Epistemische Konstellationen

Ein Sammelband zur Archäologie von Netzwerkmodellen

Von Patrick BaumRSS-Newsfeed neuer Artikel von Patrick Baum

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Netzwerkmodelle und -metaphern sind aus dem Zeitgeist nicht mehr wegzudenken. Der Begriff des Netzwerks ist, wie Robert Misik in der "taz" vom 4. Januar 2005 schreibt, der "Leitbegriff der Jetztzeit": Wo man früher soziale Kontakte knüpfte, betreibt man heute networking. Forschungsförderung setzt auf distributed intelligence und Kompetenznetzwerke. Der Trendforscher Gerd Gerken sieht in seinem Buch "Trend-Zeit" (1997) in dieser Entwicklung einen der "Meta-Trends" unserer Gesellschaft: "Alles vernetzt sich mit allem." Der Philosoph Walther Ch. Zimmerli sekundiert dieser Auffassung, wenn er 1999 das Netzwerk als "Meta-Paradigma" bestimmt, "das als Leitvorstellung für alle Disziplinen zu gelten scheint". Dabei führt er diese Leitvorstellung auf die Anfänge der Kognitionswissenschaften, auf die Entwicklung neuronaler Netze, zurück: "Eine synchrone Rationalität [...] führt also in den 60er Jahren plötzlich [!] das Netzwerk als Metapher in die Bereiche der Künstlichen Intelligenz und Semiotik ein."

Der von Jürgen Barkhoff, Hartmut Böhme und Jeanne Riou herausgegebene Sammelband "Netzwerke" stellt diese a prima vista sehr plausible Genealogie in Frage. Die im Untertitel formulierte These des Bandes: Vernetzung ist eine ungleich ältere "Kulturtechnik der Moderne". In 19 Beiträgen werden "technologische, kommunikative, ästhetische und symbolische Ebenen kultureller Vernetzung in ihrem Wechselverhältnis untersucht". Das Spektrum der behandelten Themen ist überaus vielfältig und reicht von Überlegungen zum Wandel des Kreditwesens im 18. Jahrhundert bis hin zu Arbeiten über textuelle Vernetzungsstrategien zeitgenössischer Autoren (W. Hildesheimer, W. G. Sebald). Diese Vielfalt ist nun nicht Beliebigkeit, sondern spiegelt die Vielgestaltigkeit des Phänomens Netzwerk selbst, von der Hartmut Böhmes einleitend formulierte 'Arbeitsdefinition' beredt Zeugnis ablegt: "Netze sind biologische oder anthropogen artifizielle Organisationsformen zur Produktion, Distribution, Kommunikation von materiellen oder symbolischen Objekten." Erschwerend kommt hinzu, dass Netzwerke nur heuristisch abgrenzbar sind: "Netze kommen immer nur als Netze in Netzen vor."

So folgt der Band in seiner Form der - so Böhme - für die Kulturwissenschaften erkenntnisleitenden "Netzwerk-Logik" und bildet in seiner thematischen Vielfalt gewissermaßen die für die Moderne kennzeichnende "Heterarchie von Netzen" ab: Nicht von einem thematischen Zentrum, einem verbindlichen Ausgangspunkt aus, sondern aus den unterschiedlichsten Perspektiven wird das Phänomen in den Blick genommen. Eine erschöpfende Synopsis der behandelten Themen wäre angesichts ihrer Vielfalt in der vorliegenden Rezension wohl kaum zu leisten und soll daher auch nicht versucht werden. Aussichtsreicher ist es, den Blick auf einen der roten Fäden - wenn nicht gar den zentralen roten Faden - des Buches zu lenken - auf die Frage nämlich, wie epochenspezifische Leitmedien im weitesten Sinne (u. a. Banknoten, Telegrafie, Internet) die Entwicklung von Netzwerkvorstellungen beeinflussen. Diesen "epistemischen Konstellationen" (Christian J. Emden) gehen die Beiträge anhand der Schwellendaten 1800, 1900 und 2000 nach.

So arbeiten etwa die Beiträge von Bernhard Siegert und Joseph Vogl an der Freilegung des "Dispositivs der Zirkulation" (Bernhard Siegert), das für die Netzwerkvorstellung um 1800 charakteristisch sei. Vogl zeigt anhand der Einführung ungedeckten Papiergelds in England, wie sich die ökonomischen - und mit ihnen die politischen - Infrastrukturen wandeln. Die Banknote hat ihren Sinn nicht mehr - wie die französische Assignate, die Vogl als Kontrastfolie dient - in der Repräsentation tatsächlicher Werte, sondern in der "Zirkulation" als "Proliferation einer uneinholbaren Schuld - eine Verzeitlichung, die sich bis auf weiteres als Unaufhörlichkeit des Systemverlaufs installiert". Bernhard Siegert spürt in seinem Beitrag den Korrespondenzen zwischen current und currency - zwischen elektrischem Strom und Geldumlauf - nach, wie sie vor allem in den Schriften Benjamin Franklins dokumentiert sind. Dabei kommt er zu ähnlichen Schlüssen wie Vogl und entdeckt in der Entwicklung von Elektrizitätslehre und Ökonomie eine "gemeinsame Tendenz", nämlich die der "Transformation von Zeichen in Medien". Zirkulation tritt auch hier an die Stelle von Repräsentation.

Um 1900 lässt sich, so Christian J. Emden in seinem sehr materialreichen Beitrag, eine "unheimliche Konvergenz zwischen Neurophysiologie und Kommunikationstechnik" beobachten. Telegrafie und Telefonie entwickeln sich parallel zu den Modellvorstellungen der Kommunikation von Nervenzellen. Wenn auch eindeutige Kausalbeziehungen nicht herzustellen sind, könne man doch eine "Logik des Imaginären" am Werke sehen, die wissenschaftliche Diskurse vernetzt und das Bild der Vernetzung selbst in diese Diskurse einbringt: So wird das Telegrafennetzwerk als "Nervensystem der Nationen" aufgefasst und das physiologische Netzwerk 'Mensch' im Gegenzug medialisiert (Modell der Signaltransduktion in Nervenzellen).

Die auf das Schwellendatum 2000 orientierten Beiträge kreisen vor allem, das wird niemanden überraschen, um das Internet. Schließlich gilt dieses hochgradig positiv besetzte Hypermedium als Inbegriff benevolenter Vernetzung: Beinahe jede Informationen ist nur ein paar Mausklicks entfernt. Aber das Internet lässt sich zu mehr nutzen als bloß zur Informationsbeschaffung. So lotet etwa Peter Matussek in seinem sehr interessanten Beitrag die Möglichkeiten virtueller Entgrenzungserfahrungen aus, die von der Schaffung von Avataren, virtuellen 'Persönlichkeiten', bis hin zur Simulierung einer virtual reality reichen. Dabei zeigt er die Dialektik von Ent- und Begrenzung auf: Der technische Rahmen, der diese Entgrenzungsmöglichkeiten überhaupt erst schafft, ist zugleich ihre Grenze. Das losgelöste Bewegen im cyberspace wird durch hard facts orchestriert: IPs, Verbindungsprotokolle, Cookies. Ironischerweise werden wohl nirgendwo Wege so genau kartografiert wie beim 'freien' Surfen. Jede noch so nutzbringende Vernetzung ist zugleich eine technische Verstrickung. Stefan Münker nimmt diese 'Verstrickungshypothese' zum Ausgangspunkt seines Beitrages: Wie lässt es sich mit dem Befund leben, das autonome Ich sei nur ein "Netzeffekt", ein Oberflächenphänomen von Vernetzungsstrukturen? (Diese These geistert durch die Kognitionswissenschaften ebenso wie durch manche Entwürfe postmoderner Soziologie, und hier zeigt sich wieder eindrücklich, wie neue Medien - hier: das Internet - andere Wissenschaftsfelder neu ausrichten.) Münker spürt den Spuren von Freiheit nach, die sich - so seine dezidierte Auffassung - auch im Rahmen einer technologischen Fremdbestimmung qua Vernetzung finden lassen: "Kein Netz (weder das Gehirn, noch die Sprache - und schon gar nicht das Internet) schreibt uns vor, was als Nächstes kommt. Das müssen wir als seine Effekte, schon selber tun."

Insgesamt ist der Sammelband ein höchst anregendes Dokument einer vielfältigen Diskussion. Sein Wert liegt nicht zuletzt auch in einer entscheidenden Erweiterung der Genealogie des Netzwerkbegriffes, der oftmals allzu voreilig jüngeren Schlüsseltechnologien zugeschlagen wird.

Titelbild

Jürgen Barkhoff / Hartmut Böhme / Jeanne Riou (Hg.): Netzwerke. Eine Kulturtechnik der Moderne.
Böhlau Verlag, Köln 2004.
359 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3412155039

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