"Wir sind die letzten, fragt uns aus"

Arno Lustiger - ein Überlebender, ein Historiker und ein Geschichtenerzähler

Von Petra KammannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Petra Kammann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gegenüber vom Obi-Markt liegen mehrstöckige Wohnblocks. Dort wohnt Arno Lustiger. Fast habe ich Mühe, seinen Namen auf dem Klingelschild zu entdecken. Ob es angenehm ist, in einer anonymen Etagenwohnung im neunten Stock zu leben? Er meint ja. Hier kann er die Tür einfach schließen, wann er will, wegsein, wiederkommen.

Eigentlich wollte der polnische Jude aus dem oberschlesischen Bedzin (alias Bendsburg), der ältesten Stadt Westpolens, in der die Juden seit dem 14. Jahrhundert unter besonderem Schutz gestanden hatten, gar nicht nach Frankfurt ...

Das nach einer Postkarte entstandene Gemälde von Bedzin in seinem Wohnzimmer zeigt, wie dicht dort alles beieinander lag. Eine Szenerie, die den jungen Arno als Gymnasiasten geprägt hat. Als Heranwachsender wurde er feierlich und mit schmucker Schuluniform in das jüdische Gymnasium eingeschult. Ein Bläserchor begleitete damals die Schülernovizen zur Segnung in die Synagoge. Auf dem Bild erkennt man die unmittelbare Nähe der katholischen Kirche zum Gemeindehaus und zur Synagoge. Das erinnert Lustiger an den katholischen Priester, der versuchte, Juden zu retten, als die Synagoge schon brannte.

Farbenfrohe, lebendig gemalte Bilder schmücken die Wände seiner Wohnung. Darunter ein Bild seiner in Tel Aviv lebenden Tochter, der Malerin Rina. Fantastisch - wie ein zeitgenössischer, 'provokativer Chagall'. Künstlerische Erinnerungen, Spuren der Menschen, die sein Leben ausmachen, scheinen auf den bewusst gewählten Bildern präsent zu sein. Eines stellt zwei dunkelhaarige Mädchen dar - für ihn die symbolische Verkörperung seiner beiden abwesenden Töchter Rina und Gila. Andere Bilder - aus den 20er Jahren - von der Frankfurter Jüdin und Malerin Lucie Hoffmann, die später nach Rom emigrierte. Lustiger ersteigerte sie bei einer Auktion.

Auf dem Tisch liegt ein Stoß Fotos, den Lustiger wie eine Kostbarkeit in die Hand nimmt. "Interessiert Sie, wie ich früher aussah?" Die Fotos legen Zeugnis ab von seinem ebenso wechselvollen wie oszillierenden Leben: als fröhliches Kleinkind, nach der Lagerzeit mit einem Käppchen, weil er sich schämte, seinen geschorenen Kopf zu zeigen. Fotos von seiner Mutter, seiner Schwester. Das einzige Foto seines Vaters, das er besitzt, dann ein Bild mit seiner ersten Frau, die er 1954 in Tel Aviv kennen gelernt hatte ("Wir heirateten nach sechs Wochen - eine Art russisches Roulett"); dann Arno mit seinem Cousin Jean-Marie Lustiger, dem heutigen Kardinal von Paris, der 1940 zum katholischen Glauben übergetreten war und in dessen früherer Wohnung heute die Schriftsteller-Tochter Gila mit dem französischen Publizisten Emmanuel Mosès und den beiden Kindern lebt, und - man sehe und staune - auch Arno Lustiger, den Agnostiker, bei einer Papst-Audienz, schließlich Lustiger, den Dr. h.c. nach der Überreichung der Ehrendoktorwürde in Potsdam zusammen mit dem ungarischen Nobelpreisträger Imre Kertész - auch er ein überlebender Auschwitz-Häftling. Zu guter Letzt Fotos mit Politikern wie Helmut Kohl, Richard von Weizsäcker oder Petra Roth.

Fast etwas ungläubig staunt Arno Lustiger seinen Besitz an, so als könnten ihm diese festgehaltenen Bilder jederzeit wieder genommen werden. Gleich werden die Original-Fotos abgeholt. Sie sind Grundlage für eine Diashow, die auf der Feier mit Freunden, die aus der ganzen Welt zu seinem Achtzigsten anreisen, gezeigt werden soll.

Der wache Achtzigjährige blickt zurück auf ein Leben, das reich ist an schmerzvoller Erfahrung: darunter Lager wie Sosnowitz, Annaberg, Otmuth, Auschwitz, Auschwitz-Blechhammer, Groß Rosen, Buchenwald und Langenstein sowie zwei Todesmärsche, die er - es grenzt an Wunder - überlebt hat. Natürlich haben die Schrecken in seinem Leben eine tiefe Zäsur hinterlassen und führten ihn auf Wege, an die der begeisterte und lernbegierige Gymnasiast aus dem polnischen Bedzin, dessen erste Fremdsprache Deutsch war und der bald zum überzeugten Zionisten heranreifte, im Traum nicht dachte. Nach der Flucht diente er zunächst freiwillig in der amerikanischen Armee als Dolmetscher.

Von den Konzentrationslagern krank, geschwächt und erschöpft, geriet er zunächst nach Frankfurt-Zeilsheim, wo die Displaced Persons (DPs) in Werkswohnungen der ehemaligen Hoechst-Arbeiter einquartiert wurden. Von Zeilsheim aus glaubte er, weiter nach Amerika oder nach Israel auswandern zu können. Er bekam die amerikanische Einwanderungsgenehmigung, nicht aber seine kranke Mutter und seine kranke Schwester, für die er sich verantwortlich fühlte. Somit ging auch er nicht.

Später lebten Arno, seine Mutter und seine beiden Schwestern zu viert beengt in einer Zwei-Zimmer-Wohnung in der Nähe des Dornbusch. Um die ersten Jahre zu überleben, arbeitete Lustiger zunächst als Redakteur für die Zeitschrift "Unterwegs" und wertete dabei die ausländische Presse aus. So beschäftigte er sich schon damals mit zahlreichen jüdischen Biografien. Dann wurden die Akten der Entwurzelten beschlagnahmt. Er selbst hatte 1950 einen Antrag auf Wiedergutmachung gestellt. Man gewährte sie ihm nicht. Er bekam lediglich eine Haftentschädigung von 150 Mark.

Nach Polen wollte er nicht zurück, weil er sich dann eine neue, eine polnische Identität hätte geben müssen. Zudem war der Antisemitismus in Polen stark ausgeprägt. Warum sollte er nach all dem Erlebten unter falscher Flagge segeln? "Ich blieb in einer Stadt, die ich mir als Wohnort nicht ausgesucht hatte" - in Frankfurt also - und nicht zuletzt seiner kranken Mutter und seiner kranken Schwester wegen. Und schließlich meint er, der sich heute weder als polnischer noch als deutscher Jude empfindet: "Heimat ist da, wo die Freunde sind." So hielt er es bis heute in Frankfurt aus und er blieb auch der Stadt mit der eigentlich liberalen Tradition treu.

Dort hat er sich schon sehr bald auch kommunalpolitisch engagiert, zum Beispiel im Jugendwohlfahrts-Ausschuss der Stadt Frankfurt, beim Wiederaufbau der jüdischen Gemeinde, als Vorsitzender der Budge-Stiftung, dem einzigen paritätisch jüdisch-christlichen Altenzentrum Europas, später beim Aufbau des Jüdischen Museums. Richtig "angekommen" ist er in Deutschland erst, als seine erste Tochter geboren wurde.

Um richtig Geld zu verdienen, Mutter und Schwester zu ernähren, wurde er, der sicher zum Historiker prädestiniert war, Damenbekleidungs-Fabrikant. Das ermöglichte ihm erst einmal ein anderes Leben. Wie befreiend muss für ihn der erste Urlaub 1954 in Nizza gewesen sein nach all den demütigenden Erfahrungen! Auf einem Foto wirkt er, dessen Augen einen häufig unendlich melancholisch anschauen, unter der südlichen Palme geradezu strahlend und selbstbewusst wie ein Hollywoodstar.

Neue, andere Lebens- und Aufbauerfahrungen halfen ihm dabei, aus jeder Situation das Positive zu ziehen und weiterzumachen. Aber die Zeit des aktiven Geschäftslebens ging auch für ihn mit einem sehr langen Schweigen einher. Er konnte über die Erfahrungen, die er in den Lagern gemacht hatte, nicht sprechen. Bis heute erbost es ihn, dass man ihn zum "menschlichen Schrott" degradieren wollte. Als Häftling der untersten Kategorie mit der geringsten Lebenserfahrung war man das. Es wurde ihm sogar noch nach Jahren von einem privilegierten linksintellektuellen Lagerhäftling und Historiker in der Paulskirche vorgehalten. Sein verhaltener Zorn wuchs. "Ich brauchte 40 Jahre, um über das Erlittene sprechen zu können" und "konnte nicht in den Spiegel des eigenen Lebens schauen. Vielleicht konnte ich es auch nur durch Schweigen überstehen".

Niemand fragte ihn in den vielen Nachkriegsjahren nach seinem Schicksal. Die meisten glaubten ihm schlicht nicht, was geschehen war. Und wenn er etwas erzählen wollte, hielt man immer das eigene Leid entgegen. Also lernte er mit dem "Verdrängen" und dem Schweigen zu leben. Sein kämpferischer Geist und das Bedürfnis, Unrecht aufzuarbeiten, die Zivilcourage der Juden, auch die der Widerstandskämpfer zu dokumentieren, lebten jedoch in dem Humanisten, der acht Sprachen beherrscht, weiter. Ihn, der selbst im Untergrund gekämpft hatte, bevor er 1943 nach Auschwitz deportiert wurde, ließen die Schicksale der mutigen jüdischen Widerstandskämpfer ebenso wenig los wie die derjenigen, die sich für das gesellschaftliche Wohl engagierten. Eines ist ihm heute bewusst: "Auschwitz war meine Universität". Diese Erfahrung teilt er mit dem ungarischen Schriftsteller Imre Kertész ("Roman eines Schicksallosen"). Im Lager hatte er schließlich auch Primo Levi und Jean Améry kennen gelernt, die beide keine positive Lebensperspektive mehr entwickeln konnten.

Bezeichnenderweise beschäftigt sich sein erstes Buch damit nicht. Er widmet es den wichtigen jüdischen Persönlichkeiten, die der Stadt Frankfurt bedeutende Stiftungen hinterlassen hatten: u. a. der Frauenrechtlerin Bertha Pappenheim, die eine Suppenküche für jüdische Flüchtlinge aus der Ukraine einführte, oder Charles Hallgarten, der Arbeiterwohnungen erbaute, oder Henry Budge, der mit seiner Frau Emma 1928 ein Pflegeheim schuf. Er wollte damit dokumentieren, dass es viele gute Gründe gab, in dieser Stadt den Juden dankbar zu sein.

Die Schicksale der europäischen Juden, die im Widerstand tätig waren, gingen ihm nicht aus dem Gedächtnis. Darüber hinaus recherchierte er u. a. in New York in der Public Library und in Yad Vashem. Das Motto Hans Sahls: "Juden schreibt und zeichnet alles auf" hatten sich viele zu Herzen genommen. Sie versuchten, auch im Untergrund Spuren zu hinterlassen. Immer wieder war Lustiger dem Vorwurf begegnet, dass die Juden "wie Lämmer zur Schlachtbank" geführt wurden. Er selbst hatte es doch ganz anders erfahren und wollte dagegenhalten. Da vertraut er nicht nur den Schriftdokumenten, sondern auch der oral history, der erzählten Geschichte. Geschichte und Geschichten müssen synchron nebeneinander gelesen werden, lautet sein Ansatz. Lustiger wusste, welche Rolle die Juden im Spanischen Bürgerkrieg, welche sie unter Stalin gespielt hatten, er wusste um den Aufstand im Warschauer Ghetto. Er fing an, Biografien und Taten mutiger und tatkräftiger Juden festzuhalten. Und ihn ärgerte die "Deutungshoheit über die Shoa" einiger Linksintellektueller.

Zu publizieren begann er erst nach seinem 60. Lebensjahr. Das erste Buch handelte, wie beschrieben, von den Frankfurter Stiftungen, die späteren Bücher von den mutigen Judenrettern - vor allem in Polen -, ebenso wie von den Spanienkämpfern. Die Beschäftigung mit der Vergangenheit hat ihn nicht verbittert. Denn "immerhin sind insgesamt fünf in meiner Familie gerettet worden."

Sein eigenes Schicksal scheint er trotz der überstandenen beiden Todesmärsche und der Demütigungen nicht als so wichtig zu empfinden. Hätte Aufbau-Verleger Bernd F. Lunkewitz ihn nicht gedrängt, etwas über sich selbst zu schreiben, er hätte es vermutlich nicht angepackt. Er hat so viele andere Schicksale und Geschichten zu erzählen. So wurde er im hohem Alter schließlich doch noch Historiker. Seit neuestem ist der vielfach ausgezeichnete Doktor honoris causa auch verpflichtet worden, an der Frankfurter Universität und am Fritz-Bauer-Institut über den "jüdischen Widerstand" zu lehren. Keine Frage: Es ist eine Ehre und ein Gewinn, seinen kenntnisreichen, lakonischen, oft auch humorvollen Geschichten zuhören zu dürfen.

Titelbild

Arno Lustiger: Sing mit Schmerz und Zorn. Ein Leben für den Widerstand.
Aufbau Verlag, Berlin 2004.
303 Seiten, 22,50 EUR.
ISBN-10: 3351025793

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