Philosophie - kinderleicht

Helme Heine, Platon, Locke und Rousseau für gewitzte Metaphysiker

Von Reinhard BrandtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Reinhard Brandt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Man kann für Kinder gar nicht anspruchsvoll genug arbeiten", schreibt Helme Heine, und das erste Heine-Kinder-Büchlein, das mir in die Hände fiel, ist wahrhaft anspruchsvoll. Worum geht es? "Es ist Sommer. Katalinchen fährt in die Ferien zu Tante Nudel, Onkel Ruhe und Herrn Schlau. Tante Nudel kann nur kochen, Onkel Ruhe nur für Ruhe und Ordnung sorgen und Herr Schlau nur in Büchern blättern - meint ein jeder. Katalinchen zeigt ihnen, dass es auch anders geht", und los geht die Lektüre. Wir Erwachsenen wissen eigentlich schon alles, aber zu dem allen gehört einiges, was vielleicht doch nicht alle wissen. Denn in den drei Tätigkeiten von Nudel-Ruhe-Schlau verstecken sich die Platonische "Politeia" und die Ständeordnung, die in Europa bis 1789 herrschte, eine Trinitätslehre ante Christum und post Christum. Da gibt es den unteren Stand, der für die Ökonomie zuständig ist, der in der späteren Ordnung als der dritte Stand galt, der "tiers état"; zu ihm zählten alle, die körperlich arbeiteten und Handel trieben, die wenig galten, alleine Steuern zahlten und am Ende, 1789, alles werden wollten und sollten. Das also ist die Tante Nudel. In der Ordnung der Kardinaltugenden kommt ihr die Bescheidung zu, die "temperantia" oder "modestia": Der dritte Stand soll sich bescheiden, nicht weiter nachfragen und loyal den Oberen gehorchen. Es folgt Onkel Ruhe, denn nach dem Nährstand kommt der Wehrstand, der Stand der Wächter, der nach innen für Ruhe und Ordnung sorgt und das Gemeinwesen nach außen verteidigt. Die zugehörige Tugend ist der Mut, in der Ständeordnung ist es der Adel, der allein zum Tragen von Waffen befugt und verpflichtet ist. Herr Schlau dagegen vertritt in den Kardinaltugenden die Klugheit, in der Polis den Lehrstand, der die politische Verwaltung in Händen hat und die übergreifenden Dinge aus seiner Einsicht bestimmt. Ihr europäischer Erbe ist die Geistlichkeit, die das Buch der Bücher, die Bibel, in Händen hielt, im hebräischen oder griechischen oder lateinischen Text blätterte und verbindlich auslegte, bis Luther eingriff, das Buch der Bücher ins Deutsche übersetzte und es allen zur eigenen Lektüre gab. Das einigende Band der drei Tugenden, der Bescheidung, des Muts und der Klugheit, ist bei Platon die vierte Kardinaltugend der Gerechtigkeit, deren höchstes Prinzip lautet, dass jeder das Seine und nur das Seine tue, keiner also in die Sphäre der anderen eingreife. Der Nährstand darf keine Waffen tragen, die beiden anderen Stände dürfen sich nicht ökonomisch betätigen. In der europäischen Tradition wurde die vierte Tugend, die Gerechtigkeit, durch den König repräsentiert, der als Vierter die Einheit des Ganzen vorstellte und verwirklichte.

Wer heute Hitlerfilme sieht, wird mit einem traurigen Rest der kontinentalen Ständeordnung konfrontiert: Wie konnten so viele Adlige einem schwadronierenden Verbrecher in der deutschen Wehrmacht Folge leisten? Der deutsche, besonders der preußische Adel durfte sich nicht ökonomisch betätigen, wie er es in England konnte; er saß auf den möglichst von einem fernen Ahnen eroberten Gütern und diente dem König im Waffenrock; wer dazu wegen seiner asthenischen Konstitution oder seinen überragenden Geistesgaben nicht taugte, der konnte auch Gelehrter werden. Daher gibt es viele Adlige in der deutschen Geistes- und Gelehrtengeschichte, aber vor 1918 wird man keinen adligen Nudelfabrikanten oder gar Koch in Deutschland finden. Die Offiziersstellen blieben bis in den Ersten Weltkrieg dem Adel vorbehalten, und nach 1918 grübelten sie über ihre Niederlage, bis Hitler ihnen den Eid abnötigte und Satisfaktion versprach. Daher die vielen "von" in seiner Wehrmacht.

In der Kinder-Kultur-Geschichte von Helme Heine ist die Vierte in der 1, 2, 3 / 4-Ordnung nicht ein König, sondern natürlich Katalinchen. Statt mit knarrendem "r" in Katharina, Katharina der Großen, Katharina von Siena, der Heiligen, kommt kindlich labial Katalinchen, die das Prinzip "Jeder das Seine" kurzerhand aufhebt und die geteilte Arbeit wieder vereint; nicht "Jeder das Seine", sondern "Jeder alles". Alle können alles, morgens sind sie Angler und abends Kritiker, wie Karl Marx zu scherzen beliebte. "Down with Plato"! Bevor wir jedoch den Erfolg der platonisch-antiplatonischen Gesellschaftsordnung sehen, endet die erste Woche der Neuschöpfung mit einem wohlverdienten Sonntagsspaziergang der vier Helden des Buches, an dem Kinder sich nicht satt lesen können.

P. S. Xenophon, ein Zeitgenosse Platons, bewunderte den persischen Großkönig, bei dem die Arbeitsteilung in der Küche so weit getrieben war, dass ein einziger Koch nur für die Gewürze zuständig war, ein anderer nur für die Suppen. Wie verlautete, hat sich Tante Nudel wenige Jahre nach der Abreise von Katalinchen um eine Greencard für den Iran beworben, um dort als Köchin tätig zu sein. 55 Bewerbungen, und keine positive Antwort, sondern immer nur: Sie sei nicht ausreichend qualifiziert. Arme Tante Nudel! Wenn sie nicht vor Gram gestorben ist, so kocht sie auch heute noch, sorgt zugleich für Ruhe und Ordnung und hat eine der vielen deutschen Professuren für "Allgemeine Didaktik, Theorie III", inne.

Dank sei Heine, dass er die 1, 2, 3 / 4-Ordnung im Gegensatz zu unseren Suppenkasper-Intellektuellen ernst nimmt und schon den Kleinkindern verkündet. War nicht auch das Christus-Kind der Vierte, der König der Drei Heiligen Könige, die zu ihm kamen, während Katalinchen umgekehrt die drei Verwandten aufsucht?

Der Club der Lebensfreunde

Das Gegenopus trägt den Titel "Der Club". Das bebilderte Lebensbuch von der Geburt bis zum Tod beginnt mit einer Anrede an das neugeborene Kind: "An dem Tag, an dem du geboren wirst, bekommst du drei Freunde", es sind Professor Kopf, Rosi Herz und Dick Bauch. Die drei sorgen oben und in der Mitte und im Magen für die verschiedenen Lebensaufgaben, aber: "Hin und wieder kommt es vor, daß die drei Freunde sich streiten. So etwas kann in der besten Freundschaft passieren. Wenn sie nicht mehr miteinander reden, dann wirst du krank." Da kommt der Doktor und stiftet Frieden. "Und an dem Tag, an dem du stirbst, geht der Club auseinander." Da neuerdings alle Lehrer beschlossen haben, sich wieder mit ihren Schülern zu befreunden, wissen alle Kinder von ihren fleißigen und gebildeten Lehrer-Freunden, wie Helme Heine zu seiner Geschichte gekommen ist. Wieder Platon natürlich, wieder die "Politeia". Da plant Sokrates mit den anderen Gesprächspartnern, zu untersuchen, was eigentlich die Gerechtigkeit ist, und Platon entwirft, wie wir sahen, seine Staatsgesellschaft, um gut sichtbar zu machen, wie die Gerechtigkeit im Großen aussieht; aber das eigentliche Thema ist der Mensch, und seine Seele ist die Polis im Kleinen. Sie zerfällt ebenfalls in drei Teile, oben die Klugheit, das ist hier der Professor Kopf, dann folgt der Mut, wie wir sahen, sie ist hier in die Liebe mutiert, und unten sitzen die Begierden, der Koch Dick Bauch. Wenn es um den Seelenfrieden gut bestellt ist, tun die drei jeder das Ihre; lassen sie davon ab und streiten, kommt es zu einem Aufstand im Menschen, einer "stasis", und die Ordnung verkehrt sich, sodass der Mensch erkrankt. Und unser Viertes? Es ist das Neugeborene selbst, der Mensch als Einheit, der den Club allererst ermöglicht. Heines Schluß mit dem Tod hielt Platon allerdings nicht für zwingend; beim Tod löst der Club sich auf, einverstanden, aber die Frage bleibt bei ihm, ob der Mensch nicht mehr ist als die Harmonie seiner Teile. Und: Wie kommt sie zustande? Haben sich die Freunde einfach so getroffen, wie sie dann sang- und klanglos wieder auseinander gehen? Gibt es nicht einen das Ganze erst ermöglichenden Überhang? Wenn ja, dann gibt es eine Seele, die den Tod überlebt, aber wer will schon solche Gespenstergeschichten hören? Heines Naturalismus, dass die Freundschaft genügt, wird von Platon im "Phaidon" erörtert und abgewiesen. Unsere aufgewachten Lehrer sollten auch diesen Dialog in den Unterricht einbeziehen, damit die Kinder die Welt verstehen lernen. Kant würde dem Neugeborenen einen Brief zustecken: "An dem Tag, an dem du geboren wirst, bekommst du drei Freunde, aber da geht noch alles ähnlich zu wie bei den Tieren. Später trennst du dich von dieser Lebensart und lernst, zu lächeln, zu reden und 'ich' zu sagen. Und dann aufgepasst: Deine Eltern möchten dich lange im Kinderwagen vor sich hinschieben - spring aus dem Karren und lerne rasch, selber zu gehen; bediene dich deines eigenen Verstandes, auch wenn es dir alle schwer machen; lerne, dass du für deinen Kopf, deine Gefühle und deinen Bauch und vieles andere verantwortlich bist, nur so wirst du eine Person. Sei dein eigener Arzt, denke an deine Freunde und sorge dich nicht um den Tod."

Der Fluch der Perle

In der Geschichte "Die Perle" geht es ganz anders zu, kein Platon weit und breit, aber da sind John Locke und Jean-Jacques Rousseau mit von der Partie. Der Biber Biba hat eine Muschel im Wasser gefunden, eine Flussperlmuschel. Nach seinem anstrengenden Muschel-Fund lehnt sich der Biber zurück, schläft ein und träumt von seiner Perle, die wohl in der Muschel steckt. Alle Tiere der Umgebung hören, so träumt er, von dem wunderbaren Besitz und fragen ihn, wo er die Perle wohl gefunden hat. "Im Wald", lügt B. tapfer, weil er besorgt ist, die anderen Tiere könnten so reich werden wie er selbst. So entdeckt er seine Trennung von den anderen und seine Freiheit im Bösen, aber nur als geträumte Pseudo-Sünde. Im Wald, sagte er? Das kann nicht stimmen - im Wasser hat er sie gefunden. "Das ist mein See, ich habe den Staudamm gebaut! Die Muscheln gehören mir!" Aber die Tiere hören nicht auf ihn, es setzt der große Perlenrausch ein, der alles verwüstet, den Biberbau und den Wasserdamm und überhaupt alles Gute und Schöne, sogar das Feuer bricht über dem Wahn der Bereicherung aus - und B. wacht auf vor Schrecken und wirft die Flussperlmuschel in einem großen Bogen zurück ins Wasser. Das wärs, Ende der Geschichte.

Aber der Traum, den der gute Biber nur als Alptraum kennt, wurde von den Menschen verwirklicht. John Locke schreibt im "Zweiten Traktat von der Regierung" über den ursprünglichen Zustand der Menschen, dass die Natur allen ausreichende, wenn auch karge Subsistenzmittel lieferte und sich alle mit dem Naturalientausch zufrieden gaben. Aber dann wurden irgendwann glitzernde Metallstücke gegen Nüsse getauscht, "and Wool for a sparkling Pebble or a Diamond", es entstand die Geldwirtschaft und damit eine neue Form der Ungleichheit unter den Menschen, die nur noch für den Gewinn und nicht mehr für ihre eigenen Bedürfnisse produzieren. Locke begrüßt die Kulturentwicklung, die durch die Geldwirtschaft ermöglicht wird und die einen Reichtum schafft, von dem die Menschen ursprünglich nicht einmal träumen konnten: Je reicher die Reichen werden, desto reicher werden die Armen, lautet die neue paradoxe Devise. In seinem Diskurs "Über die Ungleichheit unter den Menschen" von 1755 klagt dagegen Rousseau: "Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: 'Das ist mein!' und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Not und Elend und wie viele Schrecken hätte derjenige dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: 'Hütet euch, auf diesen Betrüger zu hören; ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass die Früchte allen gehören und die Erde niemandem.'" Das Eigentum trennt die Menschen voneinander und stürzt sie in eine Unglücksgeschichte der Selbstentfremdung und gegenseitigen Abhängigkeit. Helme Heines guter Biba meidet lieber die Kultur und wirft die Perle, die die Tiere im Traum entzweit, zurück ins Wasser. Auch die Schafe, die Katzen und die Papageien, die Einzeller und die Elefanten waren klüger als die Menschen, sie warfen wie der Heilige Franziskus die "sparkling pebbles" und die Diamanten zurück in die Wüste, sie lesen kaum, studieren allenfalls ein wenig Pädagogik und leben bis heute ohne Geld und Globalisierung glücklich vor sich hin. Es wäre alles so einfach gewesen! Hätten die Menschen doch nur auf die Stimme der Natur gehört oder sich durch ihre schlimmen Ahnungen und Träume warnen lassen!

Der Absturz im Rennwagen

Drei ziehen in die Welt hinaus, der Hahn, das Schwein und Johnny Maus. Und da stoßen sie auf einen Bollerwagen, unseren Bollerwagen. "Das ist mein Bollerwagen", sagte Johnny Mauser spitz, "die erste Fahrt mache ich allein." Das kann bei Helme Heine nicht gut gehen, und so stürzt Johnny Maus mit dem Bollwagen tatsächlich einen Abhang hinunter und bleibt unten halbtot liegen. Aber die beiden Freunde nehmen nichts übel und helfen ihm: "Gemeinsam schafften sie ihn nach oben." Die Moral der Geschichte gehört zur alten Freundschaftsethik, die lehrt, dass Freunden alles gemeinsam gehört, so lehren Platon und Aristoteles und mit ihnen die Moralphilosophie insgesamt. Johnny Maus hat gegen dieses Ethos verstoßen, und die natürliche Strafe folgt in dieser wohlgeordneten Welt, in der Natur und Sittlichkeit befreundet sind, auf dem Fuße. Kinder sind jedoch gewitzte Metaphysiker und hören noch mehr heraus: Mache nichts allein, sei kein Grübler, hänge keinen Gedanken nach, die den anderen fremd sind, setze dich in kein Schiff, um herauszufinden, ob die Welt nun eine große Ebene ist oder eine Kugel, das kann nur schief gehen, du wirst sicher abstürzen. Spätere Historiker des Zeitgeistes werden auf Helme Heine stoßen und an ihm den Glanz und das Elend unserer Republik entdecken.

Titelbild

Helme Heine: Tante Nudel, Onkel Ruhe und Herr Schlau. Sonderausgabe.
Middelhauve Verlag, München 1995.
28 Seiten, 5,00 EUR.
ISBN-10: 3787691286

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Helme Heine: Der Rennwagen.
Beltz Verlagsgruppe, Weinheim 2001.
28 Seiten, 6,95 EUR.
ISBN-10: 340777026X

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Helme Heine: Der Club.
Beltz Verlagsgruppe, Weinheim 2003.
32 Seiten, 12,95 EUR.
ISBN-10: 3407770235

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Helme Heine: Die Perle.
Beltz Verlagsgruppe, Weinheim 2003.
o. Pag., 6,95 EUR.
ISBN-10: 3407770626

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch