Kranke Jugend in den Wahnsinn verloren?

Ariane Martin über J. M. R. Lenz und Goethes "Werther" in der Rezeption des Sturm und Drang bis zum Naturalismus

Von Jürgen PelzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Pelzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Fast keine der in jüngster Zeit erschienenen Arbeiten zu J. M. R. Lenz verzichtet auf den Hinweis, wie desaströs sich Goethes maliziöse Charakterisierung seines ehemaligen Freundes aus Sturm und Drang-Tagen - er habe sein Talent verschleudert und sich konsequenterweise "in Wahnsinn verloren" - auf die Rezeptionsgeschichte bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgewirkt hat. Dabei entsteht oft der Eindruck, als habe es lange Zeit, namentlich im 19. Jahrhundert, keinerlei Rettungs- oder Rehabilitierungsversuche gegeben; man denke etwa an die einschlägigen Rezeptionsgeschichten von Inge Stephan und Hans Gerd Winter (",Ein vorübergehendes Meteor'?", 1984), Alan C. Leidners und Karin Wursts "Unpopular Virtues" (1999) oder Hans Gerd Winters in verschiedenen Auflagen erschienenes Lenz-Bändchen in der Reihe Metzler, die lediglich die Rezeption durch Georg Büchner berücksichtigen, ja diese zu einem (oft nicht mehr zu unterscheidenden) Strang der Lenz'schen Rezeptionsforschung machen.

Zu zeigen, dass der Rezeptionsprozess in Wahrheit etwas komplizierter verlief, ist das wohl zentrale Anliegen der vorliegenden Untersuchung. Die Autorin zieht dabei Goethes "Werther" als Vergleichsgröße heran, um einen breiteren Ansatzpunkt zu gewinnen, denn neben dem genialisch scheiternden, geistig zusammenbrechenden Lenz war es das Bild des ebenfalls genialisch scheiternden und obendrein in Selbstmord endenden Werther, das die Zeitgenossen wie auch die nachfolgenden Generationen von Autoren, Kritikern und Literaturhistorikern bewegte, wobei zumeist jedoch, bei aller Sympathie für die 'kranke' Realfigur Lenz bzw. die fiktive Figur des "an der Krankheit zum Tode" leidenden Werther, die (gesunde) Klassik gegen den (kranken) Sturm und Drang ausgespielt wurde. Bei der Gegenüberstellung von 'gesund' und 'krank' handelt es sich freilich um eine Strategie des puren "Pathologieverdachts" (Thomas Anz): Neue, junge, aufmüpfig oder sogar revolutionär auftretende Kunst wird seit der Aufklärung sehr gern als 'krankhaft' eingestuft, um sie so abzuwerten oder zu diskreditieren.

Ariane Martin nutzt diesen Ansatz, um die - bei näherer Betrachtung recht komplizierte - Dynamik des Rezeptionsprozesses zu beleuchten. Die Autorin beginnt bereits beim Sturm und Drang selbst und kann nachweisen, dass selbst bei den Kritikern des Sturm und Drang ein gewisses Verständnis für die psychische Problematik von Lenz bzw. Werther gegeben war. Im zweiten Teil beschäftigt sie sich ausführlich mit Goethes berühmt-berüchtigtem Diktum sowie der Position Ludwig Tiecks, der als erster Lenz-Herausgeber eine (gegenüber Lenz) ambivalente Position vertritt, das ausführliche Vorwort zur Werkausgabe aber interessanterweise nutzt, um den jungen Goethe des "Werther" gegen den klassischen Goethe auszuspielen, und zeichnet auch die Rezeptionslinien in der Literaturwissenschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts nach, wobei vor allem Friedrich Theodor Vischers ästhetische Theoriebildung (namentlich sein Begriff des "fragmentarischen Genies") als produktiver und durchaus folgenreicher Ansatz gewertet wird.

Der Hauptteil des Buches gilt (mit gut 260 Seiten) dem Naturalismus, der sich, wie die Autorin nachweist, als revolutionäre Bewegung der Moderne bewusst zum Sturm und Drang in Beziehung setzt; auch das Verhältnis einzelner Autoren (wie Wilhelm Arent, Max Halbe, Karl Bleibtreu, Hermann Conradi u. a.) zu Lenz wird analysiert. Der heute kaum bekannte Wilhelm Arent und seine "Mystifikation" "Reinhold Lenz" stehen dabei im Zentrum der Untersuchung, die Autorin widmet ihnen ca. 120 Seiten, um nachzuweisen, dass die gängige Klassifizierung dieses Autors als geisteskranker Person, die sich mit Lenz identifiziert habe, höchst problematisch und vielmehr von einer bewussten, ja sogar marktstrategischen Propagierung moderner Literaturprogramme auszugehen ist.

Allerdings zeigt sich hier auch eine der Schwächen der vorliegenden Untersuchung, die sich in positivistischer Klein- und Kleinstarbeit namentlich biografischen Details widmet (wie zuvor schon in der Diskussion der biografischen Bezüge zwischen Friederike Brion, Goethe und Lenz), sodass die großen Rezeptionslinien recht oft in den Hintergrund treten. Problematisch erscheint auch, dass trotz der zitierten zentralen Krankheitsmetapher fast gar nicht von den - sich entwickelnden und ändernden - medizinhistorischen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts hinsichtlich des Komplexes Krankheit, Wahnsinn und Selbstmord die Rede ist, sodass sich die Untersuchung zumeist im recht luftleeren Raum literaturhistorischer Abstraktionen bewegt.

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Ariane Martin: Die kranke Jugend. J. M. R. Lenz und Goethes "Werther" in der Rezeption des Sturm und Drang bis zum Naturalismus.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2002.
636 Seiten, 79,00 EUR.
ISBN-10: 3826023811

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