Medizin und Moral

Über normierende Effekte wissenschaftlicher und literarischer Krankheitskonstrukte

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

In welchem Ausmaß Praktiken zur Durchsetzung sozialer Normen und Werte verstärkt seit dem 18. Jahrhundert in Auseinandersetzungen mit medizinischem Wissen verstrickt sind, beginnt man heute erst langsam zu begreifen. Medizinische 'Wahrheiten' und Begriffe haben eine normative Kraft, von der kaum eine Entscheidung über den Wert menschlicher Verhaltensweisen, Einstellungen und Lebensformen unberührt bleibt. Im Spiel und Streit der Argumente bei Auseinandersetzungen um richtiges und falsches Verhalten nehmen die medizinischen einen herausragenden Stellenwert ein. Sie werden bevorzugt dann eingesetzt, wenn es um besonders umkämpfte Wertentscheidungen geht. Dabei hat die Einführung medizinischer Argumente in Wert- und Normbegründungsdiskussionen einen dramatisierenden Effekt: Sie signalisiert, dass es um existenzielle Grundfragen geht, letztendlich um Leben oder Tod. Mit medizinischen Argumenten werden in ethischen und ästhetischen Debatten höchste Trümpfe ausgespielt, denen man zutraut, gegen Argumente anderer Art zu gewinnen.

Die Logik, nach der dabei argumentiert wird, folgt einfachen Mustern. Ich versuche einige davon zu skizzieren und zu zeigen, wie sie in bestimmte narrative Muster, in eine Poetik von Krankheitsgeschichten, integriert werden können. Am Anfang solcher Geschichten steht das Konstrukt eines harmonischen Gleichgewichtszustandes. Er wird durch irgendwelche Ereignisse oder Kräfte gestört und überführt in einen bedrohlichen Krisenzustand. Dieser steuert auf eine Situation zu, in der sich entscheidet, ob die Krise zugunsten der alten oder einer neuen Harmonie überwunden wird oder ob sie in die Katastrophe umschlägt. Raum zur Vermittlung, Legitimation oder Durchsetzung sozialer Normen lässt dieses Muster an allen Stellen. Sehen wir uns ein Beispiel an: den Fall Jakob Michael Reinhold Lenz.

Gut zweihundert Jahre liegt diese Krankheitsgeschichte zurück, und wie kaum eine andere hat sie die Aufmerksamkeit der literarischen Öffentlichkeit zwischen Goethezeit und Gegenwart für sich einnehmen können. Die ersten Anzeichen seiner schweren geistigen Erkrankung hatten sich eben vor zwei Monaten bemerkbar gemacht, als der ruhebedürftige Jakob Michael Reinhold Lenz am 20. Januar 1778 über die verschneiten Vogesen in das abgeschiedene Steintal kam. Hier suchte er auf Anraten seiner Freunde Hilfe bei dem Pfarrer Johann Friedrich Oberlin. Der protestantische Landgeistliche, der sich mit seinen pädagogischen und sozialreformerischen Aktivitäten einen Namen gemacht hatte, ging mit dem Patienten auf eine Weise um, die christlichen und zugleich aufgeklärten Tugenden vorbildlich entsprach. Diesen Eindruck jedenfalls versuchte jener Krankenbericht Oberlins, den Georg Büchner später seiner Erzählung "Lenz" zugrunde legte, mit Nachdruck zu vermitteln. Der Pfarrer, der als Helfer in derartigen Fällen einen guten Ruf hatte, war nach zwanzig Tagen in seinen Bemühungen um den kranken Dichter offensichtlich gescheitert. Die "Anfälle seiner Melancholie" (das Wort bezeichnete damals anders als heute einen krankhaften Zustand nahe dem Wahnsinn) belasteten und erschreckten die Menschen um ihn zunehmend, für den Kranken selbst nahmen sie lebensbedrohliche Formen an. Oberlin ließ den "bedauernswürdigen Patienten" daher nach Straßburg fortschaffen.

Sein Bericht darüber, adressiert an einen Kreis von Freunden und Förderern, ist mehr als ein nüchternes Protokoll der Ereignisse. Er gibt sich deutlich als Rechtfertigung gegenüber potenziellen Vorwürfen zu erkennen - und nebenbei auch als moraldidaktisches Exempel, als Fallbeispiel für normwidriges und normgerechtes Verhalten. Mehrfach und akzentuiert veranschaulichte der Philanthrop hier mit der Vorbildlichkeit seines eigenen Verhaltens, was einem aufgeklärt-empfindsamen Geist als eine der ranghöchsten Tugenden zu gelten hatte: die Fähigkeit zum Mitleid. Doch unmittelbar verknüpft mit der sympathetischen Identifikation steht, ebenso stark betont, die moralische und religiöse Distanzierung von dem Schwermütigen: "Man setze noch das zärtlichste Mitleiden hinzu, das seine unermeßliche Qual, deren Zeuge wir nun so oft gewesen, uns einflößen mußte. Denn fürchterlich und höllisch war es was er ausstund, und es durchbohrte und zerschnitt mir das Herz, wenn ich an seiner Seite die Folge[n] der Prinzipien die so manche heutige Modebücher einflößen, die Folgen seines Ungehorsams gegen seinen Vater, seiner herumschweifenden Lebensart, seiner unzweckmäßigen Beschäftigungen, seines häufigen Umgangs mit Frauenzimmern, durchempfinden mußte."

Mit seiner moralistischen Erklärung der Melancholie, die ihm als Folge normwidriger Verhaltensweisen erschien, folgte Oberlin nicht nur gängigen Denkmustern seiner Zeit, sondern er bediente sich damit, mehr oder weniger bewusst, einer Strategie zur Durchsetzung sozialer Normen, die, unterschiedlich ausgeprägt, in Diskursen über Gesundheit und Krankheit bis heute beliebt und wirksam geblieben ist. Die Lektüre verwerflicher "Modebücher" (vermutlich aus dem Umkreis des "Sturm und Drang"), Ungehorsam gegen den Vater, herumschweifende Lebensart, unzweckmäßige Beschäftigungen und häufiger Umgang mit Frauenzimmern haben, daran lässt Oberlin keine Zweifel, Lenz krank gemacht.

Wo Experten- oder Laiendiskurse über Krankheiten mit Schuldzuweisungen verknüpft sind, enthalten sie den Appell, was krank macht zu meiden, zu beseitigen oder zu verändern. Krankheit erscheint als Sanktion für ein Verhalten, das den geltenden oder postulierten Normen nicht entspricht. Theorien über Krankheitsursachen, die zu beeinflussen in der Macht menschlicher Möglichkeiten steht, tragen in sich Sanktionsandrohungen, die zu hochgewerteten Verhaltensformen anleiten. Die meist nicht explizierte, doch präsupponierte Logik der normsetzenden Argumentation folgt einem Schema, das sich folgendermaßen umreißen lässt: Sie unterstellt zunächst einen Konsens darüber, dass Gesundheit ein Basiswert ist, der als solcher von allen am Diskurs Beteiligten einvernehmlich akzeptiert wird, dass also Krankheiten ein Übel sind, dem jeder entgehen möchte. Man gibt als ursächliche Bedingungen für Krankheiten bestimmte Verhaltensweisen an und zieht daraus den normsetzenden Schluss: Man soll diese Verhaltensweisen vermeiden.

Die unter anderem auf diese Weise hergestellte Allianz medizinischer und moralischer Diskurse hat für die normativen Konstruktionen moderner, säkularisierter Gesellschaften eine erhöhte Anziehungskraft. Denn als normsetzende Sanktionsinstanz muss nicht unbedingt ein metaphysisches Wesen angenommen werden und auch keine soziale Autorität, deren Legitimität sich bezweifeln lässt. An der menschlichen Natur selbst, so scheint es, der physischen und der psychischen, darf man sich nicht straflos versündigen.

In Büchners literarischer Krankengeschichte "Lenz" deutet sich eine Modifikation dieses Argumentationsmusters an, die symptomatisch für einen nachhaltigen historischen Wandel ist. "Lenz" lässt sich als frühes Beispiel einer in der Moderne dominierenden Strategie der Normvermittlung lesen. Büchners Erzählung knüpft einerseits an Oberlins Krankengeschichte an, sogar an eben jene Sätze, mit denen der Pfarrer die "Schwermut" seines Patienten als Folge normwidriger Verhaltensweisen erklärte. Büchner hat diese Sätze nicht einfach weggelassen, sondern ihre Moral in dieses Gespräch transformiert. Oberlins Erklärung der "Anfälle" des Kranken aus dem Ungehorsam gegenüber dem Vater überführt die Erzählung in die Forderung Kaufmanns, Lenz solle zum Vater zurückkehren und ihn unterstützen. Und Oberlins erklärender Hinweis auf die "herumschweifende Lebensart" des Kranken und seine "unzweckmäßigen Beschäftigungen" wird zum Vorwurf Kaufmanns, dass Lenz "sein Leben hier verschleudre, unnütz verliere", und zur Aufforderung, "er solle sich ein Ziel stecken". Die Pointe dieser Transformierung liegt darin, dass diejenigen Normen, deren Missachtung in der Perspektive des Oberlin-Berichtes krank macht und deren Einhaltung Gesundheit verspricht, in der Optik des Büchner'schen Textes selbst als pathogen erscheinen. Sie werden damit völlig umgewertet.

Die Logik normvermittelnder Argumentation bleibt bei Büchner die gleiche, die Norminhalte freilich werden in ihr Gegenteil verkehrt. Die in der Welt des Vaters geltenden Prinzipien der Nützlichkeit und Zweckorientiertheit menschlichen Verhaltens erscheinen alles andere als geeignet, das "Wohl" von Lenz zu fördern. Wohlbefinden und Gesundheit waren schon für einen aufgeklärten Moralisten wie Oberlin Werte, mit denen er die von ihm vertretenen Normen rechtfertigen konnte. Für Büchner behalten diese Werte ihre Gültigkeit, doch begründet er mit ihnen nun die Kritik an eben jenen Normen. In einem Bestandteil wird sie allerdings modifiziert, und auch darin ist "Lenz" beispielgebend für die Literatur der Moderne bis hin zur Gegenwart. Der aufgeklärte Moralismus tendierte dazu, den Kranken mit Schuldzuweisungen für normwidriges Verhalten zu belasten, die Ursache der Krankheit in ihm selbst zu suchen; die Moderne hingegen neigt dazu, das kranke Subjekt zu exkulpieren, die Ursachen seiner Krankheit in sozialen Verhältnissen oder kulturellen Normen zu lokalisieren und statt den Kranken diese zu belasten. Die 'moderne' Variante normvermittelnder Logik in Diskursen über Gesundheit und Krankheit folgt nicht mehr dem Schema: 'Bestimmte Verhaltensweisen machen krank, vermeide diese also!', sondern kollektiviert es in der Weise, dass nicht mehr vorrangig das Individuum, sondern soziale Lebensformen und kulturelle Normen für die Krankheiten des Einzelnen haftbar gemacht und als veränderungsbedürftig hingestellt werden: 'Bestimmte Verhältnisse machen krank, diese sind also zu verändern!'

In Büchners "Lenz" deutet sich ein Perspektivenwechsel in der Literaturgeschichte normvermittelnder Diskurse über Gesundheit und Krankheit von der Art an, wie er von medizinhistorischer Seite im Hinblick auf epidemiologische Forschungen im 20. Jahrhundert und auf die dort statistisch belegten Korrelationen zwischen "der Zugehörigkeit zu einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe und der Anfälligkeit für bestimmte Krankheiten" folgendermaßen beschrieben wurde: "Zum ersten Mal ist damit nicht mehr der Kranke selbst an seinem Zustand schuld, etwa weil er gesündigt hat, wie es zahlreiche religiös fundierte Konzepte besagten, oder weil er gegen gesellschaftliche Normen verstoßen hatte, wie es in weltlichen Sozialtheorien fundierte Konzepte besagten; die Gesunden, die Privilegierten trifft nun die Verantwortung, die Schuld! Nicht der Kranke muß seinen Lebensstil ändern, um zu gesunden, die Gesunden müssen ihren Lebensstil ändern, um den 'Benachteiligten' zur 'Gesundung' zu verhelfen."

Krankheiten können unter solchen Gesichtspunkten der Anklage gegen soziale Normen dienen, die als pathogen gelten, und den Appell legitimieren, sie durch andere, 'gesündere' zu ersetzen. Mit diesem Perspektivenwechsel, der sich bei Büchner ankündigt und gegen Ende des 19. Jahrhunderts durchzusetzen beginnt, geht vielfach eine veränderte Einstellung zu wesentlichen Bestandteilen bürgerlicher Wertvorstellungen einher. Diese gelten nun nicht mehr als naturgemäße Garanten der Gesundheit, sondern als naturwidrige Produzenten von Krankheit. Die Natur bleibt normsetzende Instanz, die mit Krankheit sanktioniert, was ihrem Willen entgegensteht. Die dominierenden Vorstellungen darüber freilich, was den Gesetzen der Natur gemäß und damit der Gesundheit des Menschen förderlich ist, wandeln sich innerhalb eines Jahrhunderts fundamental. Der allenthalben hochgewertete Begriff der "Natur" (oder auch der des "Lebens") fungiert als Leerformel, die sich mit verschiedensten Norminhalten füllen lässt. Diese gewinnen dadurch die Aura unumstößlicher Autorität. Dass die Prinzipien aufgeklärter Moral in der (gottgegebenen) Natur des Menschen gründen, daran bestand für aufgeklärte Geister von der Art Oberlins oder auch Hufelands kein Zweifel. Auf die Natur des Menschen beruft sich indes auch Büchners Kritik eben dieser Moral. Und auf die Natur des Menschen rekurriert am Ende des Jahrhunderts ebenso der junge Alfred Döblin, wenn er gegen die bürgerliche Sexualmoral die drohenden Worte richtet: "Der Mensch ist zuerst Mensch und erst darauf Alles andre. Sein Körper verlangt seine Rechte. / Es darf kein Glied seines Körpers vernachlässigt werden, bei Strafe der furchtbarsten Krankheiten. Und wer es wagt, der Natur zu trotzen, seine 'tierischen Triebe' zu unterdrücken, er wird in diesem Kampfe gebrochen unterliegen. / Tierische Triebe! / Was ihr tierisch nennt, ist das einzige natürliche bei unsrer Gesellschaft."

In der goethezeitlichen Anthropologie dominierte, besonders in ihren rationalistischen Ausprägungen, die Vorstellung, dass Affekte, Leidenschaften, Fantasien und sinnliche Triebe, die sich der Disziplinierung durch Vernunft und Moral entziehen, krankhaft sind oder krank machen. In der Moderne verkehrt sich diese Vorstellung tendenziell zu einem Krankheitsmodell, das der moralischen und vernunftbetonten Disziplinierung naturwüchsiger Leidenschaften und Affekte pathogene Wirkungen zuschreibt. Leidenschaften nannte Kant in seiner Anthropologie "Krebsschäden für die reine praktische Vernunft und mehrenteils unheilbar". Er disqualifizierte sie als "pragmatisch verderblich" und "moralisch verwerflich" zugleich. Die Herrschaft der theoretischen und praktischen Vernunft über die amorphen, wild wuchernden Mächte unkontrollierter Gefühle, Fantasien und Körperkräfte galt als Voraussetzung menschlicher Freiheit und Gesundheit. Die Philosophie wird nach Kant zur Heilkunde und die Heilkunde zur Philosophie, "wenn bloß die Macht der Vernunft im Menschen, über seine sinnliche Gefühle durch einen sich selbst gegebenen Grundsatz Meister zu sein, die Lebensweise bestimmt." So steht es in der Schrift über die Makrobiotik Hufelands, der sich seinerseits auf Kant berufen konnte, als er gegen den Materialismus jener Ärzte, die auf der "Abhängigkeit des Geistes von dem Körper" insistierten, die rhetorische Frage formulierte: "Aber wohin führt diese Ansicht? [...] Vernichtet sie nicht alle Moralität, alle Kraft der Tugend, die eben in dem Leben der Idee und ihrer Herrschaft über das Leibliche besteht? - Und somit alle wahre Freiheit, Selbständigkeit, Selbstbeherrschung, Selbstaufopferung, genug das Höchste, was der Mensch erreichen kann: den Sieg über sich selbst?"

"Kampf", "Macht", "Herrschaft", "Sieg": der aufgeklärte Diskurs über die Bedingungen von Gesundheit und Krankheit ist durchsetzt von militärischem und politischem Vokabular. Mit ihm wird das bürgerliche Subjekt zum Schauplatz eines Kampfes um Macht erklärt, in dem die Herrschaft des Geistes über den Körper, der Sieg der Vernunft gegen alles Vernunftwidrige Souveränität und Gesundheit garantieren. In der Moderne hingegen verliert der klassische Typus des um seine Autonomie ringenden Kämpfers seine erhabenen Qualitäten und wird zur pathologischen Figur. Das Frühwerk Alfred Döblins liefert hierfür eine Vielzahl von Beispielen. Es variiert, ähnlich wie zur gleichen Zeit Werke Arthur Schnitzlers, Robert Musils oder Thomas Manns, die Beschreibungen derartiger Kämpfe in immer neuen Ausprägungen. Stets zeigt es den verbissen um seine Autonomie kämpfenden Bürger als Verlierer, oft als von Krankheit oder Tod gebrochene Figur. Und zum Verlierer und Kranken wird dieser Typus nicht etwa, weil er als Kämpfer mit dem Mangel der Schwachheit behaftet wäre, sondern weil er diesen Kampf in hybrider Selbstüberschätzung überhaupt aufgenommen hat.

Für die "Krebsschäden", die Kant metaphorisch den unzivilisierten Leidenschaften anlastete, macht die Moderne des 20. Jahrhunderts, die sich darin von Freud, vor allem aber auch von Nietzsche anregen oder bestätigen lassen konnte, die Disziplinierung oder 'Verdrängung' dieser Leidenschaften durch die bürgerliche Moral verantwortlich. In einem ganz wörtlichen, unmetaphorischen Sinn hat in den siebziger Jahren Fritz Zorns autobiografische Krankheitsgeschichte "Mars" den Krebsschaden, über den das Buch berichtet und an dem der Autor selbst zugrunde ging, einer körper- und affektfeindlichen Kultur zugeschrieben. Im 20. Jahrhundert stellt die Moderne jene Moral, die im 18. Jahrhundert und noch weit darüber hinaus das ihr Entgegengesetzte pathologisierte, selbst unter Pathologieverdacht. Weiterhin stehen Krankheitsvorstellungen dabei im Dienst der Legitimation sozialer Normen und Werte, doch werden sie jetzt zum Argument der Abwertung dessen, was vormals hochgewertet, und der Aufwertung dessen, was vorher abgewertet wurde.

Die literarischen Diskurse über pathogene Verhältnisse fanden in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts vielfältige Anregungen und Bestätigungen von verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen und Teildisziplinen. Die Produktion sozialwissenschaftlicher, psychologischer oder medizinischer Untersuchungen und Theorien über Umweltfaktoren bei der Entstehung von Krankheiten hat seit den siebziger Jahren ein kaum mehr überschaubares Ausmaß angenommen und, vermittelt über ein reges Interesse der Massenmedien, das Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit erreicht. "Die sozialepidemiologische Arbeit der letzten drei Jahrzehnte, insbesondere wichtige Durchbrüche in den siebziger Jahren, haben zur Entstehung eines neuen Paradigmas der Soziogenese von Krankheit geführt", konstatierte 1981 ein umfassender Überblick über die einschlägige Forschungsliteratur des vorangegangenen Jahrzehnts. Von einem neuen Paradigma, "das die Grundprinzipien der Epidemiologie - die Begriffe des Risikos und der Wahrscheinlichkeit - langsam auf die gesamte Medizin ausdehnt", sprach etwa zur gleichen Zeit auch der angesehene Sozialmediziner Hans Schaefer. Sein viel beachtetes "Plädoyer für eine neue Medizin" bestätigte und popularisierte zu weiten Teilen nur, was von vielen anderen ähnlich formuliert und gefordert wurde: die Beachtung der "multifaktoriellen Genese" von Krankheiten, besonders der chronischen (Herzinfarkt, Krebs, Depression, Schizophrenie u. a.); die Einsicht in die fundamentale Bedeutung von Umwelteinflüssen auf die Genese und den Verlauf von Krankheiten, und zwar sowohl der "technischen, gesellschaftlich bedingten Einflüsse mit Lärm, Strahlen, Luft- und Wasserverschmutzung" als auch der psychischen in sozialen Beziehungen.

Dass "Krankheit etwas mit Kultur zu tun hat", wie Schaefer betonte, bemühten sich, meist in Opposition zur Schulmedizin, soweit diese dem naturwissenschaftlichen Paradigma des 19. Jahrhunders verhaftet blieb, in den vergangenen Jahren Theorien, Teiltheorien und Pseudotheorien unterschiedlichster Provenienz zu zeigen. Die Diskurse der Psychoanalyse, Psychosomatik, Psychophysiologie, Stress- und Risikofaktorenforschung, Sozial- und Ethnopsychiatrie, Sozialisationsforschung oder Epidemiologie vermischten, ergänzten und befehdeten sich hierbei. Ihre Ergebnisse und Schlussfolgerungen differierten erheblich, hatten indes eines gemeinsam: sie waren ein Politikum ersten Ranges. Die Ökologiebewegung, die in der kollektiven Gefährdung menschlicher Gesundheit (neben Asthma, Allergien und Pseudo-Krupp vor allem Krebs) ihre stärksten, weil medizinisch gestützten Argumente fand, wurde im politischen Kräftefeld der Bundesrepublik zu einer ernst zu nehmenden Größe. Doch tangierten diese Diskurse nicht nur Gesundheits- und Umweltpolitik; sie waren darüber hinaus in hohem Maße dazu geeignet, dem kollektiven Bedürfnis nach Orientierungswissen in der alltäglichen Lebenswelt bis in intimste Bereiche hinein entgegenzukommen.

Wenn Gesundheit und Krankheit abhängig sind von der Umwelthygiene, der Struktur familiärer Beziehungen, von Erziehungsmustern, Ernährungsgewohnheiten, dem Gebrauch von Genussmitteln, dem Sexualverhalten, dem Umgang mit den eigenen Affekten, den persönlichen Strategien der Konfliktlösung, der Freizeitgestaltung, den Bedingungen beruflicher Arbeit, den Wohnverhältnissen und so fort, dann sind einigermaßen glaubwürdige und plausible Aussagen über solche Abhängigkeiten von vornherein mit hochwirksamen normativen Appellen verbunden. "Gesundheit in einer Gesellschaft", schrieb Hans Schaefer, "bedeutet immer auch, daß die Menschen wechselseitig gesundheitsgerecht miteinander umgehen, Krankheit ist andererseits in vieler Beziehung die Folge falscher gesellschaftlicher Verhaltensweisen." Es geht also dort, wo die Krankheitsursachen in gesellschaftlichen Verhältnissen gesucht werden, um die Möglichkeit, begründete und handlungsorientierende Aussagen über richtiges, das heißt "gesundheitsgerechtes", und "falsches", das heißt gesundheitswidriges Verhalten zu machen. Die sich Ende der sechziger Jahre im Umkreis der Studentenbewegung konstituierende "Gesundheitsbewegung", die an der Durchsetzung der von Schaefer beschriebenen Wandlungen im medizinischen Selbstverständnis maßgeblichen Anteil hatte, bezog dementsprechend ihre gesundheitspolitischen Imperative aus der Einsicht, "daß gerade die Volks- und Massenkrankheiten weitgehend sozial- und verhaltensabhängig sind und ihre wirksame Bekämpfung vor allem die Veränderung der Arbeits-, Lebens- und Umweltbedingungen sowie spezifischer Verhaltensweisen erfordert."

Medizin ist "eine Handlungswissenschaft", deren Erkenntniswert "vor allem in der Anweisung zum richtigen Handeln liege", befand in den achtziger Jahren der renommierte Freiburger Internist Wolfgang Gerok in einem Aufsatz mit dem Titel "Gesundheit - eine utopische Vorstellung?" Die "Anweisungen zum richtigen Handeln" beziehen potenziell umso mehr normengeleitete Bereiche und Institutionen des sozialen Lebens ein, je umfassender die Medizin soziale Bedingungen von Gesundheit und Krankheit zu erkennen beansprucht. Medizin wird damit zu einer normierenden Instanz mit totalisierenden Ansprüchen.

'Bestimmte Verhaltensweisen oder Verhältnisse machen krank, sie sind also zu vermeiden oder zu verändern', so lautete das bisher beschriebene Schema normativer Argumentation. Die kulturellen Vorstellungen über Krankheitsursachen produzieren Tabus und Vermeidungsregeln, deren Missachtung, so wird gedroht, zu Krankheiten führen können. Im professionellen Diskurs der Medizin betrifft dies die Ätiologie, die Lehre von den Krankheitsursachen, und ihre normativen Implikationen. Ebenso durchsetzt von normativen Ansprüchen wie die Vorstellungen über das, was krank macht, sind freilich die (aus ihnen oft abgeleiteten) Annahmen über das, was vor Krankheiten bewahrt, die Gesundheit erhält und Kranken zur Genesung verhilft, im medizinischen Diskurs also vor allem die Diätetik, Hygiene und Therapeutik.

Ein großer Teil jener Normen und Werte, deren Verinnerlichung den Habitus des zivilisierten Menschen konstituiert, ist hygienisch begründet, wobei, wie Norbert Elias am Beispiel der Anstandsregeln beim Essen und der Tabuisierung des Spuckens gezeigt hat, hygienische Begründungen oft schon vorher und aus anderen Gründen etablierte Normen erst nachträglich rationalisierten und verfestigten. Normen, die aus Vorstellungen über Krankheitsursachen abgeleitet werden, sind zum Teil mit denen, die sich aus therapeutischem, diätetischem und hygienischem Wissen ergeben, identisch. Voraussetzung zur Heilung oder Gesunderhaltung ist, krank machenden Verhaltensweisen und Verhältnissen aus dem Wege zu gehen. Während jedoch die Ätiologie eher defensive Vermeidungsregeln produziert, verlangt die Therapeutik darüber hinaus offensive Eingriffe in ein bereits vorliegendes Krankheitsgeschehen und die Diätetik eine aktive Regelung gesundheitsfördernder oder -erhaltender Lebensformen. Mit der im 18. Jahrhundert expandierenden Diätetik und Hygiene gerät auch der Alltag des Gesunden (als einem potenziellen Patienten) in verstärktem Maße in den Einflussbereich medizinischen Wissens. "Typisch für jene Zeit", so eine Medizinhistorikerin, "ist eben auch die Medikalisierung des Alltags. Nicht nur mehr und mehr Krankheiten und Patienten, auch der Alltag und die Gesunden werden nun in das medizinische Gesichtsfeld einbezogen: der Aufschwung von Hygiene und Vorbeugung ist typisch für die Medizin der Aufklärung, die sich nunmehr auch um Wohnen, Wäsche, Kinderaufzucht, Ernährung und so weiter, meist Frauensachen also, kümmert."

Die Diätetik der Goethezeit hat es zu einer bemerkenswerten Ausdifferenzierung ihrer Zielgruppen gebracht, die der Differenzierung sozialer Normen nach rollen- und situationsspezifischen Gesichtspunkten entspricht. Geschrieben wurden Diätetiken für Kinder, Jugendliche und Alte, für Frauen und Männer, für bestimmte Stände, Schichten und Berufsgruppen, für den Krieg und für Reisen. Sie versprachen dem Gesundheit, der sich in seiner Rolle und Situation den aufgestellten Verhaltensregeln entsprechend verhielt. Die von therapeutischen, diätetischen und hygienischen Vorstellungen gestützte Logik norm- und wertvermittelnder Diskurse legitimiert bestimmte, hochgewertete Verhaltens- und Lebensformen. Sie machen oder erhalten gesund, also sollte man sich an ihnen orientieren. Als Sanktionsinstanz gilt wieder die Natur, die nicht nur die Missachtung ihrer Forderungen mit unterschiedlich schweren Krankheiten bestraft, sondern auch ihre Einhaltung mit einer mehr oder weniger vollkommenen Gesundheit honoriert. "Die Natur giebt uns, wenn wir unsere Bedürfnisse nach ihrer Vorschrift einrichten, einen starken und gesunden Körper dafür zur Belohnung", belehrte der berühmte Lausanner Arzt Simon Andre Tissot 1770 die Leser seiner erfolgreichen gesundheitspolitischen Schriften. Er rechtfertigte damit die "Sitten des Landlebens", die "die Natur selbst vorgeschrieben hat".

Die Sprache, in der die Natur ihre Vorschriften kundtut, bedarf freilich, wie die 'Sprache' Gottes, professioneller Vermittler, die sie zu entziffern und zu übersetzen verstehen. Der Arzt avanciert zu einer Art Priester, er "predigt", so formulierte es 1772 ein Medizinalprofessor aus Jena, "die Gesetze der Lebensordnung, der Gesundheit und des bürgerlichen Glücks." So offen wie hier zeigen heute Repräsentanten medizinischen Wissens ihre umfassende Macht der Normierung selten. Faktisch jedoch hat die normative Macht der Medizin zusammen mit ihren Erfolgen zugenommen.

Der Aufsatz erschien zuerst unter dem Titel "Medizinische Argumente und Krankengeschichten zur Legitimation und Durchsetzung sozialer Normen" in: (Nicht) normale Fahrten. Faszination eines modernen Narrationstyps. Hg. von Ute Gerhard, Walter Grünzweig, Jürgen Link und Rolf Parr. Heidelberg: Synchron 2003. S. 147-156. Eine pdf-Fassung mit Fußnoten ist für Online-Abonnenten hier zugänglich. Teile des Aufsatzes sind übernommen aus Thomas Anz: Gesund oder krank? Medizin, Moral und Ästhetik in der deutschen Gegenwartsliteratur. Stuttgart: Metzler 1989.