Die Kunst des Lebens

Eine neue Übersetzung des Kãmasutra erfüllt kulturhistorische Interessen

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lust macht dieses Buch nicht. Es bedarf stattdessen einer gehörigen Anstrengung, überhaupt in dieses Buch hineinzufinden. Das hat zunächst einen ganz formalen Grund. Denn neben dem eigentlichen Text des Lehrbuchs ist da noch ein Kommentar. "Für unsere Übersetzung," so schreiben die amerikanische Religionswissenschaftlerin Wendy Doninger und der indische Psychoanalytiker Sudhir Kakar zu ihrer neu übersetzten Fassung, "haben wir den frühesten Sanskritkommentar von Yshodhara Indrapãda (Y) und den neuesten Hindi-Kommentar von Devadatta Shastri zu Rate gezogen." Will sagen: Der erste aus dem 13. Jahrhundert stammende Kommentar Vatsyayanas (V) ist dem Urtext, dessen Entstehung man in der zweiten Hälfte des dritten nachchristlichen Jahrhunderts vermutet, unmittelbar angefügt. Der Kommentar möchte unklare Textstellen erläutern, scheut auch vor eigenen Interpretationen nicht zurück und erhebt insgesamt den Anspruch, ein notwendiger Teil des eigentlichen Lehrbuchs zu sein. Der zweite Kommentar aus dem Jahre 1964 wird in Auszügen im Anhang mitgeliefert. Zusätzlich zu den beiden Kommentaren gibt es auch noch Anmerkungen der beiden Übersetzer. Diese aber erläutern nicht nur den Ausgangstext, sondern auch den alten Kommentar. Es ist nicht einfach zu erkennen, was gerade kommentiert wird, und so dauert es eine Zeit, bis man sich die nötige Lesetechnik angeeignet hat, um vom Urtext in den Kommentar oder die Anmerkungen und wieder zurück zu gelangen.

Was so kompliziert ist, sollte dann freilich auch mit reichlich Erkenntnis belohnt werden. Indes ist zu fragen, ob die in Kommentar und Anmerkungen mitgelieferten Erläuterungen tatsächlich einem im besten Sinne laienhaft interessierten Leser weiterhelfen. Im ersten Buch beispielsweise der insgesamt sieben Bücher des Kãmasutra, das einführende Bemerkungen zum Sinn des Lehrbuchs und zu seinen Adressaten liefert, wird erläutert, dass das Lehrbuch (sutra - die Abhandlung) der "Lust" (kãma bedeutet Begehren, Lust, Liebe, Sex) gewidmet ist. Lust ist eins der drei zentralen "menschlichen Lebensziele" neben Macht und Religion. "Lust", so steht es nun geschrieben, "in ihrer primären Form ist die direkte Erfahrung eines Sinnesobjekts, welches Früchte trägt ..." Hierzu merken die Übersetzer an: "Was wir wörtlich als ,Früchte tragen' übersetzt haben, interpretiert Y als "Erreichen des Höhepunkts" aber möglicherweise versteht V darunter die Zeugung eines Kindes." Es folgt eine semantische wie medizinische Interpretation der Ausdrücke und ihrer Verständlichkeit. Die gut gemeinten Anmerkungen neigen zu allzu speziellen Erläuterungen. Dabei scheint Ys Kommentar doch klar: "Diese Erfahrung trägt Früchte, insofern sie, wenn sie nicht unterbrochen wird, zum Ausstoss von Samen und gleichzeitig zu Lust und Glückseligkeit führt."

Lust und Glückseligkeit sollten, so wird es an vielen Stellen im Lehrbuch deutlich, beiden, Männern wie Frauen, gegönnt sein. Beide sollen das Kãmasutra studieren, um die ideale Einheit der drei Lebensziele Macht, Religion und Lust zu finden. Dabei gilt: "Ein Mann sollte das Kãmasutra [...] studieren, solange es nicht auf Kosten der Zeiten geht, die er der Religion und der Macht [...] widmet." Und: "Eine Frau sollte es tun, bevor sie die Blüte der Jugend erreicht". Hier freilich relativiert der im 13. Jahrhundert entstandene Kommentar, indem er mit Bezug auf die realen gesellschaftlichen Verhältnisse bemerkt: "da es den Frauen an Freiheit mangelt, können sie die drei Lebensziele nur in Abhängigkeit der Männer verfolgen." In der Praxis richtet sich das Lehrbuch also zuvörderst an Männer, genau genommen an einen vermögenden nãgaraka, einen Mann der Stadt - einen Lebemann, oder wie er in den Anmerkungen bezeichnet wird: "ein urbaner Playboy". Unter den Frauen sind es schließlich die Kurtisanen, denen das Lehrbuch gewissermaßen zur Vervollkommnung ihrer ,Künste' dienen soll.

Der Aspekt der Vervollkommnung ist ein entscheidender. Denn so wie das Kãmasutra der Kurtisane zur Vervollkommnung ihrer Künste dient, dient es auch dem Mann zur Vervollkommnung seiner irdisch-sozialen Position. Das meint im Speziellen die Vervollkommnung seiner (liebenden) Beziehung zur Frau. "Wer die wirkliche Bedeutung dieses Lehrbuchs erkennt [...] wird zu einem, der seine Sinne wahrhaft beherrscht. [...] Er frönt der Leidenschaft nicht übermäßig und hat so in der Rolle des Liebenden Erfolg." So verstanden sind die sexuellen Techniken des Kãmasutra Hilfsmittel.

Sie stehen im zweiten Buch, das schlichtweg "Sex" übertitelt ist. Lediglich auf diesen Abschnitt, in dem in systematisch sachlicher Sprache Techniken der Liebe, wie z. B. "Arten der Umarmung", "Vorgehensweise beim Küssen", oder die "Vielfalt der sexuellen Stellungen" erläutert werden, bezieht sich die Wahrnehmung des Kãmasutra als sexuell provozierende Literatur, deren vollständige Übersetzung man in Deutschland noch 1965 gerichtlich untersagen lassen wollte. Umgekehrt zielen bis heute spekulativ bebilderte Ausgaben des zweiten Buchs auf eben diesen Effekt. Nichts von alldem in diesem Buch, das lediglich einige nahezu idealisiert wirkende Bildtafeln des so genannten "Bikaner Stils", einer persischen Miniaturtechnik aus dem 17. Jahrhundert, mitliefert, die, so steht es dabei, "als die eleganteste Bebilderung des Kãmasutra" gelten. Das ist in gewisser Weise zu bedauern. Denn wer die üppigen Bildhauerarbeiten der berühmten "Tempel der Liebesfreuden" in Bhubanewar, Khajuraho und Konarak kennt, weiß, dass die Bebilderungen eben nicht nur hinsichtlich der unmittelbaren sexuellen Handlungen, sondern auch der "vierundsechzig Grundkünste", zu denen Gesang, Instrumentalmusik, Tanz, Zeichnen, Kosmetik- und Toilettenkünste, Kochen, Vorlesen und handwerkliche Fähigkeiten gehören, einen wesentlichen Zugang zum Verständnis des Lehrbuchs liefern - indem sie die trockenen Belehrungen des Buchs in allgemein verständliche Bilder übersetzen und somit auch zur Popularität des Kãmasutra beitrugen. Sie sind so verstanden notwendige Beigaben zu einem Lehrbuch, das der Autor, so betont er zum Schluss seiner Ausführungen, "in Keuschheit und höchster Versenkung um des weltlichen Lebens willen" fertigte.

Der Reiz des Kãmasutra für den heutigen Leser ergibt sich also nicht aus irgendwelchen sexuellen Verheißungen. Das Buch ist eher aufschlussreich im Hinblick auf Kultur und Religion des uns ansonsten durch Ayurveda-Kitsch und esoterische Idealisierungen 'verfremdeten' indischen Subkontinents. Denn die sieben Bücher des Kãmasutra vermitteln ein lebendiges Bild des Lebens in jenen gesellschaftlichen Kreisen, für die das Lehrbuch gedacht war. Die genaue Beschreibung etwa einer Wohnstätte des Lebemannes, seine Einrichtung sowie die präzisen Einblicke in die Kultur einer Höflichkeit sind von reizvollem kulturhistorischem Interesse. Zudem wird ein Zusammenhang erahnbar: Schlagworte wie Ganzheitlichkeit, Leben in Harmonie oder das Miteinander von Geist und Körper erhalten im Kontext einer zu erlernenden Systematik einen tieferen Sinn, der über bequeme und kurzatmige mitteleuropäische Vereinnahmung hinausweist. Wer sich dem aussetzen möchte, dem sei dieses ebenso anspruchsvolle wie schön gestaltete Buch empfohlen.

Titelbild

Vatsyayana: Kamasutra.
Übersetzt aus dem Englischen von Robin Cacket.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2004.
315 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-10: 3803136148

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