Mendelovo

Auf den Spuren des Vererbungstheoretikers Johann Gregor Mendel

Von Marc RölliRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marc Rölli

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es handelt sich nicht um ein Buch über Mendel, das Frau Eckert-Wagner unter dem in die Irre führenden Titel "Mendel und seine Erben" publiziert hat. Stattdessen wird der verwirrte Leser mit einer rührseligen sudetendeutschen Familiengeschichte konfrontiert. Die fromme Autorin möchte ihren Beitrag zur Versöhnung und Aussöhnung von Deutschen und Tschechen leisten und dabei Probleme aufarbeiten, die aus der Vergangenheit her ihre Identität umwölken: ihre Eltern sind "Heimatvertriebene", sie selbst fühlt sich als "Heimatlose", die in dem Buch ihre Suche nach der "alten Heimat" dokumentiert. Mendel (1822-1884) wird dabei als Urahn in Anspruch genommen, wohl um die Verkaufschancen des Buches und die Bedeutsamkeit des Gesagten über die Grenzen einer privaten Selbstverständigung hinaus zu steigern. Das ist bemerkenswert, weil es die Ahnungslosigkeit dokumentiert, die heute in Bayern angesichts der Geschichte der Vererbungslehre noch möglich ist.

Schließlich steht die Wiederentdeckung der Mendel'schen Gesetze durch Hugo de Vries, Carl Correns und Erich von Tschermak am Beginn einer neuen Ära der Biologie (Genetik), die eine experimentelle und statistische Neuausrichtung der Eugenik (Ploetz prägte dafür den deutschen Begriff der Rassenhygiene) möglich machte. Um die Jahrhundertwende waren eugenische Vorstellungen über Parteigrenzen hinweg weit verbreitet, die für die bevölkerungspolitische "Ausmerze" von "schädlichem Erbgut" plädierten. Dieser "Biopolitik" aber schaffte die Vererbungstheorie ("Mendelismus") die biologischen Grundlagen. Die Folgen sind bekannt. Die Autorin, Mendel im Stammbaum (im Buch stolz abgedruckt), hat sich darüber keine Gedanken gemacht. Sie begnügt sich mit der Auskunft, dass die Mendel'schen Gesetze Gemeingut sind, wohl im Sinne eines wissenschaftsgeschichtlichen faktum brutum. Sie verrät, dass sich "der Vererbungsgedanke" während ihres Soziologiestudiums "in der Defensive befand": "nicht nur überholt, sondern auch politisch nicht korrekt. Erst mit dem Siegeszug der Gentechnologie und in ihrem Gefolge der Genetik wurde auch Mendel wieder aktuell." So scheint die "neue" Aktualität die soziologischen Bedenken ausgeräumt zu haben? Aber welche neue Aktualität ist gemeint? Die Genetik jedenfalls konstituiert sich um 1900 als neue Wissenschaft.

Ohne weiter auf diese und andere mit den Vererbungswissenschaften verbundenen Probleme einzugehen, beschäftigt sie sich mit ihrem Herzensanliegen: "Mit seinem Heimatort Heinzendorf im Kuhländchen war Mendel zeitlebens in Verbindung." Aus dem Ort Hyncice - so der tschechische Ortsname - stammt nämlich die (vertriebene) Familie der Autorin. In vertrauter Naivität herrscht das Bild von der guten alten Heimat. "Nur die Politik belastet das Verhältnis zwischen den beiden Nationen." Die Politik scheint demnach vom Himmel zu fallen. Völlig aus dem Blick gerät, dass die Sudetendeutsche Partei (SdP) Konrad Henleins noch vor dem Einmarsch der Deutschen den "Anschluss" an das Deutsche Reich forderte. In der Zeit nach dem Münchner Abkommen von 1938 unterstützte die SdP aktiv Hitlers Lebensraum-Politik. Die Autorin vergisst im Ressentiment, dass die Beneš-Dekrete und die darauf folgende Vertreibung der Sudetendeutschen eine (üble, z. T. menschenverachtende) Reaktion darstellt auf vorangegangenes, primäres, unentschuldbares deutsches Unrecht (womit Mendel selber unmittelbar nichts zu tun hatte, weshalb der folgende Vergleich auch hinkt): "Heute schmücken sich die Tschechen mit dem berühmten Vererbungsforscher, reklamieren ihn als einen der ihren, indem sie aus Mendel kurzerhand einen tschechischen 'Mendelovo' machen [...]. Wäre Mendel jedoch nicht im Jahre 1822 geboren, sondern hundert Jahre später, so hätten die Tschechen den jungen Mann genauso aus ihrem Land vertrieben, wie sie es mit all seinen Angehörigen getan haben. Und zwar nur deswegen, weil er Deutscher war - und man die 'deutsche Frage' ein für alle Mal lösen wollte."

Damals im Kuhländchen war (wie der Name schon sagt) die Welt noch in Ordnung. Die Reise dahin ist eine Fahrt in die Vergangenheit, in eine zum Teil "verschandelte", "runtergekommene" Gegenwart - und die Schuldfrage treibt ihr heimliches Unwesen: was haben die Tschechen den Deutschen nicht angetan. Und das Schlimmste ist: sie haben - scheinbar - nicht einmal ein schlechtes Gewissen. "Im Juni 2000 ist es soweit. Da man uns von verschiedenen Seiten vor einer Fahrt mit dem eigenen Pkw gewarnt hat [sic!], entscheiden wir uns für eine organisierte Busfahrt, die von einem Nördlinger Reiseunternehmer angeboten wird. [...] Die Reise zusammen mit Gleichgesinnten hat neben den Sicherheitsvorteilen auch einen besonderen Charme." Geteiltes Leid ist halbes Leid. Der Bus passiert Prag, kein Wort darüber. Troppau hat sich kaum verändert (wie schön), "befremdlich" ist, dass die Stadt ausschließlich von Tschechen bevölkert ist - die sogar "ihren verstaubten Kommunisten-Look" abgelegt haben. "Der Versuch, die Geschichte der Deutschen in dieser Gegend auszulöschen, ist weitgehend gelungen [...]: Ob es nun die Tschechisierung unseres Vorfahren Gregor Mendel ist [...]."

"Total von innen verkitscht" (F. Nowak) bedroht die Autorin ihre Leser mit ursprungsnahen Erfahrungen: sei es, dass sie "andächtig die zwölf Seiten" der Mendel'schen Handschrift "Versuche über Pflanzen-Hybriden" beim Augustiner-Pater Clemens, dem "Gralshüter", durchblättert, sei es, dass sie auf dem Brünner Bauernmarkt "Federwischel" bemerkt, die "zum Bestreichen von Buchteln und anderem Gebäck" gebraucht werden - "leider ist das Flechtwerk der hier angebotenen 'Wischel' nachlässig gefertigt, und so kaufe ich keinen" -, sei es, dass sie davon erzählt, "in den Kaffeehäusern auf rotem Samtpolster zu sitzen und zum Topfenstrudel einen kleinen braunen Mocca" zu trinken.

Geben wir zum Schluss der Autorin noch einmal das Wort: "Die Fahrt ist zu Ende. Wehmut wird wohl das prägende Gefühl bleiben, das ich in Zukunft mit dieser Reise verbinden werde. Wehmut über den Verfall und die Verschandelung der Siedlungen, Wehmut aber auch über den Untergang einer Kultur, die wohlhabende, schöne Dörfer und architektonisch bezaubernde Städtchen hervorgebracht hat, deren einstigen Glanz man noch erahnen kann [...]. Und zuletzt auch eine gewisse Wehmut über den Charakter dieser Art von Reise, die es so auch nicht mehr lange geben wird: ein Bus voller älterer Menschen, die nicht als Touristen unterwegs sind, sondern - verbunden durch die gemeinsame Herkunft - auf der Suche nach einem persönlichen Ziel: dem Haus der Eltern, einer lange verschollenen Schulfreundin [...], Erinnerungen an eine glückliche Zeit, oder auf der Suche nach den eigenen Wurzeln." - Schüttelfrost.

Titelbild

Silvia Eckert-Wagner: Mendel und seine Erben. Eine Spurensuche.
Books on Demand, Hamburg 2004.
160 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-10: 3833417064

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