Grenzgängerin mit intelligentem Pathos

Über Susan Sontag

Von Elisabeth BronfenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Elisabeth Bronfen

Sie war eine Amerikanerin, wie man sie in Europa gerne hörte: Kritisch gegenüber dem Kapitalismus, den sie eine Ideologie der Selbstsucht und einen falschen Individualismus nennt, weil er das eigensüchtige Handeln in einem bisher ungeahnten Ausmaß den meisten Leuten völlig akzeptable, selbstverständlich und vernünftig erscheinen lässt. Sie verdammte Patriotismus und Nationalismus als Kitsch und behauptete von sich, Außenseiterin zu sein sei ihr Job, denn die USA bräuchten heute mehr denn je Skeptiker, die unangenehme Fragen stellen. Weil für sie Selbstzensur die schlimmste und gefährlichste Form der Zensur darstellte, kritisierte sie vehement jegliche Jihad Sprache - egal ob diese von der Bush-Administration geäußert wurde oder von fundamentalistischen Islamisten. Gleichzeitig hat sie immer ihre Europhilie hervorgehoben, die sich von der ethischen Ernsthaftigkeit der europäischen Literatur nährt, von deren Innerlichkeit, Zurückgenommenheit und Zivilisiertheit. Gerne erzählte sie in Interviews, dass sie mit vierzehn Jahren Thomas Manns "Zauberberg" las und darin ihren Wunsch, Schriftstellerin zu werden, entdeckte. Doch obwohl die europäische Kultur sie nachhaltig geprägt hat und sie sich in ihren Kritiken hauptsächlich dieser widmete, erkannte sie in sich auch etwas Uramerikanisches: ihren Ehrgeiz, sich selbst ständig neu zu erfinden. Gerade in ihrem Roman "In Amerika" entpuppt sich in der Lebensgeschichte der polnischen Schauspieldiva Helena Modrzejewska das ungeliebte Vaterland demnach auch als der Ort unbegrenzter Möglichkeiten zum Aufbrechen erstarrter Denk- und Lebensgewohnheiten. Jene amerikanische Energie, auf deren Hang zur Gewalt und auf deren kruden Gewinnsucht sie in den letzten dreißig Jahren unermüdlich hingewiesen hat, erkannte sie auch als die Quelle ihrer persönlichen, erotischen und künstlerischen Kreativität an.

Eigentlich war sie immer eine Grenzgängerin. Ihr Vater Jack Rosenblatt handelte mit Pelzen in China, doch als dieser an Tuberkulose starb, heiratete ihre Mutter Capt. Nathan Sontag und zog mit ihrer Familie von New York City zuerst nach Tucson und dann nach Los Angeles. Dort begann das Wunderkind Susan mit 15 Jahren an der University of Berkeley zu studieren, wechselte dann an die University of Chicago, wo sie mit 17 den Soziologen Phillip Rieff heiratete und zwei Jahre später ihren Sohn David bekam. Es setzte ein Wanderleben ein, das sie über die Harvard University an die Universität in Paris führte und zurück nach New York City, wo sie zuerst als Dozentin der Philosophie und der Religionswissenschaften arbeitete, bis sie sich im Alter von 26 von ihrem Mann scheiden liess, um sich erfolgreich als New Yorker Intellektuelle neu zu erfinden. Mit ihren ersten Kritiken in Zeitschriften wie der "Partison Review" und der "New York Review of Books" vertrat sie eine leidenschaftliche Parteilichkeit als Friedenskämpferin und Kulturkritikerin. Kennzeichnend für sie war, dass sie sich von den Themen, über die sie schreiben wollte, verführen ließ, weil für sie jegliches politisches wie ästhetisches Urteil nie von der sinnlichen Erfahrung zu trennen ist. Gleichzeitig - und auch das ist ein Aspekt ihres Grenzgängertums - ging es ihr immer darum, die kritische Intelligenz als Waffe gegen Bigotterie, leutseligen Moralismus und Selbstgefälligkeit einzusetzen. In dem kontroversen Kommentar, den sie für den "New Yorker" kurz nach dem 11. September 2001 schrieb, lautet der wichtigste Satz: "Laßt nicht zu, dass wir uns gemeinsam der Dummheit ergeben." Denn nicht die von der Bush-Regierung nach dem Anschlag auf die Twin Towers propagierte moralisierende Verklärung erlaubt einem zu verstehen, was geschehen ist und noch kommen könnte, sondern nur ein unsentimentales historisches Bewusstsein.

Nichts zeichnete das Denken Susan Sontags präziser aus als diese Weigerung, einer vereinfachenden, wenn auch beruhigenden Deutung aufzusitzen, die die Komplexität politischer Realität ausblendet. Ein Jahr später griff sie scharfsinnig die Sprache an, mit der die Bush-Regierung seit dem 11. September ihren Kampf gegen den Terrorismus in den Medien führt. Das Schlagwort "War on Terrorism" entlarvte sie als eine leere und zudem eine gefährliche Metapher, nicht nur weil sich dahinter eine Ausweiterung von Staatsmacht und Staatsgewalt verbirgt. Der Einsatz von Begriffen wie "moral clarity" und "united we stand" unterbindet kritisches Denken und fordert unreflektierte Gefolgschaft. Natürlich konnte Susan Sontag selber nur mit einer Metapher zurückschlagen, und konstatierte erschüttert eine am amerikanischen Volk verübte Lobotomie. Diese Entrüstung über anti-intellektuelle Massenmedien war jedoch bei ihr nicht neu. Bereits 1965 hatte sie über Katastrophenfilme geschrieben, was die öffentliche Reaktion auf die Ereignisse vom 11. September erstaunlich genau trifft: Der Reiz einer allgemeinen Katastrophe besteht darin, dass sie uns von normalen Verpflichtungen befreit, indem sie eine hoffnungsträchtige Fantasie moralischer Vereinfachung und globaler Vereinigung gegen den Feind anbietet. Dies stellt aber eine unangemessene Reaktion auf zeitgenössische Konflikte dar, weil durch die Umsetzung der Realität in die Sprachbilder eines Katastrophenfilms der Zuschauer entweder abgelenkt oder abgehärtet wird.

Obgleich sie sich dagegen wehrte, als Intellektuelle bezeichnet zu werden, und sich selber eher als Schriftstellerin verstand, war es gerade das Beharren auf einem unschwärmerischen Denken, was Susan Sontags besonderen Charme ausmachte. Immer wieder hat sie darauf hingewiesen, dass leere Sprachbilder reale Konsequenzen haben. So entlarvte sie in ihrem bahnbrechenden Essay über Krankheit als Metapher, wie stereotype Fantasien bezüglich Tuberkulose oder Krebs entweder einer romantischen Verklärung von Krankheit dienen oder einer moralisierenden Stigmatisierung, die die Erkrankten für ihr Leid selber verantwortlich machen. Ihre Entrüstung darüber, wie Mediziner sich militärischer Metaphern bedienen, um den von Krebs 'überfallenen' Körper als 'Schlachtfeld' und die Erkrankten als 'unvermeidliche Verluste' zu stilisieren, war natürlich an die eigene Erfahrung gebunden. Selber erkrankt wollte sie sich dagegen wehren, dass Krebs als unausweichlicher Schicksalsschlag zu verstehen ist. Ihre pragmatische Botschaft lautete: Man solle Krebs nicht metaphorisch als Fluch, als Bestrafung und schon gar nicht als Todesurteil betrachten, sondern einfach nur als Erkrankung des Körpers. Bestechend an Susan Sontags Denken war jedoch nicht nur die Konsequenz, mit der sie immer jene Realität wieder ins Spiel brachte, die durch den Einsatz von leeren Metaphern ausgeblendet wird. Ihre Erkenntnisse waren immer auch mit der eigenen sinnlichen Erfahrung verknüpft, die wiederum zur steten Revision ihres Denkens führte: zum uramerikanischen Hang unermüdlicher Neuerfindung. Als sie knappe zehn Jahre später ein zweites Mal über Krankheit - diesmal über Aids und seine Metaphern - schrieb, bekannte sie sich dazu, dass man ohne Metaphern nicht denken kann, weil jedes Denken eine Interpretation bedeutet. Dennoch beharrte sie auf der Rolle der Metaphern-Polizistin. Bei einigen Sprachbildern sollten wir - egal ob die Rede von Krankheit, Politik, Krieg oder Kunst ist - Enthaltsamkeit walten lassen. Doch der Widerspruch, dass man sich dessen, worüber man schreibt nie ganz entziehen kann, bleibt. Weil ihre leidenschaftliche Parteilichkeit sich immer auf Fragen richtete, die sie sowohl begeisterten als auch entrüsteten, war ihre eigene aufklärerische Haltung unweigerlich infiziert. Laut Susan Sontag sollten beispielsweise die unangemessenen Metaphern wie ein 'Heer' zurückgezogen oder wie 'Greise' in den Ruhestand versetzt werden.

Es war nur verständlich, dass die Siebzigjährige es leid war, wenn man sie in Interviews an frühere Provokationen erinnerte und stattdessen darauf beharrte, sie wolle im Stil der Gesellschaftsromane des 19. Jahrhunderts nur noch solche Romane schreiben, die uns lehren, die condition humana besser zu verstehen. Denn nur Fiktion und Dichtung, meinte sie, werden die Zeit überdauern. Auch dieser rührende Glaube an die Macht der Belletristik war Teil ihrer Europhilie, wenngleich er an ihrer eigentlichen Autorität als Denkerin gänzlich vorbeiging. Was ihre Leser geprägt hat, und deshalb überdauern wird, sind gerade jene Essays, in denen sie unser Bewusstsein und unsere Sinne erzieht. Sei es, weil sie uns auf eine bestimmte Sensibilität aufmerksam machen möchten wie die des Camp und wir von ihrer Beschreibung angeregt diese Liebe für eine unverschämte Künstlichkeit erst richtig genießen können. Sei es weil sie mit dem Begriff einer faschistischen Ästhetik nicht nur den Kern der anhaltenden Faszination, die Leni Riefenstahls Filmkunst hervorruft, getroffen haben, sondern auch dessen Nähe zu Art Deco, Walt Disney, und Francis Ford Coppola. Sei es weil sie immer wieder unseren Blick auf die unsaubere Schnittfläche zwischen fotografischem Bild und Realität zurück führen. Zwar glaubte Susan Sontag nicht mehr, dass die Fotografie unsere Sympathie für das, was abgebildet wird, schrumpfen lässt. Doch in einem ihrer letzten Essay "Das Leiden der Anderen betrachten" lenkte sie unseren Blick auf jene Realität, die vom Foto nie getroffen werden kann, weil sie aus dem Rahmen fällt: den Schmerz des Anderen. Schon länger behauptete sie in Interviews, man habe kein Recht auf eine öffentlich Meinung, wenn man das Ereignis, worüber man sich äußert, nicht selber miterlebt hat. Am Ende ihrer Gedanken zur Kriegsfotografie griff sie als Beispiel für diesen von ihr propagierten Rückgriff auf Erfahrung eine Arbeit von Jeff Wall heraus, um den moralischen Auftrag von Kriegsfotografie hervorzuheben: Bilder wie "Dead Troops Talk" - eine gestellte Szene getöteter Soldaten in Afghanistan 1986 - laden uns dazu ein, unsere Aufmerksamkeit auf das Leid anderer zu richten, um darüber nachzudenken. Dennoch entzieht sich etwas unserem Verständnis. Das Brisante an den Toten in Jeff Walls Bild besteht darin, dass sie sich für uns - die Überlebenden, die Zeugen - nicht interessieren. Zwischen uns und denen, die an der Front gewesen sind, gibt es eine unüberschreitbare Grenze, weil wir ihre Erfahrung des Schmerzes nicht teilen, und sie deshalb nicht verstehen können. Dennoch verdienen sie unser Mitgefühl. So blieb Sontag auch in dieser revidierten Auffassung von Fotographie ihrem Glauben an den Wert sinnlicher Betrachtung treu. Die Erkenntnis, die sie uns anbietet, ist so treffend, weil sie nicht einer persönlichen Erfahrung von Krieg, dafür aber von Kunst entstammt.

Ganz am Anfang ihrer Karriere hatte sie mal das Diktum formuliert: Anstelle einer Hermeneutik brauchen wir eine Erotik der Kunst. Ein halbes Jahrhundert später appellierte sie mit intelligentem Pathos an eine andere Sinnlichkeit der Kunst: ein Sich-Einlassen auf die visuelle Kraft von Bildern und Texten, das nicht im Widerspruch zum Denken steht, sondern gerade von diesem abhängt. Eine Erfahrung über die Distanz des Betrachtens oder des Lesens ist auch eine Anteilnahme. Bewunderung und Entrüstung sind angemessene Haltungen, solange man das Denken nie aufgibt und solange man sein Denken immer wieder neu entwirft. Für diese von ihr uns vorgelebte Verschränkung von sinnlichem Denken und leidenschaftlicher Parteiname können wir getrost zu den Essays von Susan Sontag zurückkehren; sie werden die Zeit gut überdauern.