On the road again

Normalität und Denormalisierung: Ein Sammelband über Fahrten durch Texte und durchs Leben

Von Rainer ZuchRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Zuch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Liest man den Titel und betrachtet das Umschlagbild, ergibt sich als erstes der Eindruck, man habe eine Auseinandersetzung mit Road Movies und entsprechender Literatur vor sich. Das erweist sich auch als nicht ganz falsch gedacht, doch ist das Spektrum der in dem Sammelband "(Nicht) normale Fahrten" versammelten Aufsätze um einiges breiter. Road Movies treten als nur ein Beispiel für einen modernen narrativen Typus auf, der subjektive biografische Bewegungen zwischen Normalität und Nicht-Normalität zum Gegenstand hat und dabei die Metapher des Lebens als "Fahrt" oder "Reise" aufgreift. In der Einleitung der Herausgeber wird dies eine "zickzackartig verlaufende Lebenskurve" genannt, die über Prozesse der Normalisierung und Denormalisierung definiert werden kann.

Mehrere Autoren greifen dabei auf Francis Galtons Modell der Normalverteilung zurück. Galton erfand mit dem so genannten "Galtonbrett" ein Gerät zur Simulierung statistischer Normalverteilungen in einer Masse homogener Einheiten. Dabei werden eine Menge einzelner Kügelchen von oben durch mehrere Nagelreihen geleitet, wonach sie jeweils mit gleicher Wahrscheinlichkeit nach links oder rechts abgelenkt werden und auf dem Boden der Apparatur in einer Normalverteilung landen. Diese Normalverteilung hat ihre Spitze in der Mitte und fällt zu beiden Seiten gleichmäßig ab; die am weitesten von der die Norm definierenden Mitte entfernten Kügelchen stehen für nichtnormale Extrempositionen.

Der Band geht das Thema von zwei Richtungen an. Einerseits werden mit Literatur und Film verschiedene Medien mit ihren jeweiligen unterschiedlichen Inszenierungen der "Fahrt" thematisiert. Andererseits teilt sich der Band in verschiedene Sektionen auf, die die Phänomene Normalisierung und "Zickzack-Kurs" in thematischen Komplexen zu ordnen versuchen.

In einem einleitenden ersten Teil soll das Thema des Bandes so beispielhaft wie grundsätzlich demonstriert werden. Jürgen Link exerziert am Beispiel der Romane von Sibylle Berg das Zusammenfallen von Lebenslauf und Fahrt und deren (nicht) normale Inszenierung durch. Rolf Parr und Matthias Thiele beschäftigen sich mit durch Wiederholungsstrukturen hervorgerufenen Zickzackkursen zwischen Normalität und Nichtnormalität in Filmen und Fernsehsendungen wie dem Film "Groundhog Day".

Der nächste Abschnitt beschäftigt sich mit dem technischen Vehikel "Reisefahrzeug" als Metapher der Lebensreise. Zur Sprache kommen die Suche nach neuen Raum-Zeit-Konzeptionen und die Fahrt- und Reisemetaphorik bei Künstlern und Autoren des Surrealismus (Thomas Lischeid), die Frage nach dem Status des denormalisierenden "Ausnahmezustandes" in Romanen von F. C. Delius (Rolf Parr) und die bereits angesprochenen Road Movies (Ellen Risholm).

Ein weiterer Teil stellt "(Auto-)biographische Fahrten" in den Mittelpunkt. Neben fiktiven Biografien wie Daniel Defoes "Robinson Crusoe" (Alexander Honold) geht es hauptsächlich um nicht-fiktive Biografik. Jacques Le Rider und Ute Gerhard untersuchen autobiografische Texte wie etwa Tagebücher, während sich Thomas Anz und Klaus Michael Bogdal mit der Normalisierung der Biografien von Angehörigen marginalisierter Bevölkerungsgruppen - wie Kranke und "Zigeuner" - beschäftigen.

In einem letzten Abschnitt, der mit "Normalistische Regulierungen" überschrieben ist, geht Martin Stingelin dem Begriff der "Perversion" und Vittoria Borso dem literarischen Umgang mit dem Gedächtnis als Normalisierungsinstanz nach.

Nicht alle Beiträge lassen sich auf "Fahrten" oder "Reisen" hin lesen. In den beiden letzten Teilen finden sich mehrere Texte, die keine "Lebensreisen" thematisieren, sondern den Umgang mit von der Norm abweichenden Lebensweisen und die somit die im Titel vorgegebene (im Sinnes des Buches: normalisierende) Ausrichtung überschreiten. Anz beschreibt den hohen Anteil medizinischer Argumente bei der Legitimation und Durchsetzung sozialer Normen. Bogdal hat mit der "eliminatorischen Normalisierung" die denkbar aggressivste Normalisierungsstrategie im Blick: die Vernichtung des Nicht-Normalen. Le Riders Thema sind die im Texttyp Tagebuch angelegten Wechselspiele von normal/nicht normal und Privatheit/Öffentlichkeit.

Ein kleines Manko ist das Fehlen von kurzen Vorstellungen der Autoren, was für deren wissenschaftliche Verortung hilfreich wäre.

Der Band, dessen Beiträge größtenteils auf eine Tagung an der Universität Dortmund 1999 zurückgehen, liefert einen recht guten Einblick in den Diskussionsstand des noch recht jungen Gebietes der Normalismusforschung und präsentiert sie als ein interdisziplinäres Unternehmen, an dem Medien- und Literaturwissenschaftler, Soziologen, Philosophen und Historiker gleichermaßen teilhaben. Auch in anderen Disziplinen wie der Kunstgeschichte wäre die Analyse normalistischer Diskurse von Nutzen - hier gibt es noch einiges zu entdecken.

Kein Bild

Ute Gerhard / Walter Grünzweig / Jürgen Link / Rolf Parr (Hg.): (Nicht) normale Fahrten. Faszinationen eines modernen Narrationstyps.
Synchron Wissenschaftsverlag der Autoren, Heidelberg 2003.
232 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 3935025289

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