Wortschlachten und Traumrealitäten

Nelly Glimms Roman "Das Wasserjahr": ein meisterhaftes Melodram à la Schiller

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dieser Roman ist ein gedruckter Film. Schmerzhaft deutlich sieht man die Personen, eindrucksvoll breiten sich die Schauplätze vor dem Leser aus, hochdramatisch ist er inszeniert. Fragt man nach dem Genre, fällt die Antwort leicht: Ein Melodram liegt vor, zweifelsohne. Doch keine Gefühlsschmonzette, wie man allzu rasch erwartet, sondern ein meisterhaftes Rühr-Stück, das die Möglichkeiten der Gattung mit Lust und Gewinn ausschöpft, um weiter zu gehen als erlaubt. Denn die Grenzen des Konventionellen, der Zeit und des Wahrscheinlichen überschreitet diese dreifache Liebesgeschichte leicht und entschieden.

Nelly Glimm - das Pseudonym einer Berliner Autorin* - kennt das Geheimnis vieler Hollywood-Erfolge: "Make them wait!" Die Zuschauer werden zu Beginn mit starken Reizen geködert, um sie danach durch Abwege, Umwege und Irrwege, durch Vorhalte und Trugschlüsse in Hochspannung zu halten, bis eine Lösung völlig überraschend eintritt.

Schon auf den ersten Seite des Romans erfährt man von einer unbestimmten familiären Katastrophe: "all das, was mein Leben in die Luft gejagt hat", sagt Afra Bardt am Neujahrstag 2003. Sie hat ihr Kind verloren. Es lebt - offenbar gegen seinen Willen - in den USA. Viele Spuren lassen Vermutungen zu, doch wie sich dann Information für Information, Szene für Szene, quasi in Zeitlupe, ein "big bang" mit seinen gewaltigen Schockwellen ausweitet, ist schon umwerfend.

Wer auch immer Nelly Glimm wirklich sein mag, sie beweist mit der klugen Komposition, dass sie virtuos auf der Gefühlsklaviatur zu spielen vermag. Melodramatisches, Theatralisches und sogar Wunderbares setzt sie kalkuliert ein, ohne dass ein Gefühl kühlen Kalküls entstünde. Einwände, dass manches zu konstruiert, zu auf die Spitze getrieben, zu unglaubwürdig sei, verhindert der Roman mit seiner Dynamik, seiner Intensität und seiner Stimmigkeit.

Wie in der Oper oder eben in den Melodramen eines Douglas Sirk, eines Aki Kaurismäki oder eines Lars von Trier geht es nicht um Wahrscheinlichkeit, sondern um Evidenz, um potenzierte Passion und - warum nicht! - um Pathos. Dass diese Ausdrucksmittel für einige Jahrzehnte aus der deutschen Belletristik verbannt wurden, reduzierte nur ihre Register, ohne sie dadurch besser oder moderner zu machen.

Mit großem Wagemut, den ihr vielleicht das Pseudonym erst erlaubte, wirft Nelly Glimm den Leser hinein in die dramatische Geschichte von Afra Bardt, deren Leben im "Wasserjahr" einem Tohuwabohu gleicht, obwohl sie nur sieben Monate zuvor noch eine kleine, arrogante, gut aussehende, 42-jährige, sehr erfolgreiche Miteigentümerin einer Werbeagentur und zufriedene, wenn auch allein erziehende Mutter eines Siebenjährigen war. Ihr Kampf um Halt im Leben führt sie zurück in die eitle, notgeile, überdrehte Welt der Werbung, wo sich verzweifelt originelle Künstler und arrogante Auftraggeber herumtreiben. Zu ihrem Erstaunen findet sie gerade hier Ansatzpunkte, den Kampf um ihren Sohn wieder aufzunehmen, der inzwischen in Los Angeles bei seiner biologischen Mutter lebt; er wurde nämlich bei der Geburt vertauscht.

Das reichte für ein gewöhnliches Melodram, doch Nelly Glimm geht wesentlich weiter, indem sie ihre Heldin quälende Wahrträume träumen lässt: darin ist sie eine Jüdin, die 1943 auf der Flucht verraten und erschossen wird. In der aktuellen Notsituation nimmt die Macht dieser Träume in einem Maße zu, dass sich Afra Bardt - wenn auch skeptisch und widerwillig - einer Wahrsagerin anvertraut, die sie auf eine unglaubliche, dann aber doch reale Lösung bringt. Ihre persönliche Krise öffnet sie für ein unheimliches Paralleluniversum, das aus der Vergangenheit in ihre Gegenwart sickert.

Ohne dass man an Reinkarnation, Wahrsagerei oder bewusstseinserweiternde Drogen glauben müsste, trägt die Buchrealität so zwingend, so verführerisch in diesen Bereich des Übernatürlichen hinein, dass man ihn als gegeben annimmt. Wieder lohnt es sich, an Filme zu denken: "Rosmary's Baby" oder "Das Blair Witch Projekt" entfalten ihre Wirkung, indem sie langsam aus dem Realistischen ins Übernatürliche führen.

Mittels ausgeprägter, doch dezent eingesetzter Motivketten wie Wasser, Eis, Marmor, Schock, Farben, Gott verstärkt Nelly Glimm die Geschlossenheit ihres Roman-Kosmos. Bildreich und dialogfreudig schießen in ihm die Worte über Handlungsstromschnellen hinweg.

Zuweilen fühlt man sich wie in einem Orgelkonzert, so vielfältig sind Glimms Register. Da zieht sie hier ein Schalmeien-Register, setzt die Demutspfeifen ein oder ein heiteres Glockenspiel, greift ins volle Werk, wechselt zur "vox humana", schaltet den Tremolanten zu und wählt irritierende Kopplungen. So virtuos wie die Färbung setzt sie Tempo, Dynamik und Phrasierung ein. Extrem peinliche Situationen wechseln sich ab mit verzweifelten Telefonaten, lähmende Rededuelle voll unterkühlter Aggression mit Albträumen, lächerliche Werbe-Events mit eindringlichen Sex-Szenen, in denen Hingabe, Manipulation, Komik, Machtkämpfe und Verzweiflung eine oft bedrohliche Stimmung heraufbeschwören.

Zuletzt hat man den Eindruck, Nelly Glimm nutzt das Melodramatische und Übersinnliche wie Friedrich Schiller - mit dem sie übrigens auch die Lust an Sentenz, Definition, Pointe teilt - das Ritterstück, die Geister-Erscheinung und das Wunder bei "Johanna von Orleans". Beide schätzen den starken Effekt auf Leser wie Zuschauer, beide wollen erschüttern, beide greifen zu populären Genres, weil sie es ermöglichen, Gedanken und Denken sinnlich zu verbreiten. Und beide wissen, dass es vielleicht nur auf diese Weise gelingt, in sonst unerreichbare Tiefen der Psyche zu gelangen.

* Postscriptum: Inzwischen wurde bekannt, wer sich hinter dem Pseudonym verbirgt: Susanne Riedel, Autorin der Romane "Kains Töchter", "Die Endlichkeit des Lichts" und "Eine Frau aus Amerika"; eine Überraschung und auch wieder nicht, hat sie sich doch mit jedem neuen Buch neuen Themen, Darstellungsformen und Genres gewidmet, wobei sie immer, wie auch hier wieder, mit höchstem Einsatz gespielt, die Extreme ausgelotet und einzigartige Kunstfertigkeit mit ihrem literarischen Pathos bewiesen hat, das sich im besten Sinne der Oper annähert. Wenn sie nun unter Pseudonym antritt, mag es verschiedene Gründe geben. Auf der Hand liegt, dass sie sich - nach vielen Tiefschlägen verschiedener Kritiker - unter anderem Namen befreiter äußern konnte. Vielleicht schien ihr aber auch der Schritt ins Melodramatische zu gewagt. Man wird 2005 möglicherweise mehr dazu erfahren.

Titelbild

Nelly Glimm: Das Wasserjahr. Roman.
Berlin Verlag, Berlin 2004.
341 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-10: 3827005604

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