Der andere Schiller

Der Materialismus des Idealisten

Von Walter HindererRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Hinderer

In seinen immer noch beachtenswerten "Zwölf Reden über die Beredsamkeit und deren Verfall in Deutschland" rühmte Adam Müller den Weimarer Klassiker aus Marbach 1812 als den "größten Redner der deutschen Nation" und merkte an: Schiller habe die dichterische Form nur gewählt, "weil er gehört werden wollte und weil die Poesie eine Art von Publikum hatte, die Beredsamkeit aber keines". In der Tat: bereits auf der Hohen Karlschule, die er auf Grund eines Befehls des Herzogs von Württemberg besuchen mußte, demonstrierte er früh, wie seine Festreden beweisen, ein besonderes Geschick in der Kunst der Rhetorik. Er zog hier schon gegen jede Art von Herrschsucht und Despotismus zu Felde, obwohl zu den direkten Adressaten der Herzog Karl Eugen und die Gräfin Franziska von Hohenheim gehörten. Bald darauf verlegte Schiller seine politisch-öffentliche Wirkung auf die Schaubühne und verkündete 1784 in Mannheim nicht ohne Herausforderung: "Die Schaubühne ist mehr als jede andere öffentliche Anstalt des Staats eine Schule der praktischen Weisheit, ein Wegweiser durch das bürgerliche Leben, ein unfehlbarer Schlüssel zu den geheimsten Zugängen der menschlichen Seele". Er machte die Demaskierung und Entlarvung politischer Missmenschen á la Franz von Moor, Fiesco und Gianettino, Präsident von Walter und Sekretär Wurm in "Kabale und Liebe", König Philipp und Alba in "Don Carlos", Gessler im "Wilhelm Tell" bis hin zu den differenzierten Fällen Wallenstein und Elisabeth ("Maria Stuart") zu seinem Geschäft. Von daher wird auch ohne weiteres verständlich, daß er in seiner imponierenden Schrift "Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen", in welchen er indirekt seiner Enttäuschung über die blutigen Exzesse der Französischen Revolution ausspricht, programmatisch formuliert, daß man, "um jenes politische Problem" des Zeitalters "in der Erfahrung zu lösen, durch das ästhetische den Weg nehmen muß".

So wie der Dramatiker Schiller alle Handlungen auf die Person zurückführt, so schließt er bei der Bewertung politischer Regierungen, Institutionen und Gesellschaften zurück auf die Beschaffenheit der Individuen. Die französischen Revolutionäre haben seiner Ansicht nach den großen geschichtlichen Augenblick auf Grund ihrer persönlichen Defizite versäumt. Er hält deshalb am Ende des vierten Briefes unmißverständlich fest: "Totalität des Charakters muß also bei dem Volke gefunden werden, welches fähig und würdig sein soll, den Staat der Not mit dem Staat der Freiheit zu vertauschen". Schiller führt allerdings nicht nur Defizite in der Politik, sondern ebenso in der Kunst auf persönliches Versagen zurück, womit er sowohl der Politik als auch der Kunst ein hohes Ziel setzt. Aber er neigt von Anfang an zu solchen idealischen Bestimmungen, wie seine erste Dissertation veranschaulicht, bei der es gleich zu Anfang heißt: "Gottgleichheit ist die Bestimmung des Menschen". Schiller setzt so hoch ein, weil er als geschulter Mediziner und auf Grund eigener negativer Erfahrungen nur zu gut das Gegenteil kannte. Noch im Jahre 1788 berichtet er in einem Brief an Ferdinand Huber von einem Charakterzug, den er "aus der großen Verwüstung" seines Wesens "noch gerettet habe", seine "Bonhommie", und er erläutert seinen momentanen Zustand als eine "fatale fortgesetzte Kette von Spannung und Ermattung, Opiumsschlummer und Champagnerrausch".

Immer wieder werden bei Schiller die idealistischen Aufschwünge von manisch-depressiven Phasen und einem düsteren Skeptizismus abgelöst und kippt die optimistische Philosophie in eine Philosophie des Zweifels und der Verzweiflung um. Er, der seinem Körper das Letzte abverlangt hat und ein Großteil seines Lebens leidend war, nahm nicht selten Zuflucht zu Stimulantien aller Art: zu Tabak, Likör, Schokolade, Champagner und Kaffee. Wie die Sektion nach seinem Tode zeigte, lebte er schon lange am Rande seiner physischen Existenz; es war nicht nur "der linke Lungenflügel völlig zerstört, die Herzkammern verwachsen, die Leber verhärtet, die Gallenblase unnatürlich ausgedehnt", sondern es war "eigentlich kein Organ mehr funktionsfähig". Umso erstaunlicher ist es, was sich dieser Willensmensch in diesen beschwerlichen Jahren an intellektuellen und dichterischen Hochleistungen abgerungen hat: die Dramen von den "Räubern" bis zum "Tell", die Prosa, die lyrischen, historischen und philosophischen Werke. "Es ist nicht leicht, zu enden, wenn man von Schillers spezifischer Größe einmal zu reden begonnen hat", so schwärmt Thomas Mann in seinem immer noch lesenswerten "Versuch über Schiller" und gesteht gleichzeitig, daß er sich vor dieser Grandiosität nicht ein gelegentliches Lächeln verbeißen kann. Er meint das "Ewig-Knabenhafte", das Kindlich-Naive, das ihn ebenso charakterisiert wie das Sentimentalisch-Intellektuelle, diese "Lust zum höheren Indianerspiel, am Abenteuerlichen und psychologisch Sensationellen, an der Plutarch-Biographie des Extremen, ungeheurer Tugend und erhabenen Verbrechens".

Schiller hatte ein nahezu skandalöses Faible "für die Annalen menschlicher Verirrungen und seltener Verderbnisse des Charakters". In einem Brief an seinen Freund Körner (29.8.1787) spricht er davon. Er legt hier die Gründe dar, warum ein Bekannter mit einem "kalten, klar sehenden tiefen Verstand", aber armer und enger Phantasie nie sein Freund werden könne. Die Erklärung und Argumentation ist ebenso überraschend wie originell: "Er wird sich nie zu kühnen Tugenden oder Verbrechen, weder im Ideal noch in der Wirklichkeit, erheben, und das ist schlimm. Ich kann keines Menschen Freund sein, der nicht Fähigkeit zu einem dieser beiden oder zu beiden hat". Man braucht nur die Novelle "Verbrecher aus verlorener Ehre", die Monologe Franz von Moors in den "Räubern" oder den Roman "Die Geisterseher" zu lesen, um zu begreifen, wie töricht das Etikett vom "Moral-Trompeter von Säckingen" ist, das der Pfarrersohn Nietzsche dem vielseitigen Dialektiker Schiller angehängt hat. Schon der jugendliche Revolutionär der Hohen Karlsschule zu Stuttgart wollte mit seinem ersten Drama nach seinen eigenen Worten "ein Buch machen, das aber durch den Schinder absolut verbrannt werden muß". Diese Kraftworte gab er allerdings auch in seiner sogenannten klassischen Phase in Weimar nicht auf. Als dort ruchbar wurde - wie man hörte: auf Betreiben des General-Superintendenten Herder -, daß Schiller in seiner "Maria Stuart" sich nicht scheute, seinem protestantischen Publikum ein katholisches Abendmahl zuzumuten, schrieb ihm der Weimarer Herzog Carl August einen durchaus gemäßigten Brief, auf den Schiller, wie der Schauspieler Friedrich Johann Jakob Heide kolportiert, allerdings dergestalt wütend reagierte, daß er seinen Kritikern drohte: "Ich will ein Stück schreiben, worin eine genotzüchtigt wird und - sie müssen zusehen".

Schiller waren extreme Ausdrücke ebenso wenig fremd wie pointierte erotische Metaphorik. Als Goethe sich bei den ersten Begegnungen in Weimar ihm gegenüber eher kühl verhielt, giftete Schiller in einem Brief ausfällig: "Ich betrachte ihn wie eine stolze Prüde, der man ein Kind machen muß, um sie vor der Welt zu demütigen". Selbst in die Definition von Liebe und Freundschaft, Werte, die ja ansonsten einen hohen Stellenwert bei Schiller einnehmen, kann zuweilen ein gerüttelt Maß an Gewalttätigkeit eindringen. Bezeichnet er in der "Theosophie des Julius" Liebe als Leiter zur Gottähnlichkeit, so bestimmt er in einem Brief an seinen späteren Schwager Reinwald (14.4.1783) Liebe als den ewigen, inneren Hang, "in das Nebengeschöpf überzugehen, oder dasselbe in sich hineinzuschlingen, es anzureißen". Ferdinand von Walther in "Kabale und Liebe" und Mortimer in "Maria Stuart" praktizieren diese Auffassung allerdings nicht ungestraft, was nur heißen kann, daß sie dann doch wieder einer Kritik unterzogen wird. Schiller neigte von Jugend an zur Parallelisierung und Konfrontation von Extremen und scheute nicht davor zurück, gegen die Konventionen und das sittliche Empfinden seiner Zeit zu verstoßen. Er hatte zweifelsohne etwas Übersteigertes an sich wie seine Jugendhelden und lebte nach seiner keineswegs ungefährlichen Flucht leichtsinnig wie ein Bohemien. Der scharfe analytische Verstand wurde nicht selten überdeckt von einer ebenso überhitzten und zügellosen Phantasie. Bei aller Intellektualität besaß er eine bemerkenswerte sinnliche Leidenschaft, die ihm nicht wenig zu schaffen machte. Von seinen Affären wurde am bekanntesten die mit der üppig-schönen, schwärmerischen Charlotte von Kalb, die ihn auch in das Weimar Goethes, Wielands und Herders einführte. Nichtsdestoweniger schrieb er am 9. März 1789 in seiner schwäbischen ebenso direkten wie neckischen Manier an seinen Freund Körner: "Könntest Du mir innerhalb eines Jahrs eine Frau von 12000 Talern verschaffen, mit der ich leben, an die ich mich attachieren könnte, so wollte ich dir in fünf Jahren - eine Frideriziade, eine klassische Tragödie und, weil du doch so darauf versessen bist, ein halb Dutzend schöner Oden liefern - und die Akademie in Jena möchte mich dann im Arsch lecken". Gewiß, das ist nicht ganz ernst zu nehmen und wendet sich gezielt gegen die Vorbehalte seiner Freunde Minna und Gottfried Körner, denen seine Liaisonen zutiefst suspekt waren. In demselben frivolen und neckischen Ton und im Bewußtsein seiner chronischen Schuldenlasten schrieb er dann am 28. Mai, als er schon mit den Schwestern Lengefeld in einer vertrauten Beziehung stand: "Weißt du mir übrigens eine reiche Partie, so schreibe mir immer; entweder sehr viel Geld oder lieber gar keins und desto mehr Vergnügen im Umgang".

Man spricht zwar häufig von Schillers Spiritualismus und seinem Asketentum, von seiner Willensstärke und seinem übersteigerten Idealismus, aber nicht von seinem deftigen Sensualismus, dessen Temperatur noch in seiner nervösen, energiegeladenen Sprache zu messen ist. Immerhin beobachtet Thomas Mann in seinem "Versuch über Schiller" "die pueril prahlende Sinnlichkeit" seiner Frauengestalten, "eine Erotik, die sich so recht mondän und ausgepicht gebärdet". Doch es sind sicher nicht nur abstrakte Männerphantasien, wenn Schiller seine Leonore, die Frau des Fiesco, dessen Flirt mit ihrer Nebenbuhlerin Julia Imperiali so beschreiben läßt: "und das emsige Wechselspiel ihrer Augen? Das ängstliche Lauren auf ihre Spuren? Der lange verweilende Kuß auf ihren entblößten Arm, daß noch die Spur seiner Zähne im flammroten Fleck zurückblieb?" Das angebliche politische Spiel des Pseudo-Epikureers Fiesco hat offensichtlich einen gar nicht so unernsten Subtext. Als Julia von Fiesco einmal im Negligé überrascht wird, kommentiert dieser ebenso übermütigt wie chauvinistisch: "Das Frauenzimmer ist nie so schön als im Schlafgewand, es ist die Tracht seines Gewerbes". Er beschäftigt sich gar an ihrem Busen, wie es in der Regieanweisung heißt, und merkt vorlaut an: "Die Sinne müssen immer nur blinde Briefträger sein und nicht wissen, was Phantasie und Natur miteinander abzukarten haben". In der Tat: das alles "ist leichtfertig", wie Julia erwidert, sogar skandalös leichtfertig. In diesen Zusammenhang gehört auch der Musikus Miller, der die erotischen Qualitäten seiner Tochter dergestalt beschreibt: "Das Mädel ist schön - schlank - führt seinen netten Fuß. Unterm Dach mags aussehen, wies will. Darüber guckt man bei euch Weibsleuten weg, wenns nur der liebe Gott parterre nicht hat fehlen lassen". Ebenfalls leichtfertig und leicht anstößig, wenn auch beim Vater die Replik aus der Sorge hervorgeht, daß es ein Adeliger ist, der seiner Tochter den Hof macht. Er bringt die Sache, den Vorgang polternd auf diese pointierte Formel: "Auf den Sack schlägt man; den Esel meint man. Wer einen Gruß an das liebe Fleisch zu bestellen hat, darf nur das gute Herz Boten gehen lassen".

Kein Zweifel: kaum ein anderer Dramatiker deutscher Sprache verfügt über Schillers glänzende Meisterschaft der Sentenz und erfindet dergestalt geistreiche Schlüsse wie: "dem Mann kann geholfen werden" ("Die Räuber"), oder "Dem Fürsten Piccolomini" ("Wallensteins Tod") oder "Der Lord läßt sich / Entschuldigen, er ist zu Schiff nach Frankreich" ("Maria Stuart"). Der deutsche Shakespeare, wie ihn manche seiner Zeitgenossen genannt haben, hat sich ein zündendes Theater-Idiom erfunden, "unverwechselbar nach Tonfall, Gebärde und Melodie, sofort als das seine zu erkennen", wie Thomas Mann rühmt: "das glänzendste, rhetorisch packendste, das im Deutchen und vielleicht in der Welt je erfunden worden, eine Mischung von Reflexion und Affekt, des dramatischen Geistes so voll, daß es schwer ist seither, von der Bühne zu reden, ohne zu ,schillerisieren'".

Daß diese Sprache selbst im Ausland heute noch zu triumphieren vermag, beweist die Besprechung einer Aufführung im Juli 2002 von Schillers "Maria Stuart" an der Brooklyn Academy of Music durch das Schwedische Königliche Theater. Es handelt sich um eine Inszenierung von Bergman, der gerade die oft unterdrückten sensualistischen Qualitäten des Stücks betonte. Man muß sich vorstellen: die Schauspieler sprechen schwedisch, während die Rezensentin und das Publikum mit Hilfe ihrer Kopfhörer der englischen Übersetzung der Repliken lauschen, eines Stückes, das ursprünglich immerhin auf Deutsch in fünfüßigen Jamben geschrieben wurde. Hinzu kommt, daß Schiller im Gegensatz zu Goethe ein fast unbekannter Dichter in den USA geblieben ist, was die Bewunderung der Rezensentin ("New York Times", June 30, 2002) nur noch überzeugender macht. Sie schreibt nahezu enthusiastisch: "Ich habe nie ,Maria Stuart' gelesen, und was für ein großes Werk ist es doch. Historie, dichterische Erfindung, Rhetorik, Poesie, gehäufte Leidenschaft, komplexe politische Debatten, alles ist hier vorhanden, großartig geformt und strukturiert". Gegen Ende ihrer Besprechung bringt sie ihren Eindruck dann ebenso lakonisch wie pointiert auf diesen Nenner: "von der Inszenierung war ich beeindruckt, aber das Stück überwältigte mich".

Obwohl Schiller seine "Maria Stuart" nach der "Euripidischen Methode", also klassisch anlegte, wie er Goethe am 24. 4. 1799 mitteilt, ist es thematisch ein durchaus modernes Drama. Zwar handelt es sich bei der zentralen Begegnung von Maria und Elisabeth (III, 4) um einen erotischen Wettstreit der beiden Königinnen, aber es geht in dem Stück gleichermaßen um die Legalität der politischen Macht und die partriachalischen Rollenzuschreibungen einer Welt, die immer noch von Männern bestimmt und beherrscht wird. Während der einen die "Frauenkrone" zugesprochen wird, muß die andere in eine männliche Verhaltenweise schlüpfen, also eine "Männerkrone" anlegen, um die Herrschaft zu sichern. In beiden Fällen kommt es zu Defiziten: während die eine ihren Triebwünschen folgt und die Herrschaft verliert, muß die andere ihre Sexualität unterdrücken, um an der Macht zu bleiben. "Die Könige sind nur Sklaven ihres Standes", klagt deshalb Elisabeth zu Recht, "Dem eigenen Herzen dürfen sie nicht folgen", und merkt an, daß sie regiert "wie ein Mann und wie ein König" (II, 2). Maria dagegen wird schließlich ein Opfer ihrer Sinnenlust und ihr zum Schaden zu einem erotischen Objekt der feindlichen Männerwelt. Ihre Amme Kennedy spricht sogar, wenn auch entschuldigend, von dem "Wahnsinn" ihrer "blinden Liebesglut", der sie dem "furchtbaren Verführer" unterjocht hat (I, 4), und Maria kann dem nur noch zustimmen: "Seine Künste waren keine andere, / Als seine Männerkraft und meine Schwachheit". Genau besehen, sind sowohl die männliche Elisabeth als auch die weibliche Maria Opfer der Männerwelt, was sich nicht zuletzt in dem Doppelspiel von Leicester zeigt. Nicht ohne Bitterkeit bemerkt Elisabeth: "Der Stuart wards vergönnt, / Die Hand nach ihrer Neigung zu verschenken, / Die hat sich jegliches erlaubt, sie hat / Den vollen Kelch der Freuden ausgetrunken". Sie spricht hier in Gegenwart ihres Günstlings Leicester (II, 9) erstaunlich unkonventionell einen Sexualneid aus, der psychologisch dann ihre Agressivität in der Konfrontation mit Maria motiviert. Sie durfte sich "der Erde Lust" nicht freuen wegen "strenger Königspflichten", während die andere sich ausleben konnte, und sie wettert gegen die Männer, die um die Gunst solcher Frauen buhlen. "Lüstlinge sind sie alle!", so fährt es aus ihr heraus, "Dem Leichtsinn eilen sie, der Freude zu, / Und schätzen nichts, was sie verehren müssen".

Man sieht, daß die Männerrolle nicht nur Elisabeth in ihrem Selbstverständnis beschädigt hat, sondern daß sie in ihr nicht aufgehen kann, weil sie sich eben doch andererseits zu sehr als Frau fühlt. So wenig sie sich einem Manne opfern will und sei es selbst aus Staatsräson einem König von Frankreich, so sehr leidet sie an der ihr aufgedrungenen Zwitterrolle. Das veranschaulicht Schiller auch in dem Spiel der Meinungen ihrer oft recht eigenwilligen Räte, in dem die Ratsuchende durchaus ratlos scheint. Sie unterschreibt zwar das Todesurteil der Maria Stuart, möchte sie aus dem Weg geräumt wissen, ohne allerdings verantwortlich für ihren Tod zu sein, und sie macht deshalb auch ihre an sich eindeutige schriftliche Entscheidung mit ihren undurchsichtigen Worten zweideutig. Sie händigt zwar das Dokument dem verweifelnden, unerfahrenen Staatssekretär Davison aus, überläßt aber die Handlungssanweisung dem Ratschluß des Subalternen. Je mehr Maria Stuart im Laufe der Handlung an innerer Freiheit und Souveränität gewinnt (V, 7, 8), desto mehr verliert Elisabeth in moralischer und menschlicher Hinsicht (V, 14, 15). Die äußere Apotheose Marias am Schluß des Dramas, in der Schiller Schönheit und Anmut im romantischen Sinne religiös verklärt, führt bei der Protestantin Elisabeth zu einem inneren Tiefstand und zu einer Erniedrigung. Im Stück selbst schlägt immer wieder das Private und Persönliche, das Erotische und Religiöse, das Sensualistische und Spiritualistische, ins Öffentliche und Politische um. Bei beiden Frauen kommt es deshalb immer wieder zu Verlusten. Im vierten Akt (IV, 9) spricht Elisabeth sogar ihren Herrschaftsüberdruß aus und verkündet: "Ich bin des Lebens und des Herrschens müd". Sie will sich in Woodstocks "stille Einsamkeit" zurückziehen, wo sie fern "vom Tand der Erdengröße" die "Hoheit" in sich selber fand. Es spricht sich hier die Empfindung einer Ohnmacht aus, die sie depressiv stimmt und in ihr den Zweifel an ihrer Herrscherfähigkeit erweckt. Solche Umschwünge vom Öffentlichen ins Private, vom Willen zur Macht zum Selbstzweifel sind in Schillers Dramen nicht selten. Es führt beispielsweise in den "Räubern", in der idyllischen Szene an der Donau (III, 2) zu der pessimistischen Bestandsaufnahme Karl von Moors, die im Gegensatz zu der hohen Bestimmung des Menschen in der Dissertation steht. Statt Gottgleichheit sieht Moor im "bunten Lotto des Lebens" nur Nieten. Und in der "Jungfrau von Orleans" (1802) wird der englische Feldherr Talbot lebenspessimistisch verkünden:

Bald ist's vorüber und der Erde geb ich,
Der ewgen Sonne die Atome wieder,
Die sich zu Schmerz und Lust in mir gefügt -
Und von dem mächtigen Talbot, der die Welt
Mit seinem Kriegsruhm füllte, bleibt nichts übrig,
Als eine Handvoll leichten Staubs. - So geht
Der Mensch zu Ende - und die einzige
Ausbeute, die wir aus dem Kampf des Lebens
wegtragen, ist die Einsicht in das Nichts,
Und herzliche Verachtung alles dessen,
Was uns erhaben schien und wünschenswert -

Eine überraschende Replik aus der Feder eines sogenannten Idealisten, der eben gleichzeitig nicht nur ein großer Realist war, sondern auch, wie schon die spezifischen Repliken Franz von Moors in den "Räubern" signalisieren, ein ebenso kenntnisreicher Materialist. In einem Distichon hat er vielleicht nicht gerade Karl Marx, aber gewiß Bertolt Brecht vorweggenommen, der schon in seiner Augsburger Jugendzeit ein anderer Schiller werden wollte. Das Distichon, von dem hier die Rede ist, lautet:

Würde des Menschen
Nichts mehr davon, ich bitt euch. Zu essen gebt ihm, zu wohnen,
Habt ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde von selbst.