Das Ende der Ideale

Heinrich Manns Kriegstagebuch "Zur Zeit von Winston Churchill"

Von Claudia SchmöldersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Claudia Schmölders

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im September 1939, eine Woche nach dem Einmarsch der Deutschen in Polen, begann Heinrich Mann, ein Tagebuch zu führen. Er schrieb bis in die Silvesternacht und weiter bis in den August 1940. Doch nach der französischen Niederlage musste er das Land seiner Träume verlassen, fast genau ein Jahr nach Beginn der Niederschrift. Am 1. September 1940 vermachte er die Handschrift der Library of Congress in Washington, um sie dort in Sicherheit zu bringen. Im April 1941, schon für Hollywood tätig, erbat er sie sich zur Ausleihe, um sie für ein amerikanisches Publikum zu überarbeiten. Gestrichen wurden die Monate Januar bis August 1940, stattdessen gab es einen Rückblick auf das Ganze. Dieser Rückblick eröffnet auch die vorliegende Ausgabe. Das Manuskript kehrte nie wieder in die Congress-Library zurück, sondern wurde Teil seiner Autobiografie "Ein Zeitalter wird besichtigt" und seines Nachlasses. Sehr sorgfältig hat man für den S. Fischer Verlag die umständliche Überlieferungs- und Entstehungsgeschichte rekonstruiert und den Text im Rahmen der Werkausgabe ausgiebig kommentiert.

Doch leidet, bei aller Sachkenntnis, der Kommentar von Hans Bach an britischem Understatement, vielleicht dem Titel geschuldet. Man wünschte sich etwas mehr Sinn für biografische Dramatik. Denn was für ein ungeheures Jahr waren diese zwölf Monate für Heinrich Mann, den größten deutschen Prosa-Satiriker, Europa-Vordenker, Sozialistenfreund und Hitlerhasser damals in Nizza. Nicht in den schwärzesten Stunden hätte er sich vorstellen können, dass die verhassten Deutschen ihm binnen weniger Monate sämtliche großen Ideale zerschlagen könnten, mit denen er seine moralische Existenz begründet hatte. Als da wären: Sein Bild einer makellosen Sowjetunion, die unerschütterlich am Weltreich des gerechten Daseins arbeitete; sein Idol einer Gründungsnation der Menschenrechte und volkstümlichen Geistigkeit namens Frankreich; schließlich die Hoffnung auf ein strahlendes Europa, wie er sie seit 1914 hegte. Alle drei Seelengeschöpfe wurden vor seinen Augen von Hitler zertreten, nein schlimmer noch, korrumpiert. Zuerst im Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939, dann mit der Besetzung und Kollaboration Frankreichs im Sommer 1940, und schließlich in den immer weiter ausgreifenden Eroberungen, mit denen Hitler Europa unterwarf. Europa unter Hitler? "Europa als ein geeinter Eisschrank, - man denke nicht an die Arktis, wo manchmal Tag wird. Der geräumige Frigidaire, elektrisch gekühlt, kann von innen nicht geöffnet werden, aber drinnen herrscht Friede schon infolge der Kälte, und in der Finsternis suchen die Einwohner nach essbaren Überresten." So der satirisch versteinerte HM im Rückblick, schon in den Staaten.

Dabei hatte das Jahr 1939 so gut begonnen. Ende 1938 war HMs Lebenswerk, die zweibändige - seiner Meinung nach nobelpreiswürdige - Biografie über Henri Quatre abgeschlossen, der zweite Teil lag schon mit Lobesvermerk beim Bruder in Princeton (Thomas im Tagebuch 1. März: "An einem Brief an Heinrich laboriert"). Durchsichtig gegen das Nazirudel geschrieben, war Heinrichs Lob des großen französischen Volkskönigs eine Apotheose auf alles, was Hitler nicht war: liberal, volksverbunden, erotisch. Auch Thomas hatte etwas geschrieben, den heute immer beliebteren Aufsatz vom "Bruder Hitler", jene qualvolle Registratur von allem, was Hitler angeblich ebenfalls war, zum Beispiel auch Möchtegernkünstler. Noch am 5. September 1938 sitzen die beiden echten Brüder in solch einer Geistesgesellschaft in Küsnacht und lesen einander vor.

1939 - was für ein Jahr. Im April: Hitlers erste Anweisung für den Einmarsch in Polen. Im August dann der Hitler-Stalin-Pakt. Angeblich hat sich HM zwei Tage in sein Arbeitszimmer eingeschlossen, um mit dieser Nachricht fertig zu werden. Am 1. September Einmarsch der Deutschen in Polen. Am 9. heiratet HM Nelly Kröger; fast auf den Monat genau wie auch schon seine erste Frau pünktlich zum Ausbruch des Weltkrieges, nun also des zweiten. Ende September: Deutsche und Russen teilen Polen unter sich auf. Ende November: Die Russen fallen in Finnland ein. Stalin erweist sich als ordinärer Territorialräuber. HM spricht später von einem Phänomen, das "aus der Natur falle". Es habe die moralischen Werte gestrichen. "Nunmehr sind die Sowjets imperialistisch." Doch in der Chaosarbeit des Tagebuchs sieht er zunächst Stalin als Sieger, Hitler als den Betrogenen, Stalin als überlegenen Kriegsherren, der Menschenleben zu schonen versteht, fast so gut wie die Franzosen, verglichen mit dem deutschen Verführer und törichten Massenschlächter.

Das Lob der französischen Humanität füllt viele Seiten des Tagebuchs. Bei diesem Thema fühlt sich HM sicher, es ist seine imaginäre Mutterbrust, so wie der Kommunismus seit 1917 sein väterlicher Schutz. Aber der Sturm der Geschichte verlangt anderes. Fernab der Front und weit weg von Berlin muss er sich mit Gerüchten befassen, Militärberichte beurteilen, politisch spekulieren und sich verspekulieren; wilde Tiraden auf Hitler wechseln mit Hoffnungen auf polnischen Widerstand oder gar eine deutsche Revolution, schließlich mit Resignation. Beklemmend lesen sich die Versuche, die peinvolle Gegenwart ab und zu durch Gebrauch des Präteritums in Vergangenheit und damit Erzählung zu wandeln. Dabei werden in Frankreich, wo er jetzt lebt, ab September rund zwanzigtausend deutsche und österreichische Emigranten interniert, und ab Oktober die Kommunisten verboten und gejagt. HM sucht sich selbst zu beschwichtigen; noch weiß er nichts von einem Zusatzprotokoll, noch sieht er nur stalinistische Staatsklugheit - und wird sich nach Hitlers Angriff auf die Sowjetunion auch bestätigt fühlen.

Schließlich hatte er unablässig für sie gewirkt. Seit 1933, dem Jahr seiner Ankunft in Sanary-sur-mer, hatte er eine breite öffentliche Tätigkeit entfaltet. Zahlreiche Posten übernahm er im antifaschistischen Kampf; rastlos schrieb er für die deutsche Volksfront, für die Depêche de Toulouse, und unablässig publizierte er Flugblätter und Tarnschriften. Dabei blieb der "Hindenburg des Exils" (Ludwig Marcuse) ein soignierter Patrizier mit leiser Stimme, der zwar vor dem lebenden Stalin persönlich zurückschreckte, aber die Moskauer Prozesse für gerecht hielt und sich über die grausame Wirklichkeit leicht hinweg ins Reich der Ideen täuschte. "Nur die noch immer Unbelehrten denken sich die Revolutionen des 20. Jahrhunderts schlechthin stofflich."

Da sprach wohl der Literat aus ihm. Womöglich versorgte ihn seine literarische Ader mit der nötigen Abwehr. Geschichte, schreibt er im Tagebuch einmal, könne er nach Art der Franzosen immer nur als Romanvorwurf ansehen. Tatsächlich hat er ja seine Romane mit Realdaten kombiniert. Für den eingefleischten Satiriker galt, was er ein Jahr vor seinem Tode einem Freund gestand: "Gewisse Greuel gehen für mich ins Groteske über und werden phantastisch". So erklären sich die seltsamsten Sätze in diesem Tagebuch, das mit Churchill und mit England vor allem auch deshalb zu tun hat, weil sein Schreiber von den Franzosen enttäuscht und vom unbotmäßigen Flug des Rudolf Hess nach England schwer verstört war. HM glaubte, Hess wolle in Hitlers Auftrag Churchill beseitigen - und damit die letzte Bastion Europas, die dieses Jahr 1939 wegen der Bündnistreue zu Polen moralisch glorios überstanden hatte. "Zur Zeit von Winston Churchill", kommentierte er schließlich den selbstgewählten Titel des Kriegstagebuches, "möchte ich lieber zu Ende gelebt, gelitten und geschrieben haben als während des Glanzes anderer."

Nach der Handschrift ediert sind die vorliegenden Aufzeichnungen, und sie erscheinen hier zum ersten Mal im Druck. Heinrich Mann selber hätte die Veröffentlichung wohl nicht forciert; jedenfalls legte er das deutsch geschriebene Manuskript beiseite, nachdem seine amerikanische Verlegerin Blanche Knopf es aufgrund eines Gutachtens, das zu viel Überarbeitung verlangte, zurückgewiesen hatte. Er selber fand beim Durchlesen 1941: "Die Irrtümer sind das was am reichlichsten lohnt." Aber nein. Was die Lektüre lohnt, ist die ungeschützte, inständige, ereignisgehetzte, bald bohrend räsonierende, bald kalt satirische Berichterstattung des wohl wachsamsten und warmherzigsten humanistischen Autors deutscher Sprache. Wer ihm törichten Idealismus vorwirft, hat kein Ideal zu verlieren und kann diese Trauerarbeit nicht einschätzen. Mit Verwunderung hört man aus der Verlagswelt, dass nach zwanzig Jahren Planung im kommenden Jahr nur eine dreibändige Auswahl der politisch-essayistischen Schriften erscheinen soll. Eine vollständige neunbändige Ausgabe beim Francke Verlag ist bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft immerhin beantragt.

Titelbild

Heinrich Mann: Zur Zeit von Winston Churchill.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
543 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3100478142

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