Geschriebene Bilder

Zu Richard Anders' "Wolkenlesen"

Von Stephan ReschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Resch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Mehr und mehr sehe ich die Bilder als Schriftzeichen einer mir unbekannten Sprache, die es vor dem Vergessen zu bewahren und dann zu entziffern gilt." Die Bilder, von denen Richard Anders spricht, sind hypnagoge Halluzinationen, die im Dämmerzustand zwischen Wachbewusstsein und Schlaf entstehen können. Das in diesem Zustand Erfahrene könnte, ähnlich wie im Drogenrausch, als literarische Inspirationsquelle dienen, wenn es da nicht das Problem der sprachlichen Umsetzung gäbe. Es gilt nicht nur, die schnell vorbeiziehenden Bilder vor dem Verblassen zu bewahren, sondern auch das Gesehene, mitunter Versatzstücke aus eigenen Ängsten und Erlebnissen von "konvulsivischer Schönheit" (Lautréamont), mit den abstrakten Mitteln der Sprache passend darzustellen. Im Gegensatz zu den surrealistischen Malern, die Visionen und Traumbilder direkt auf die Leinwand übertragen konnten (Dalí bezeichnete sich als "Registrierautomat seines Unbewussten"), sind hypnagoge Halluzinationen für den Schriftsteller eine weitaus größere Herausforderung.

In "Wolkenlesen" durchstöbert Richard Anders die Weltliteratur nach jenen Schattenbereichen der Imagination, die gerade in der deutschen Literatur bisher wenig Beachtung gefunden haben. Der Band besteht größtenteils aus überarbeiteten Radio- und Konferenzbeiträgen des Autors, die sein anhaltendes Interesse an surrealistischen Schreibprinzipien, insbesondere dem automatischen Schreiben, dokumentieren. Die Ergebnisse seiner Suche fügen sich zu einem beachtlichen Mosaik aus Erfahrungen mit hypnagogischen Visionen zusammen, die manchmal durchaus überraschen. Edgar Allan Poe etwa, der ja bekanntlich Spezialist für künstliche Bewusstseinswelten war und die Opiatwirkung trefflich zu beschreiben wusste, hatte seine Schwierigkeiten, die traumartigen "Phantasien von exquisiter, zartester Feinheit" in Worte zu fassen. Während Annette von Droste Hülshoff zeitweilig unter immer wiederkehrenden hypnagogen Bildern litt, versuchte der Aufklärer Friedrich Nicolai seinen erschreckend romantisch anmutenden Visionen mit einer reinigenden Blutegelkur zu begegnen - wofür er zugleich in Goethes "Faust" verspottet wurde. Der Funktion und Rezeption solcher literarischen Erlebnisprotokolle hat Anders dann auch ein eigenes Kapitel gewidmet. Wer sich außerhalb des rationalen Diskurses bewegt und sich zu seinen Halluzinationen bekennt, legt sein Innerstes offen und macht sich verletzlich, denn das hypnagogisch Erfahrene lässt sich nicht anders als durch seine subjektiv wahrgenommene Existenz verteidigen. Nicht nur dieses Kapitel stellt daher eine Anleitung und raison d'être für das Werk eines Schriftstellers dar, der über eine ganze Karriere seine Gedanken bei der Entstehung sozusagen als geschriebene Bilder festgehalten hat - und dies in einer Literaturlandschaft, in der der Surrealismus nie richtig Fuß fassen konnte.

Besonders unterhaltsam, wohl auch wegen seiner beibehaltenen Form des Radioessays ist Anders Exkurs in die Welt der künstlichen Paradiese. Fachkundig kommentiert er das literarische Destillat der Drogenbenutzung bei Gautier, Baudelaire, Ludlow, Rimbaud und Benjamin und macht dabei auf ein entscheidendes, auch die Halbschlaffantasien betreffendes Problem aufmerksam: Die Unterscheidung zwischen jenen unwillkürlich aufkommenden Bildern im hypnagogen oder berauschten Zustand und den bewusst gestalteten Produkten der Fantasie ist oft für den Leser nicht mehr möglich. Dass Gautier im Haschischrausch in den Spiegel sah und einen blauen Elefantenkopf als seinen eigenen erkannte, ist in der Tat unwahrscheinlich, doch wie steht es mit subtileren Fantasien und Synästhesien?

Wie Anders zeigt, haben zahlreiche Künstler im Laufe ihres kreativen Wirkens hypnagoge Visionen erfahren und diese in den literarischen Schaffensprozess mit einbezogen. Die wenigsten haben jedoch versucht, daraus eine Arbeitsmethode zu entwickeln. Es war der Wunsch nach Unverfälschtheit, eine Auffassung, die die Kunst als "eine freie, ungesteuerte Zeugin des Weltzusammenhangs" (Breton) sieht, die schließlich die Surrealisten zur message automatique führte. Anders' eigene Erfahrungen mit hypnagogen Halluzinationen und halluzinogenen Drogen als Inspirationsquellen bilden den Rahmen der zusammengetragenen Essays. Ähnlich wie sein Vorbild Breton erhofft sich Anders von dem inneren Diktat der Visionen eine Distanzgewinnung zum rationalen Diskurs und eine authentische Wiedergabe des Unterbewussten. Dabei sind Drogen jedoch immer nur Mittel zum Zweck, eine die Meditation oder Trance ersetzende Voraussetzung zum Erreichen des hypnagogen Zustands. Ähnlich wie die großen Experimentatoren des 19. Jahrhunderts, man denke an Baudelaire oder Ludlow, kommt auch Anders zu dem Urteil, dass die Droge nichts evoziert, was nicht bereits vorher angelegt war und daher als literarisches Stimulans durchaus entbehrlich ist.

"Wolkenlesen" ist gerade für den deutschen Sprachraum ein verdienstvoller Beitrag zur Geschichte der literarischen Inspiration, und wohl kaum jemand ist so prädestiniert darüber zu schreiben wie Richard Anders. Bedauerlich ist freilich das Fehlen eines durchgängigen Fußnotenapparates, wodurch das Buch, besonders für wissenschaftlich interessierte Leser, zur Quellenforschung nur eingeschränkt nutzbar ist.

Titelbild

Richard Anders: Wolkenlesen. Über hypnagoge Halluzinationen, automatisches Schreiben und andere Inspirationsquellen.
Books on Demand, Niederstedt 2003.
167 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-10: 3935458061

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