Die Könige von Deutschland

Ein Aufsatzband beschäftigt sich mit den deutschlandpolitischen Vorstellungen von Intellektuellen und Künstlern in den dreißiger und vierziger Jahren

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Nur damit wir nicht vergessen, worum es eigentlich geht: 'Deutschland', d. h. einen Staat dieses Namens, hat es gegeben von 1871 bis 1945, ein Menschenalter lang. In dieser Zeit hat der Staat Deutschland zweimal einen Krieg um die Weltmacht geführt, ist schuldig geworden am Tode von Abermillionen von Menschen, die in diesen Kriegen oder in zivilen Massenmorden getötet wurden. Die Ausrottung der jüdischen Bevölkerung Europas gelang Deutschland fast vollständig. Gibt es einen einsehbaren Grund, Deutschland - ganz gleich in welchen Grenzen - wieder herzustellen? Nein; es nennt übrigens auch niemand überhaupt einen Grund."

Diese feste Überzeugung äußerte der Hamburger Literaturprofessor Jan Philipp Reemtsma im Januar 1990, also aus Anlass der in greifbare Nähe gerückten Wiedervereinigung Deutschlands, in der "Konkret". In seinem kritischen Artikel erinnerte Reemtsma daran, dass die "Liebe zu einem Land (nicht zu einer Landschaft) [...] letztlich die Liebe zu einer Umrisszeichnung auf der Landkarte" sei. Darauf führte er in seinem Text aus, dass es sich beim Nationalismus, psychoanalytisch gesprochen, um eine Zwangsneurose handele, die Wahnvorstellung eines Psychotikers.

Klare Worte, an deren Gültigkeit auch heute nicht zu zweifeln ist. Geändert haben sich allerdings die Zeiten - und damit auch das, was man die öffentliche Meinung nennt. Sie hat Deutschland nach 1990 sehr schnell wieder "hergestellt" und bemüht sich seit Jahren, dafür auch alle möglichen Gründe aufzuzählen. Die zurückeroberte "Normalität" der wiedervereinigten deutschen Nation ist in aller Munde. Und wer es heute noch wagt, Reemtsmas Standpunkt von 1990 öffentlich zu äußern, wird sofort als radikaler "Miesmacher" abgestempelt. Man unterstellt ihm das Verharren in "ideologischen Denkweisen" der siebziger Jahre.

Kurz: Von Deutschland zu reden, ist wieder in, es liegt im Trend. Da verwundert es nicht, dass auch die Germanistik sich des Themas heute besonders gerne wieder annimmt.

Paradigmatisch ist die nunmehr im Göttinger Wallstein-Verlag von dem Mainzer Literaturwissenschaftler Gunther Nickel herausgegebene Publikation "Literarische und politische Deutschlandkonzepte 1938-1949". Der voluminöse Band versammelt eine Vielzahl von Vorträgen, die im Rahmen eines von der Fritz-Thyssen-Stiftung für Wissenschaftsförderung und der Evangelischen Akademie in Tutzing finanziell unterstützten und im Literaturarchiv zu Marbach 2003 durchgeführten Symposiums gehalten worden sind.

Darunter findet sich übrigens auch ein Beitrag Reemtsmas, in dem der Vorsitzende der Arno-Schmidt-Stiftung in Bargfeld über "Arno Schmidts Nachkriegsdeutschland" referiert. Handelt es sich bei diesem Beitrag noch um eine Einführung in Schmidts weitgehend konzeptlos, weil durchaus widersprüchlich erscheinende Polemik gegen die Nation "als Zwangsgemeinschaft, die man allenfalls verhöhnt" - "die eine Hälfte ist irre, die andere nich ganz bei Groschn", zitiert Reemtsma Schmidt -, so scheinen der Herausgeber und auch einige der im Band sonst noch vertretenen Beiträger die Gelegenheit durchaus als Aufforderung zu einer eher revisionistischen Herangehensweise an das Thema "Deutschland" aufgefasst zu haben.

"Welches Maß an Zustimmung besaß die Politik Hitlers während der NS-Zeit tatsächlich, und welche kollektive Verantwortlichkeit ergibt sich daraus?", fragt Nickel in seinem Editorial rhetorisch. "Lässt sich in einem Land ein politischer Neuanfang initiieren, wenn man seiner Bevölkerung eine ausschließlich negative Identität zumutet? Kann mit einer Besatzungsarmee eine politische 'Reorientierung' bewirkt werden oder ist sie nicht ein - zumal von außen - kaum steuerbarer Prozess, der mindestens einen Generationswechsel erfordert?"

Dass etwa die Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee am 27. Januar 1945 wohl kaum ein Ereignis war, auf das man besser einen "Generationswechsel" lang im Vertrauen darauf hätte warten können, dass die Kinder der NS-Henker es einst besser wissen und sich moralisch auf, sagen wir, christliche Werte zurückbesinnen würden, dürfte sich mittlerweile selbst bis zur Evangelischen Akademie Tutzing herumgesprochen haben.

Dennoch versucht der saarländische Literaturwissenschaftler Günter Scholdt in seinem Eröffnungsbeitrag "Was soll nur aus diesem Deutschland werden? Stellungnahmen deutschsprachiger Schriftsteller zwischen 1938 und 1949" alles, was man über seine Titelfrage bisher an negativen Antworten lesen konnte, von einem bejahenden Standpunkt aus zu kritisieren.

Scholdt wettert gegen die angebliche "öffentliche Zwangszerknirschung" und die "ideologiekritische Dauerlarmoyanz" des heutigen Deutschlands. Er verwahrt sich gegen die "germanophobe Sozialanthropologie" und den "Negativmythos alles Deutschen", den Emigranten wie der jüdische Erfolgsautor Emil Ludwig im US-amerikanischen Exil während des Zweiten Weltkriegs verbreitet hätten. In einer Fußnote, in der Scholdt beklagt, "unter amerikanischen Juden" habe es ein "spezifisches Milieu" gegeben, das "(z. T. bis heute) deutschlandskeptische Anpassungszwänge ausübte", ist für ihn in seiner Kritik Ludwigs klar: "Die Abstammung dürfte nicht ohne Einfluss auf die Radikalität seiner Auffasssungen gewesen sein."

Damit nicht genug. Thomas Mann taucht bei Scholdt aus einer wiederbelebten Perspektive der so genannten Inneren Emigration als antideutsches Schreckgespenst auf, das von einem "Super-Versailles" träumte und empörenderweise forderte, "je nach Laune mal eine, mal eine halbe Million NS-Deutsche zu liquidieren".

Ernst Jüngers Äußerungen zur Deutschlandfrage erscheinen Scholdt dagegen in weit positiverem Sinne zitierfähig; auch glaubt er, mit erhobenem Zeigefinger daran erinnern zu müssen, "dass bald weniger (die) Emigranten als die in Deutschland gebliebenen Schriftsteller in akute Lebensgefahr gerieten, nicht zuletzt im stetig eskalierenden Bombenkrieg". Natürlich folgt hier die erleichterte Feststellung auf dem Fuße, dass jüngste Publikationen wie Jörg Friedrichs revisionistischer Bestseller "Der Brand" die Zeitgenossen gegenüber dieser "fundamentalen Erlebnisdifferenz [...] vielleicht stärker sensibilisiert haben als früher".

Dass vielmehr die Missachtung der "fundamentalen Erlebnisdifferenz" zwischen den seit jeher mit anklagendem Aplomb hochgerechneten Kriegsleiden der Deutschen und den weit größeren, dabei aber keineswegs selbst verschuldeten ihrer (jüdischen) Opfer das Hauptproblem "literarischer Deutschlandkonzepte" war, wie etwa die instruktiven Bücher und Aufsätze Stephan Braeses, Klaus Brieglebs und auch Jörg Drews' in den letzten Jahren eindrücklich unterstrichen haben, interessiert Scholdt dagegen nicht.

Auch der "historisierende" Beitrag der kalifornischen Professorin Dagmar Barnouw schlägt, wenn auch eleganter, in dieselbe Kerbe. Sie beschäftigt sich mit der nationalsozialistischen "Reichsidee". Dabei versucht sie zu verstehen, warum intellektuelle Leitfiguren wie der SS-Germanist Hans Ernst Schneider, der nach dem Krieg zum "linksliberalen" Aachener Literaturprofessor Hans Schwerte wurde und sich erst im hohen Alter selbst enttarnte, "vor allem im Frühstadium des 'Dritten Reichs', in mancher Weise Idealisten waren, nämlich in der Hoffnung befangen, dass sie trotz der Exklusivität dieser Utopie für ein besseres Leben für mehr Menschen arbeiteten".

Vielleicht sollte man Barnouw daran erinnern, dass Intellektuelle wie Schneider alias Schwerte im "Dritten Reich" durchaus früh genug hätten erkennen können, dass ihre "idealistische Utopie" derart "exklusiv" war, dass sie deutschen Menschen ein "besseres Leben" bescheren sollte, indem man alle anderen umbrachte oder versklavte. Zu "verstehen" gibt es daran nur insofern etwas, als man den mörderischen Opportunismus solcher Männer wie Schwerte auch heute zu kritisieren hat, will man nicht einer möglichen Wiederholung von Auschwitz im Rahmen kommender "historisierter" Deutschlandkonzepte Tür und Tor öffnen.

Positiv hebt sich dagegen der Aufsatz des Berliner Literaturwissenschaftlers Gregor Streim über Ernst von Salomons selbstgerechten Nachkriegsbestseller "Der Fragebogen" (1951) ab. Der ehemalige Freikorpskämpfer Salomon mokierte sich in seinem Buch auf über 800 eng bedruckten Seiten über die alliierten Methoden der "Entnazifizierung". Schriftsteller wie er oder auch der nationalistische Rechtsphilosoph Carl Schmitt, dem ebenfalls ein merkwürdig unkritisch anmutender Beitrag des Bands gewidmet ist, inszenierten sich nach dem Krieg als waidwunde "Opfer" einer allumfassenden "Gesinnungskontrolle" der alliierten "Okkupanten".

Streim gelingt es mit seiner Beschreibung der öffentlichen Debatte um Salomons umstrittene Polemik, ein aussagekräftiges Bild der erinnerungspolitischen Verfasstheit und der kontroversen Schulddebatten in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu zeichnen. Vor allem wird in seinem Beitrag deutlich, dass unter der "Besatzungsmacht", die den Deutschen in den Augen vieler Konservativer angeblich ihre freie Meinungsäußerung verbat, selbst so belasteten Gestalten wie Samolon und ihren begeisterten Apologeten die "Möglichkeit massiver Kritik an der Entnazifizierung und Reeducation" eingeräumt wurde.

Wenn Nickels Sammelband eines zeigt, dann ist es die Notwendigkeit der genaueren Erforschung der immer noch vernachlässigten Emigrantenperspektive auf ein Land, das heute versucht, zur politischen "Normalität" zurückzukehren und den klassischen Nachkriegsdiskurs seiner "historischen Verantwortung" im Dienst einer neuerlichen weltpolitischen Einflussnahme zu modifizieren. Sich in derartige geschichtspolitische Strategien eben nicht einbinden zu lassen, sondern sie kritisch zu durchleuchten, wäre Aufgabe einer Germanistik, die aus den hier dargestellten Nachkriegsdebatten lernen wollte.

Titelbild

Gunther Nickel (Hg.): Literarische und politische Deutschlandkonzepte 1938-1949. Beiträge zu einer Tagung des Deutschen Literaturarchivs Marbach und der Evangelischen Akademie Tutzing in Verbindung mit der Adorno-Schmidt-Stiftung und der Carl-Zuckmayer-Gesellschaft.
Wallstein Verlag, Göttingen 2004.
480 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-10: 3892447217

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