Ästhetik der Abstraktion

Der Schriftsteller Heinrich Schirmbeck wird 90

Von Gerald FunkRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gerald Funk

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seinem 1965 gehaltenen Vortrag "Die schwache Position der Literatur" beschreibt Hans Erich Nossack die Sitzordnung im Plenarsaal der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Dort befand sich seinerzeit - als ich ihn vor wenigen Monaten das letzte Mal sah, hatte sich dies noch nicht geändert - ein riesiger hufeisenförmiger Tisch. Rechts vom Präsidium waren die Geisteswissenschaften plaziert, links die Naturwissenschaften. Zwischen den Schenkeln des Hufeisens - doch ohne Berührung damit - stand der Tisch für die Literatur. Diese Sitzordnung, wie Nossack einräumt, möglicherweise nur aus Platzgründen gewählt, spiegelt indes mehr als eine damals aktuelle, sie spiegelt eine grundsätzliche Scheidung der Künste von den Wissenschaften im 20. Jahrhundert wider, eine Scheidung, die Adorno in seinem 1958 veröffentlichten Aufsatz "Der Essay als Form" als "irreversibel" charakterisiert hat. "Ein Bewußtsein", so schreibt er apodiktisch, "dem Anschauung und Begriff, Bild und Zeichen eins wären, ist [...] mit keinem Zauberschlag wiederherstellbar".

Schon Robert Musil hatte knapp dreißig Jahre zuvor im "Mann ohne Eigenschaften" von den "zwei Geistesverfassungen" gesprochen, die sich nicht nur bekämpften, sondern sich zuweilen gar wechselseitig ihrer Wertschätzung versicherten, doch keine Verbindung mehr zueinander hielten. "Die eine", so schreibt Musil, "begnügt sich damit, genau zu sein, und hält sich an die Tatsachen; die andere begnügt sich nicht damit, sondern schaut immer auf das Ganze und leitet ihre Erkenntnisse von sogenannten ewigen und großen Wahrheiten her. Die eine gewinnt dabei an Erfolg, und die andere an Umfang und Würde. Es ist klar, daß ein Pessimist auch sagen könnte, die Ergebnisse der einen seien nichts wert und die der anderen nicht wahr. Denn was fängt man am Jüngsten Tag, wenn die menschlichen Werke gewogen werden, mit drei Abhandlungen über die Ameisensäure an, und wenn es ihrer dreißig wären? Andererseits, was weiß man vom Jüngsten Tag, wenn man nicht einmal weiß, was alles bis dahin aus der Ameisensäure werden kann?!"

Wissenschaftliche Erkenntnis allein - also der präzise Blick auf einen kleinen Ausschnitt der Welt, die Reduktion der scheinbar chaotischen Vielfalt auf allgemein gültige Regeln und Strukturen -, das besagt diese Passage doch wohl, mag in der großen Waagschale menschlicher Werke nicht den letzten Ausschlag geben, ohne sie aber hat vieles andere kein Gewicht. Es gab im 20. Jahrhundert jedoch - das gerade begonnene wird keine anderen Tatsachen schaffen - kaum Schriftsteller, die in ihrem Werk das vor allem durch die modernen Naturwissenschaften, die Relativitätstheorie, die Quantenphysik, die Gen- oder jüngstens die Chaosforschung, radikal veränderte Bild dessen, was die Welt "im Innersten zusammenhält", um es mit Goethe zu sagen, ernsthaft zur Kenntnis genommen hätten. Heinrich Schirmbeck dagegen hat das getan, hat sich seit seinen Anfängen als einer von ganz wenigen - mir fielen keine fünf weiteren deutschen Autoren ein -, fasziniert und beunruhigt zugleich, den durch die Wissenschaften, vor allem durch die Naturwissenschaften bedingten revolutionären Veränderungen unseres Weltbildes und unserer Wirklichkeit gestellt.

Der am 23. Februar 1915 in Recklinghausen geborene Erzähler, Romancier und Essayist dürfte heute allerdings nurmehr wenigen Lesern ein Begriff sein. Allenfalls verbindet man seinen Namen vage mit der Literatur der Inneren Emigration oder mit dem Feuilleton der "Frankfurter Zeitung", für die er in den frühen vierziger Jahren tätig war. Möglicherweise erinnert man sich auch an seine Erfolge als Wissenschaftsjournalist in den Fünfzigern, wo er die Zeitgenossen mit aufsehenerregenden Abendstudiosendungen im Rundfunk auf die neuesten Erkenntnisse der Naturwissenschaften hinwies und ihre Konsequenzen diskutierte. Das umfangreiche erzählerische und essayistische Werk Schirmbecks aber ist aus dem Bewusstsein der literarischen Öffentlichkeit weitgehend verschwunden, obwohl oder möglicherweise gerade weil es wie kaum ein vergleichbares anderes die offenen Fragen des wissenschaftlich-technischen Zeitalters zur Sprache gebracht hat.

Schirmbecks frühe Erzählungen, die noch in den letzten Jahren des "Dritten Reiches" entstanden und in Ton und Thematik ganz der deutschen Romantik sowie dem französischen Symbolismus verpflichtet sind, deuten das bereits an. Sie öffnen jenen magisch-fantastischen Blick auf die Welt, der auch bei Edgar Allan Poe, bei Georges Rodenbach oder E. T. A. Hoffmann zu finden ist, Autoren, mit denen Schirmbeck als Novellist immer wieder verglichen wurde. Die Protagonisten der 'unerhörten Begebenheiten' sind nicht selten Forscher und Gelehrte, deren naturkundliche oder naturphilosophische Obsessionen - ihr Drang, die Geheimnisse der Natur zu entschlüsseln - ganz in romantischem Sinn mit Tod oder Wahnsinn bestraft werden. Doch schon in diesen frühen Geschichten steht der Neigung zum Zwielicht des Unheimlichen eine der poetischen Konvention entgegenwirkende literarische Lust an der Abstraktion gegenüber, die sich darin äußert, dass theoretische Diskurse in die Fabeln eingelagert werden und den abstrakten Kern, das narrative Kristallisationszentrum der jeweiligen Geschichte bilden.

Wissenschaftliche Erkenntnis war in diesen frühen, 1944 von Suhrkamp unter dem Titel "Die Fechtbrüder" in Buchform vorgelegten Novellen nicht nur Gegenstand romantischer Wissenschaftskritik, sie war zugleich ein Faszinans, das den Autor in Bann hielt. Es wurden nicht nur Stimmungen, es wurden Ideen verhandelt. Einige der Erzählungen, wie etwa die Münchhausen-Kleist-Novelle "Der Zopf" aus dem Band "Das Spiegellabyrinth" von 1948, die in ihrem Verlauf zu einem äußerst klugen philosophischen Disput wird über das Verhältnis der Logik des Imaginativen zur Realität der physikalischen Welt, verwischen gar - wie zeitgleich einige Texte des Argentiniers Borges - die Grenzen zwischen Erzählung und Essay.

Ein solcher Prozess wird sich in Schirmbecks zwei Romanen, "Ärgert dich dein rechtes Auge" von 1957 und "Der junge Leutnant Nikolai" von 1958, noch intensivieren. Hier werden ganze Kapitel zu theoretischen Diskursen über die unterschiedlichsten zeitgenössischen oder historischen Themen, seien es die geschichtsphilosophischen Konsequenzen der nicht-euklidischen Geometrie, der Existentialismus oder Fragen der Atomphysik. Dabei war Schirmbeck immer auf der Höhe der Zeit.

Vor allem "Ärgert dich dein rechtes Auge" wurde damals als Meisterwerk der deutschen Literatur gewürdigt und den Werken Musils und Thomas Manns an die Seite gestellt, obwohl oder möglicherweise gerade weil sich der Roman nicht nur inhaltlich von einer epochemachenden naturwissenschaftlichen Theorie aus der Quantenphysik - nämlich der Komplementaritätstheorie der Lichtnatur des französischen Physikers Louis de Broglie - hat inspirieren lassen, sondern auch seine poetologische Struktur daraus ableitet. Das mystische und zugleich wissenschaftliche "Sowohl als auch" - Licht ist Welle und Teilchen -, das sich nach Schirmbecks Überzeugung in der modernen Quantenphysik finden lässt, prägt Stoff, Motive und Figurenkonstellationen des Romans, der in seiner Komplexität in der deutschen Literatur seinesgleichen sucht. Ein Zeit- und Wissenschaftsroman von großer, auch imaginativer Eindringlichkeit. Er erzählt die Lebensgeschichte eines Physikers, der, aus der dekadenten Atmosphäre großbürgerlicher Kaufleute in der Provinz Frankreichs stammend, in das von Intrigen, politischen und geheimdienstlichen Machtkämpfen brodelnde Paris der Jahrhundertmitte gerät, dort als Wissenschaftler mit der künstlerischen Boheme Kontakte knüpft, schließlich von einem Strudel mysteriöser Ereignisse mitgerissen wird und Landesverrat begeht.

Friedrich Sieburg, damaliger Großkritiker der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", sowie der mit scharfen Stellungnahmen auch zur Literatur nicht geizende Karlheinz Deschner lobten das Werk in ausführlichen Rezensionen. Sie sprachen von "phantastischer Einbildungskraft", "stilistischer Perfektion", "ungewöhnlichem Einfallsreichtum" und "einer Ausdruckskraft ohnegleichen". Der Autor habe, so Sieburg, ein "wahres Monstrum zur Welt gebracht, ein Werk, in dem sich zügelloseste Phantasie mit exakter wissenschaftlicher Betrachtung zu einem kentaurischen Wesen zusammenfügt, das mit den polternden Hufen eines Fabelgeschöpfes und doch auch mit der raffinierten Beredsamkeit eines Pariser Intellektuellen daherkommt".

Für Robert Jungk, den später eine lebenslange Freundschaft mit Schirmbeck verband, war der Roman eine der ganz großen Entdeckungen, da er literarisches Neuland erobert, die terra incognita der modernen Naturwissenschaften für die Literatur fruchtbar gemacht habe. 1961 erschien das Buch in Amerika und wurde enthusiastisch aufgenommen, von der "New York Times" zum Beispiel als "the most ambitious novel to come out of Germany [...], perhaps since the publication of Thomas Mann's 'The Magic Mountain'" gefeiert.

Schirmbecks zweiter Roman, "Der junge Leutnant Nikolai", konnte allerdings nicht mehr ganz an den großen Erfolg des ersten anknüpfen. Zwar stellte Robert Jungk ihn in einer umfänglichen Rezension über den im selben Jahr auf Deutsch erschienenen "Doktor Schiwago" von Boris Pasternak, da er darstelle, was der Roman des Russen nur angedeutet habe: die Wurzeln und geschichtsphilosophischen Hintergründe der Oktoberrevolution, aber diesem Votum mochte sich das breite Publikum offensichtlich nicht anschließen. Pasternaks "Doktor Schiwago" wurde zum Weltbestseller, Schirmbecks "Leutnant Nikolai" musste und muss sich bis heute mit dem Prädikat des literarischen Geheimtipps zufrieden geben. Schirmbeck greift hier zur Form des historischen Romans, um in der Zeit des russischen Dekabristenaufstandes (1825) die weltanschaulichen und politischen Wurzeln seiner Gegenwart bloßzulegen. In einer Epoche des Kalten Krieges ist er bemüht, im Rahmen einer an Dostojewski orientierten, spannungsgeladenen Kriminalgeschichte um den Tod des Zaren Alexander I. die Dialektik des westlichen Freiheitsbegriffs und sein Scheitern auf der russischen Bühne vor Augen zu führen. Eine wesentliche Rolle spielen dabei zeitgenössische Entdeckungen im Bereich der Mathematik (vor allem die Ansätze zu einer nicht-euklidischen Geometrie des russischen Mathematikers Lobatschewski) und ihre philosophischen sowie politischen Konsequenzen. Erneut gelingt es Schirmbeck dabei, abstrakte Diskurse und ein Geschehen von großer szenischer Bildhaftigkeit zusammenzufügen.

In Deutschland indes tat und tut man sich schwer, wenn es darum geht, Wissenschaft (Science) und Imagination (Fiction) in Verbindung zu bringen. So ist es kein Wunder, dass in den anglo-amerikanischen Ländern das literarische Genre der "Science Fiction" gewürdigt wurde und Fuß fassen konnte - ich denke an Aldous Huxley oder George Orwell -, während in Deutschland trotz eines Kurd Lasswitz oder Wilhelm Bölsche, die heute vermutlich kaum noch jemand kennt, der Beschäftigung mit wissenschaftlichen Themen und deren Vermittlung immer noch der Geruch entweder des Trivialen oder des Elitären anhaftet. Allenfalls ein bisschen moralische Reflexion über die bösen Folgen wissenschaftlicher Hybris scheint gestattet, denkt man an Dürrenmatts "Physiker" (1962) oder Heinar Kipphardts Stück "In der Sache J. Robert Oppenheimer" (1964). Aber Moral allein macht keine gute Literatur.

Man darf es bedauern, dass sich Schirmbeck Anfang der sechziger Jahre endgültig von der Erzählliteratur ab- und ausschließlich dem abstrakten Diskurs, dem Essay sowie der wissenschafts- und kulturkritischen Publizistik zugewandt hat. Doch auch in den folgenden Büchern ist er seinem zentralen Thema, dem Verhältnis von Lebenswirklichkeit, Literatur und Wissenschaft, treu geblieben. So reflektiert er die für die beiden Romane maßgeblichen poetologischen Überlegungen noch einmal in seinem bekanntesten Essayband "Die Formel und die Sinnlichkeit" von 1964. Hier unternimmt Schirmbeck den Versuch, das von ihm konstatierte Synchronisationsdefizit der Moderne zwischen literarischer und naturwissenschaftlicher Intelligenz zu durchleuchten und Grundzüge einer "Poetik im Atomzeitalter", so der Untertitel des Buches, zu entwickeln. Seine Diagnose lautet: "In unserer Zeit vollzieht sich ein Vorgang, der wesentlich mehr zu sein scheint als die Bereicherung des Wirklichen um einen neuen Aspekt: es ist der Einbruch der Naturwissenschaften in unser Leben. Dieser Einbruch zeigt sich einmal in der Überflutung unseres Alltags mit technischen Geräten, in der Beschleunigung aller materiellen und informativen Prozesse. Er zeigt sich aber noch viel unheimlicher in der Entsinnlichung aller traditionellen Lebensverhältnisse. Es ist, als werde ihnen die Substanz zunehmend entzogen, so daß nur ein abstraktes Skelett von Funktionen übrigbleibt."

Eine solche Diagnose ist heute möglicherweise aktueller als jemals zuvor, und es könnte ein großes kulturkritisches Lamento folgen, aber Schirmbeck verzichtet darauf. Bei ihm heißt es eher gelassen: "Vielleicht ist dieser Weg unvermeidlich; er mag im Entfaltungsplan des Menschlichen liegen." Schirmbeck verlangt von sich und anderen keine "Poetisierung" der modernen Lebensverhältnisse oder neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse, auch keinen Kampf dagegen im Namen der Humanität, sondern, wie er schreibt, "die Erfindung einer neuen Symbolik, in welcher das zur Anschauung kommt, was eigentlich nicht anschaulich ist: das Hineinwachsen des Menschen in abstrakt-funktionale Existenzformen, welche die Wissenschaft ihm aufzwingt." Ob indes eine solche Forderung, denkt man an die eingangs zitierte Stellungnahme Adornos, nicht doch einer Quadratur des Kreises gleichkommt, sei dahingestellt. Immerhin wurden schon damals die Kollegen der schriftstellerischen Zunft nervös, denn Schirmbeck greift sie und ihr defizitäres Realitätsverständnis an. Sie sahen ihre Götter entthront, sich aus ihrer Domäne, der Sprache, vertrieben. Schirmbecks essayistische Streifzüge durch die Literatur- und Geistesgeschichte der vergangenen 2000 Jahre - von den Vorsokratikern bis zu James Joyce - fanden so eine große, allerdings nicht immer nur wohlmeinende Resonanz.

Auch sein zweiter großer Essayband, "Ihr werdet sein wie Götter" von 1966, bietet ein weit gespanntes Panorama interdisziplinärer Ein- und Ausblicke; hier gewonnen an der damals wie heute auf den Nägeln brennenden und letztlich nicht beantworteten Frage, inwieweit der Mensch sein biologisches Urmuster erkennen kann und eingreifend verändern darf. Dürfen wir alles, was wir können? Wie frei sind wir letztlich in unseren Entscheidungen? Vor dem Hintergrund der heute geführten Debatte um therapeutisches Klonen wirken Schirmbecks Nachrichten vom Anfang der biologischen Revolution noch immer äußerst brisant. Er zeigt den Menschen, seine Größe, sein Elend und seine Möglichkeiten, im Spannungsfeld der Biotechnik, der Biokybernetik, der Genetik und der Informationstheorie. Von der Hirnphysiologie über die Philosophie bis hin zur Paläontologie und Literatur wird der Bogen gespannt, scheinbar Auseinanderliegendes wird zueinander in Beziehung gesetzt, um der Komplexität des Problems gerecht zu werden, eines Problems, von dem Schirmbeck bereits damals voraussagte, dass es in seinen Folgen die Entdeckungen der Atomphysik in den Schatten stellen würde.

Hier, Ende der sechziger Jahre, liegt allerdings auch der Anfang vom Ende der Populärität des Autors Schirmbeck. Die Literatur ging andere Wege. Die Siebziger waren die große Zeit der Selbstverständigungsliteratur, ein Werkkreis "Literatur der Arbeitswelt" gab Bändchen heraus, die mitunter von echten Arbeitern selbst verfasst wurden. Jeder durfte, was er eben konnte. Frauenliteratur war im Kommen. Anspruch und Form waren Rudimente bourgeoiser Ästhetik, Wissenschaft allenfalls ein Herrschaftsinstrument. Agit-Prop-Lyrik ("Genossen, Genossinnen, Brüder und Schwestern / hört mich!") und Spontantexte lagen im Trend. Anthropologische Fragestellungen, die für Schirmbeck immer zentral gewesen waren, standen nun im Verdacht, reaktionär zu sein, der literarische und geistesgeschichtliche Kanon, auf den er sich mit seinem Werk stets bezogen hatte, wurde jetzt radikal in Frage gestellt.

Der einst populäre Autor zieht sich in diesen Jahren aus der Literatur weitgehend zurück, möglicherweise gleichermaßen skeptisch gegenüber ihrer schlichten gesellschaftspolitischen Instrumentalisierung wie auch gegenüber ihrer sich später in den achtziger Jahren wieder anbahnenden ästhetischen Autonomisierung und Unverbindlichkeit. Zwar erscheinen noch einige Sammelbände älterer Erzählungen und Essays - etwa "Träume und Kristalle" (1968), "Tänze und Ekstasen" (1973), "Schönheit und Schrecken" (1977) sowie "Die Pirouette des Elektrons" (1980) -, aber neue, größere Projekte entstehen nicht mehr.

Doch unabhängig von aller Distanz zur literarischen Öffentlichkeit und ihren Debatten hat sich Schirmbeck nicht erst in der Folgezeit vor allem in sozial-ethisch und politisch relevanten Fragen immer wieder zu Gehör gebracht. Annähernd die gesamte zweite Hälfte seines Lebens wurde wesentlich von einem starken sozialen und politischen Engagement bestimmt. 1959 zum Beispiel nahm er mit Robert Jungk, Hans Magnus Enzensberger und anderen deutschen Schriftstellern und Publizisten in London an der internationalen Kundgebung "Kampf dem Atomtod" teil und 1984 hielt er auf dem "Nürnberger Tribunal" einen Vortrag über "Die Unvereinbarkeit von Massenvernichtungswaffen mit Völkerrecht und Ethik". Noch 1991 kämpfte er publizistisch gegen den ersten Golfkrieg. Er verfasste eine umfangreiche Studie, in der er den Vereinigten Staaten und den Vereinten Nationen einen Bruch des Völkerrechts nachwies, und verschickte diese an alle wichtigen Politiker.

Dazwischen lagen - und das war der vom Umfang her gewichtigste Teil von Schirmbecks Œuvre - mehr als fünfundzwanzig Jahre Arbeit für die öffentlichen Rundfunkanstalten, in denen er in rund 250 zum Teil viel diskutierten Abendstudiosendungen, neben literarischen Themen, einführte in die aktuellsten Entwicklungen der modernen Wissenschaft, wie Genetik, Hirnphysiologie, Verhaltensforschung, Futurologie und anderes mehr. Auch der Ökologie und Fragen der Mediengesellschaft nahm er sich an. Diese im weitesten Sinne einer 'Erziehung des Menschengeschlechts' verpflichtete Arbeit ging allerdings nicht zuletzt auf Kosten der literarischen Produktion. Das hat Schirmbeck in Kauf genommen. Er wurde nicht müde, den Anspruch des Lebens an den Geist zu formulieren und diesen auf das Gute zu verpflichten; immer aber auch hier auf einem Niveau, das die Probleme nicht vorschnell vereinfacht und das Gegensätzliches nicht selten als voneinander abhängig erkennt.

Schirmbecks gesamtes Werk gewinnt letztlich mit dem Versuch eines Brückenschlags, einer Vernetzung - um ein aktuelles Modewort zu gebrauchen -, seine besondere Qualität, eine Qualität, die auch in dem zuletzt veröffentlichten Essayband "Gestalten und Perspektiven" aus dem Jahr 2000 noch einmal deutlich wird. Der Band bietet mit Arbeiten aus fünf Jahrzehnten einen Längs- sowie einen Querschnitt durch Schirmbecks umfangreiches essayistisches Werk, zugleich gibt er dem interdisziplinären Charakter seines Schreibens exemplarischen Ausdruck. Die Themen und Gegenstände seiner zum Teil literarischen, zum Teil philosophischen Aufsätze reichen von der Linguistik bis zur Evolution, von der "Fragwürdigkeit des Erzählens" bis zur "Selbstentfremdung des deutschen Geistes", von Schopenhauer über Einstein bis Musil und Sartre.

"Ich weiß", so hatte Schirmbeck den Protagonisten seines Romans "Ärgert dich dein rechtes Auge" resümieren lassen, und es ist eine confessio pro domo, "daß mir das Einfache nicht liegt, weder im Leben noch in der Literatur. Und ich werde immer dem Komplexen verhaftet bleiben, dem Zwielichtigen und Polaren. [...] Meine Heimat ist ein Zwischenreich; jener fahle Streifen Niemandsland, der von zwei Bezirken begrenzt wird; dem der menschlichen Irrationalität und dem der mathematischen Vernunft." Diese intellektuelle wie ästhetische Doppelbindung zeichnet Schirmbecks gesamtes Lebenswerk aus und hebt es sowohl von den wenigen, vor allem akademisch orientierten Bemühungen ab, das problematische Verhältnis der Künste zu den Wissenschaften zu durchleuchten, wie auch von den kaum nennenswerten Versuchen der deutschen Literatur, sich dem Thema Wissenschaft zu stellen, erschwert zugleich allerdings die Rezeption. Die Einordnung in gängige Kategorien der Literaturgeschichte wird nahezu unmöglich gemacht. Schirmbeck steht abseits, ist ein Solitär, bis heute.

Wer sich auf Komplexität beruft, ruft nur zu oft ins Leere. Es ist an der Zeit, dass wir Schirmbecks Stimme wieder hören, dass seine Bücher wieder die Leser finden, die sie verdienen. Sein 90. Geburtstag und die Neuausgaben zweier seiner wichtigsten Werke, des Romans "Ärgert dich dein rechtes Auge" und des Erzählbandes "Die Pirouette des Elektrons", könnten ein Anlass sein. Er selbst gewann sein Ethos aus der Bindung an die christlich-humanistische Tradition des Abendlandes, seinen ästhetischen Eros allerdings nicht selten auch aus der Lust an dem, was die modernen Wissenschaften dieser Tradition zumuteten.

Titelbild

Heinrich Schirmbeck: Ärgert dich dein rechtes Auge. Aus den Bekenntnissen des Thomas Grey. Roman.
Mit einem Nachwort von Karlheinz Deschner.
Immo A. Hilbinger Verlag, Wiesbaden 2005.
556 Seiten, 29,50 EUR.
ISBN-10: 3927110191

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Titelbild

Heinrich Schirmbeck: Die Pirouette des Elektrons. Meistererzählungen.
Mit einem Nachwort von Robert Jungk.
Immo A. Hilbinger Verlag, Wiesbaden 2005.
424 Seiten, 27,50 EUR.
ISBN-10: 3927110205

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