Die ungeheuerliche Weiße des Wals

Zu Herman Melvilles Roman "Moby-Dick oder: Der Wal"

Von Thilo RissingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thilo Rissing

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Klassiker der Weltliteratur zeichnen sich gemeinhin dadurch aus, dass sie zwar jeder kennt, aber nur wenige sie auch wirklich gelesen haben. Um einen solchen Fall dürfte es sich auch bei Herman Melvilles Hauptwerk "Moby-Dick oder: Der Wal" handeln. Umso glücklicher kann sich das Lesepublikum schätzen, dass dieser Roman nun in einer edel illustrierten, schmuckvollen Ausgabe in Neuübersetzung beim Verlag Zweitausendeins erschienen ist, die zu ausgiebiger (Re-)Lektüre verlockt.

Der Roman des amerikanischen Schriftstellers Herman Melville (1819-1891) beschreibt die Abenteuer des Walfangschiffes Pequod und seiner Besatzung. Im Zentrum des Werkes steht der mythisch überhöhte Zweikampf auf Leben und Tod zwischen Kapitän Ahab und dem weißen Wal Moby-Dick. Dieser ist ein legendenumrankter Meeressäuger, der nicht nur allen bisherigen Fangversuchen der Waljäger durch List und Gewalt Widerstand leisten, sondern auch das letzte Zusammentreffen mit dem erfahrenen und unerschrockenen Ahab für sich entscheiden konnte, indem er diesem ein Bein abriss und entkam. Ahabs einziger Gedanke gilt seitdem der Rache für diesen schmerzvollen Verlust. Als Kapitän der Pequod gilt somit sein Interesse weniger dem Anliegen der Schiffsinhaber, die möglichst viele Wale gefangen sehen wollen, um maximalen Gewinn aus der Unternehmung zu schöpfen, als vielmehr seiner privaten Fehde gegen Moby-Dick. Dabei nimmt Ahab auch in Kauf, dass die eigentlichen Ziele der Reise, das Füllen aller vorhandenen Behältnisse mit Walrat und Fleisch sowie die unversehrte Rückkehr des Schiffes, gefährdet werden.

Das Geschehen auf dem Walfängerschiff wird von Ishmael, einem einfachen Mitglied der Besatzung berichtet, der auf der Pequod zusammen mit seinem "Heidenfreund" Queequeg angeheuert hat. Ishmael spielt in der Hierarchie der Besatzung eine untergeordnete Rolle, doch er nimmt an allen Unternehmungen der Walfänger teil und vermittelt lebendig die Abenteuer und den Alltag der Walfänger auf ihrer jahrelangen Reise über die Weltmeere. Die Walfangschiffe erscheinen als kleine Unternehmen, die fremdfinanziert auf Reisen geschickt werden, um nach mehreren Jahren erfolgreicher Waljagd auf hoher See in ihren Heimathafen zurückzukehren und ihre Ladung Walfleisch und Tran zu löschen. Während ihrer Zeit auf See bilden diese Walfängerschiffe eine Welt für sich, die durch ihre eigenen Gesetze bestimmt wird. Der Walfang lockt Menschen an, deren Sehnsucht nach Abenteuer, Freiheit und dem schier unbegrenzten Raum des Meeres größer ist als alles, was ihnen das Landleben bieten könnte.

Dementsprechend abenteuerlustig und bunt erscheint die Besatzung der Pequod. Neben dem grüblerisch-verschlossenen und fanatischen Kapitän Ahab haben die drei Kommandierenden der kleinen Walfangboote Starbuck, Stubb und Flask das Sagen. Sie alle sind erfahrene Seeleute, die seit frühester Kindheit auf zahlreichen Walfangschiffen angeheuert haben. Unter ihnen ist Starbuck derjenige, der nach dem Kapitän die meiste Verantwortung trägt, und der im Laufe der Reise des Öfteren mit Ahab aneinander gerät, weil sich dessen Ziel, Moby-Dick auf Gedeih und Verderb zu verfolgen, nicht mit den Erwartungen der Schiffseigner auf Profitmaximierung in Einklang bringen lässt. Jeder der drei Bootskommandeure hat einen Harpunier an seiner Seite, auf dessen Schultern die Verantwortung eines erfolgreichen Jagdabschlusses lastet. Queequeg, Tashtego und Daggoo sind temperamentvolle und furchtlose Riesen - ehemalige Eingeborene verschiedener Kontinente, die es alle auf ihrer Suche nach Glück auf die Pequod verschlagen hat -, die dank ihrer Körperkraft die kleinen Boote auf Wurfweite an den Wal heranmanövrieren, um ihm dann per Lanze den Todesstoß zu versetzen. Neben der Besatzung, die sich noch aus weiteren Matrosen und zudem aus Koch, Schmied und Zimmermann zusammensetzt, gibt es eine Crew, die heimlich von Ahab an Bord geschleust wurde und deren Anführer eine unheimliche Gestalt mit Namen Fedallah ist. Dieser hat beträchtlichen Einfluss auf den Kapitän des Schiffes und bildet den entscheidenden Berater in allen Angelegenheiten, die mit der unheilvollen Jagd auf Moby-Dick zu tun haben.

Der Roman berichtet aber nicht nur von den Verhältnissen an Bord, sondern schlägt einen Erzählbogen, der anhand des Walfangs zugleich eine Charakterisierung des neuzeitlichen Denkens erlaubt. Ähnlich wie Michel Foucault die Entstehung der Humanwissenschaften am Beginn der Neuzeit konstatiert, werden bei Melville einzelne Kapitel wissenschaftlicher Erforschung des Wals in die Handlung eingeflochten, die sich mit der geschichtlichen Überlieferung, der Anatomie, dem Verhalten und der Nutzung der Wale beschäftigen. Die detaillierten wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Meeressäuger sind dabei kein Selbstzweck, sondern gewährleisten eine bessere Ausbeutung der Wale als wirtschaftlich relevanter Ressource. Der Hintergrund für diese Verwissenschaftlichung des Umgangs mit der Natur liegt darin, dass der Walfang in der Neuzeit als Teil eines globalisierten Wirtschaftszweiges die Versorgung der Menschheit mit Öl, Tran und Walrat garantiert, der z. B. die Produktion von Kerzen, Seife und anderen Industriegütern beinhaltet. Die Walfänger aus Nantucket an der amerikanischen Ostküste schwärmen in die ganze maritime Welt aus, um möglichst viele Wale zu erlegen, zu verarbeiten und einzulagern. Jedes dieser zahlreichen Schiffe stellt somit eine kleine Fabrik zur Verarbeitung der Wale dar, wobei die Jagd den zwar gefährlichsten, aber geringsten Teil der Arbeit darstellt. Nachdem der Wal erlegt ist, beginnt das Zergliedern des riesigen Tierkörpers und die genau beschriebenen Arbeitsgänge zur Konservierung und Lagerung des Walfleisches und Walrats. Alle Abläufe auf dem Schiff sind bis ins Detail organisiert. Jedes Mitglied der Besatzung hat seine spezifische Aufgabe, um zu gewährleisten, dass die Waljagd erfolgreich verläuft. Da das Schiff für Jahre fern des Heimathafens auf hoher See unter widrigsten Verhältnissen operiert, müssen alle wichtigen Geräte, genügend Proviant und zugleich alle zur Verarbeitung und Konservierung des Walfleisches notwendigen Apparaturen an Bord sein. Aus diesen einfachen Tatsachen ergibt sich, dass die Ausrüstung eines Walfängers mit Besatzung, Proviant und Gerät eine kostspielige Angelegenheit ist, welche nur unter der Bedingung Rendite abwirft, dass auch die Fangquote dementsprechend hoch ist.

Vor diesem Geflecht aus wissenschaftlichen und ökonomischen Interessen wirken die Zweikampfbeschreibungen zwischen Mensch und Wal auf eigentümliche Weise archaisch. Die mythische Überhöhung der Waljagd kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Mensch seinem natürlichen Widersacher längst überlegen ist. Die Betonung der gefahrvollen Aspekte des Walfangs scheint lediglich zur Legitimation eines Umgangs mit Natur zu dienen, der nicht länger der Selbstbehauptung des Menschen gegenüber einem übermächtigen Gegner dient, sondern der Ausbeutung und Unterdrückung der Natur. Wissen und Macht bilden inzwischen ein unzertrennliches Band. Ganz Kind seiner Zeit, wird der Erzähler unirritiert von dieser neuzeitlichen Ratio getragen, die dem Menschen die technischen Möglichkeiten zur Verfügung stellt, um die Natur auszubeuten. Besonders deutlich wird diese Mischung aus Rationalität, Effizienz und ökonomischer Gier in einem Kapitel geschildert, wo die Pequod auf eine Herde Potwale stößt. Ziel der Unternehmung ist die Tötung und Verarbeitung einer höchstmöglichen Zahl an Tieren. Dazu gehört auch das mit Stolz erzählte Vorgehen, den entfliehenden Walen die Schwanzsehnen zu durchtrennen, damit sie nicht fliehen und zu einem späteren Zeitpunkt getötet und geschlachtet werden können. Andere Wale werden mit Gewichten harpuniert, die sie am Fortschwimmen hindern und erschöpfen, bis die Crew die Zeit findet, sich ihrer auf brutalste Weise anzunehmen. Diese ungeschönt beschriebenen Ereignisse zeigen das Auseinanderdriften von Rationalität und Menschlichkeit, das durch die Entwicklung immer raffinierterer Methoden nicht behoben, sondern durch emotionale Distanznahme und Abstumpfung befördert wird.

Die schillerndsten Figuren des Romans sind diejenigen, die sich durch ihren Charakter dem neuzeitlichen Denken entziehen. Zum einen handelt es sich dabei um den Harpunier Queequeg, den es als Sohn eines Südseehäuptlings in die westliche Hemisphäre verschlagen hat und der sich alsbald mit dem Erzähler Ishmael anfreundet. Zu Beginn des Romans wird auf anschauliche Weise beschrieben, wie sich die reservierte Haltung des Erzählers gegenüber dem Fremden zuerst in Neugier, dann in Anerkennung und schließlich in Freundschaft verwandelt. Queequeg, der mit hohen Erwartungen aus seiner Heimat in die westliche Kultur aufgebrochen war, ist alsbald von der bestimmenden Gemengelage aus Profitgier, Entfremdung und Ausbeutung ernüchtert. Indem er sich auf die magische Tradition seiner eigenen Kultur zurückbesinnt, bietet er für die Erzählerfigur ein interessantes Gegenmodell zum vorherrschenden Zeitgeist. Zum anderen konzentriert sich die ganze Aufmerksamkeit natürlich auf eine der berühmtesten Figuren des modernen Romans: Kapitän Ahab. Einem unentrinnbaren Schicksal hörig, ist seine Existenz an die des Wals Moby-Dick gekettet, der ihm als einziger seiner Gattung ebenbürtig ist. Ahab ist ein Mensch, den die jahrzehntelange Auseinandersetzung mit den Walen und den Widrigkeiten der Natur zu einem Menschenfeind und Welthasser gemacht haben. Obwohl er Familie hat und längst vom Walfang lassen könnte, wird er von Rachegelüsten zerfressen, die seine gesamten Emotionen und Gedanken ausmachen, und die ihn nicht ruhen lassen, bis er die offene Rechnung mit Moby-Dick beglichen hat. Sein Fanatismus und unauslöschlicher Hass haben ihn zu einem der berühmtesten Protagonisten der Weltliteratur gemacht, der einzig durch seine Leidenschaften bestimmt wird und so gar nicht mehr in seine rationale Umgebung hineinpasst. Dadurch wird Ahab zum tragischen Helden, einer Schwellenfigur, die in ihrem Denken und Streben noch einmal die archaische Vorzeit verkörpert, aber auf heroische Weise sterben muss, weil sie dem Zeitgeist nicht mehr entspricht.

Selbst nach über hundertundfünfzig Jahren, die seit seiner Entstehung vergangen sind, wirkt der Roman "Moby-Dick" noch immer anregend und aktuell. In ihm bündeln sich die verschiedenen Stränge des neuzeitlichen Denkens, die bis heute nicht an Geltung verloren haben. Auch wenn die Überschwänglichkeit des Erzählers nicht mehr geteilt werden kann, mit der er die grausame Überlegenheit des Menschen über die Wale schildert, so stellt er sich doch Fragen, die gegenwärtig immer noch von Bedeutung sind. Schon die Anfänge der Globalisierung offenbaren ihre eigenen Grenzen. Dementsprechend stellt Ishmael die Überlegung an, ob die Wale zu einem künftigen Zeitpunkt vom Menschen und seiner unersättlichen Habgier genauso ausgerottet sein werden, wie es zu seiner eigenen Zeit die Bisons in Nordamerika schon waren. Zwar verneint der Erzähler diese stille Anfrage, aber ganz sicher - und der weitere Verlauf des Walfangs gibt ihm darin Recht - scheint er sich nicht gewesen zu sein. In dieser Hinsicht ist "Moby-Dick" zugleich eine kritische Anfrage an die neuzeitliche Ratio. Frisch wirkt diese Ausgabe von "Moby-Dick" aber auch durch die Neuübersetzung von Friedhelm Rathjen, der den mutigen Versuch gewagt hat, die sprachliche Sperrigkeit des Originals beizubehalten. Wem das Lesen dieser widerborstigen Sätze vorübergehend zu anstrengend wird, kann auf einer der Zeichnungen mit dem Blick verweilen, um sich nach kurzem Verschnaufen aufs Neue in den schier unbegrenzten Text zu stürzen.

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Herman Melville: Moby-Dick oder: Der Wal.
Übersetzt aus dem Englischen von Friedhelm Rathjen.
Zweitausendeins, Frankfurt a. M. 2004.
959 Seiten, 42,80 EUR.
ISBN-10: 3861506475

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