Literaturkritik, Macht und Geschlecht

Heidelinde Müller untersucht das "literarische Fräuleinwunder" am Beispiel von Karen Duve, Jenny Erpenbeck und Alexa Hennig von Lange

Von Mechthilde VahsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mechthilde Vahsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wir alle haben noch die vielen Fotos, Interviews und Auftritte sowie die Diskussionen in den Feuilletons in Erinnerung, die 1999 mit einem "Spiegel"-Artikel von Volker Hage begannen. Hage setzte sich darin mit der jungen deutschen Literatur auseinander und prägte für eine Gruppe von Autorinnen, die in dieser Zeit debütierten, den Begriff "literarisches Fräuleinwunder".

Heidelinde Müller stellt in ihrer hervorragenden Abschlussarbeit die These auf, dass es sich bei diesem Begriff um eine Etikettierung handelt und nicht um ein literarisches Programm. Sie reiht dieses Beispiel ein in Fragen nach den Mechanismen medialer (Selbst-)Inszenierungen und zieht dafür die Analysekategorie 'Gender' unter Verweis auf Judith Butler und Michel Foucault heran.

Typische Aspekte des "Fräuleinwunders" sind nach Hage: "Spaß an guten Geschichten", keine "Angst vor Klischees und großen Gefühlen", beides lustvoll dargestellt in einem "raffiniert naiv[en]" Stil. Immer wieder betont er Motive der Erotik sowie außerliterarische Aspekte, besonders die weibliche Geschlechtszugehörigkeit der Autorinnen. Diese Kriterien funktionieren jedoch lediglich als Ausschlussmechanismen; es fehlen Bezüge zu literarischen Kategorien, konstatiert Müller. Zudem ist die mit diesem Artikel einsetzende beliebige Verwendung des Begriffs inzwischen inflationär und verweist auf ihre Funktion als Produkt- oder Markenname, mit dem versucht wird, Literatur zu kommerzialisieren und zu inszenieren. In diesem Kontext hat sich die Rolle der Literaturkritik sehr verändert, so Müller, sie wird selbst zum Medienereignis mit "Effektorientierung" und gehört als "Epitext" zu den Paratexten, die nach Genette alle Elemente umfassen, die "zwischen Buch und Öffentlichkeit vermitteln". Auch der Schriftsteller wird in der medialen Inszenierung verändert wahrgenommen, der Trend geht zur Personalisierung, worunter auch die "Fräuleinwunder"-Debatte im Feuilleton fällt. Damit wird nach Müller ein Trend aufgegriffen, der Entwicklungen bezeichnet, die vorher schon existierten.

Was hat es nun mit den außerliterarischen Merkmalen auf sich, die Hage bemüht, und die im weiteren Verlauf des Diskurses immer wieder die Autorinnen nicht als Schreibende darstellen, sondern als Frauen charakterisieren? Hier führt Müller die feministische Analysekategorie 'Gender' und deren begriffliche Entwicklung ein. Zugleich stellt sie Judith Butlers Kritik an der Dualität 'sex' und 'gender' vor und referiert, rekurrierend auf Foucaults Machtbegriff, den Kontext zwischen biologischem Geschlecht, Macht, Konstruktion von Geschlechterstereotypen und Reduzierung von Frauen auf ihr Geschlecht. Über die Etikettierung von Autorinnen als 'Frauen' werden Macht- und Politikpositionen vermittelt, oft geht eine qualitative Minderung der Schreibenden damit einher. Diesen Ausschluss-Strategien lassen sich Abwehr- und Gegenstrategien entgegensetzen, wie sie Butler in der Sprache und ihren Möglichkeiten der Imitation und Travestie sieht.

Vor diesem theoretischen Hintergrund analysiert Heidelinde Müller im zweiten Teil ihrer Arbeit Karen Duves "Regenroman", Jenny Erpenbecks "Tand" und Alexa Hennig von Langes Roman "Relax". In detailgenauen Interpretationen arbeitet sie die Hauptthemen des jeweiligen Romans heraus, benennt die Tendenzen der Rezeption in den Feuilletons und beendet jede Interpretation mit einer Analyse der medialen Selbstinszenierung der Autorin. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass sowohl Duve als auch Erpenbeck sich der Vermarktungsstrategien bedienen, um für sich zu werben. Duve jedoch wählt eine offensive Form der Dekonstruktion, um ihre Medienkritik zu äußern: eine Parallele zur kritischen bzw. hier: ironisch gebrochenen Dekonstruktion von Weiblich- und Männlichkeitsstereotypen in ihrem Roman. Erpenbeck hingegen ist zurückhaltender bei der medialen Inszenierung und setzt auf die literarische Wirkung ihrer Texte. Hennig von Lange hingegen "unterstützt ihre deutlich erotische Inszenierung affirmativ", ohne diesem Bild der naiven jungen Frau eine Alternative gegenüberzustellen.

Müller kommt zu dem Fazit, dass es sich bei dem Begriff "literarisches Fräuleinwunder" tatsächlich um ein Etikett handelt, das sich nicht auf literarische Kategorien bezieht. Obwohl geradezu inflationär verwendet, hatte es keine normativen Konsequenzen für den literarischen Prozess. Zudem ist das Feuilleton in der Zwischenzeit mit anderen Themen beschäftigt - das Label verliert an Farbe und Kontur.

Die Literaturwissenschaftlerin legt mit ihrer überarbeiteten Magisterarbeit eine sehr fundierte, kluge, interessante, gut recherchierte und ambitionierte Arbeit vor. Die Zusammenführung theoretischer Aspekte und Ansätze der neueren Forschung (Genderforschung, Kulturwissenschaften, Literaturtheorie) in Verbindung mit der klaren Fragestellung ist sehr gut, nachvollziehbar und findet im Praxisteil der Arbeit Anwendung.

Der Interpretationsteil ist ebenso von Klarheit im wissenschaftlichen Ausdruck und logischem Aufbau geprägt. Anhand des Rasters: Stoffe und Themen des Romans, Rezensionstendenzen, mediale Inszenierung der Autorin, deren Selbstinszenierung und über den Vergleich kommt sie zu Aussagen und Erkenntnissen über die geschlechtsspezifische Rezeption von Literatur. Müllers Untersuchung ist ein wichtiger Beitrag zu diesem Forschungsgebiet.

Ein Hinweis an den Verlag sei abschließend noch erlaubt: Die vielen Fehler sind äußerst störend beim Lesen.

Titelbild

Heidelinde Müller: Das "literarische Fräuleinwunder". Inspektion eines Phänomens der deutschen Gegenwartsliteratur in Einzelfallstudien.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
135 Seiten, 27,50 EUR.
ISBN-10: 3631513593

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