste, Herrschaftsposen, Freiheitsberaubung und sogar Gewaltakte unterstellt. "Wer interpretiert, will Herr über den interpretierten Text werden", schreibt Jochen Hörisch in seinem Buch über "Die Wut des Verstehens" aus dem Jahr 1988.

Das ist nun, mit Verlaub, selbst autoritär. Die vermeintlich diktatorische Selbstherrlichkeit der Interpretation ist eine Fiktion, erdacht, um forsch gegen sie vorgehen zu können. Und eine Fiktion oder jedenfalls eine Karikatur des Lehrers ist auch Enzensbergers Behauptung, derzufolge, beispielsweise in der Schule, die Freiheit des Gedicht-Lesers in aller Regel dadurch eingeschränkt werde, dass nur eine Lesart eines Gedichtes als richtig und alle anderen als falsch qualifiziert werden.

Allerdings ist dem verbreiteten Irrtum entgegenzutreten, als wäre jede beliebige Äußerung zu einem Gedicht schon eine Interpretation. Die ganz individuellen Assoziationen, Meditationen und die persönlichen Anwendungen auf das eigene Leben, die Betroffenheits- und Ergriffenheitsbekundungen, die Gedichte unter Umständen im Leser auslösen - das alles sind denkbare und sogar wünschens- und mitteilenswerte, jedenfalls völlig legitime Reaktionen auf Gedichte. Aber mit der schriftlich formulierten und öffentlich mitgeteilten Gedichtinterpretation sollte es heute, wie ich glaube, eine andere Bewandtnis haben. Denn sie präsentiert die eigenen und selbst noch die eigenwilligsten Beobachtungen und Kommentare des Interpreten nicht als Machtworte und nicht als Ergriffenheitsbekundungen, sondern als potenziell zustimmungsfähige, jedenfalls aber nachvollziehbare Beobachtungen. Gedichtinterpretationen sind kontrollierbar. Sie stellen sich sogar der doppelten kritischen Kontrolle: durch den Text und durch den Leser. Beiden gegenüber müssen sie sich legitimieren. Wenn der Text ihnen widerspricht, ist das für sie tödlich, mit dem Widerspruch des Lesers können sie allenfalls leben. Die Gedichtinterpretationen geben dem Leser zu bedenken, ob er der vorgelegten Lesart des Gedichtes zustimmen kann oder nicht. Sie wollen ihn gewiss nicht eines Besseren belehren, aber sie wollen ihn überzeugen und sie wollen aufmerksam machen auf die Baupläne der "Bildung" dessen, was Goethe den "Hauch" genannt hat. Den "Hauch" selbst können sie kaum vermitteln - das ist, wenn man Goethe denn glauben will, die Sache der Künstler -, und wenn die Interpreten selbst zu hauchen und zu raunen beginnen, scheitern sie zumeist: man glaubt ihnen nicht. Die Gedichtinterpretation will die persönliche Begegnung des Lesers mit einem Gedicht vorbereiten, durch Revision, aber auch durch Konfrontation mit alternativen Lesarten.

Gedichtinterpretationen müssen, wenn sie text- und leserorientiert sind und nachvollziehbar argumentieren wollen, das an den Gedichten hervorheben, was nicht nur von einem Einzelnen subjektiv erfahren werden kann, sondern das, was für jeden aufmerksamen Leser wahrnehmbar und vermittelbar ist. Das sind gewiss nicht die tiefsten Geheimnisse der Gedichte, aber es sind beileibe auch keine unwesentlichen Bestandteile. Es geht dabei nicht zuletzt um eine Ehrenrettung der Rhetorik, die Goethe in seinem hier erörterten Diktum mit der Empfehlung "Rede nicht!" zugunsten der Bildung des Hauchs so schnöde zurückweist. Denn wie immer ich es drehe und wende: Goethes Sentenz mag für die Künstler, an die sie ja gerichtet ist, empfehlenswert sein, besonders für solche, die zu unsinnlichen Darstellungen neigen; ein wenig fragwürdiger ist diese Empfehlung schon für Leser, die über dem Glück der vermeintlichen Hauch-Erfahrung dessen Bedingung, die Bildung, vergessen; vollends unbrauchbar dagegen ist Goethes Ratschlag an die Künstler für den Interpreten. Der Interpret muss reden. Und er muss gerade von dem reden, wovon Goethe dem Künstler abrät: von der Rede. Von der Rede des Gedichts, davon, wer im Gedicht spricht und aus welcher Situation heraus gesprochen wird, von wo die lyrische Rede ihren Ausgangspunkt nimmt und wohin sie führt, auch davon, ob und gegebenenfalls wer im Gedicht angesprochen wird. Die Interpretation ist durch und durch eine rhetorische Gattung. Sie ist Rede über die Rede, die das Gedicht führt und die es, Goethe zum Trotz, zuletzt doch auch selbst ist.

Ich hätte mir nicht träumen lassen, dass ich für mein Vergnügen an Gedichten - "ein Lohn, der reichlich lohnet" - zusätzlich auch noch mit einem Preis ausgezeichnet werden könnte. Das habe ich Marcel Reich-Ranicki zu danken, dem Musenanführer, unter dessen Parole "Der Lyrik eine Gasse!" ich zum Mitarbeiter der "Frankfurter Anthologie" wurde. Zu danken habe ich auch der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", die diesen ungewöhnlichen Preis gestiftet hat. Sie, die einst der "Frankfurter Anthologie" generös, wenn auch skeptisch einen Platz im Blatt eingeräumt hat, kann inzwischen selbst stolz darauf sein, diese erfolgreiche Serie beherbergen zu dürfen. Die "Frankfurter Anthologie" ist für Leser und für Mitarbeiter die Hohe Schule des Umgangs mit Gedichten, in der das Elementarste gelernt werden kann, das "Einfache, das schwer zu machen ist": Vergnügen an lyrischen Gegenständen zu haben und zu bereiten.

Die Rede wurde anlässlich der Verleihung des Preises der "Frankfurter Anthologie" am 2. Mai 2001 gehalten und erschien am 26. Mai 2001 in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Wir danken Wulf Segebrecht für die Publikationsgenehmigung.