"Bei meiner Göttlichkeit!"

Über eine neue Christian Wagner-Ausgabe

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Alles kommt bei Dichtern an auf den eigenen Ton, auf die eigene Stimme. Ihre Klarheit kann alle dämpfenden Effekte zeitlichen oder gedanklichen Abstands durchdringen und damit das Ohr des Lesers noch nach hundert Jahren erreichen.

Am Abend des Lebens

Ja, laßt mich klagen meine eigne Klag
Die eigne Klag des ausgebrannten Lichts,
Die eigne Klag, daß ich nicht mehr vermag
Lichtwellen neu zu werfen in den Tag,
Lichtsonnen neu zu streuen in das Nichts.

Dies Trauerlied über das Verlöschen poetischer und existenzieller Kraft stimmte Christian Wagner an, der Dichter aus dem schwäbischen Warmbronn, 1835 geboren, ganz kurz vor dem Ende des Ersten Weltkrieges gestorben, damals weit bekannt und viel verehrt. Ein Sonderling war er, und ein Sonderfall ist er der Literaturgeschichte, arbeitete Wagner doch sein Lebtag als Bauer mit wenig Vieh und wenig Land, verdingte sich, um bares Geld zu verdienen, auch mal als Holzhauer und Eisenbahnbauer. Schuften und Schulden, viermal erlebtes Kindersterben, der Tod seiner ersten, der Tod seiner zweiten Frau, so lebte er hin und dichtete doch. Dabei hatte er in der Kindheit kaum mehr als die üblich kärgliche Dorfschul-Bildung erhalten, danach als Autodidakt weitere Wege in die Gedankenparadiese gesucht. Zeitlebens war er dabei ein Glücksaufschlager (wie Thomas Mann es nannte) und fand bei der unsystematischen Lektüre, welche die geringe Freizeit zuließ, in Pfennigmagazinen, im Buchbestand von Pfarrern oder Verwandten und später in Bibliotheken die richtigen Stellen als Anregung und Einkleidung für seine Kunst: Indisches über Wiedergeburt und die Gemeinschaft alles Lebendigen; Mystisches; Gedichtformen der Romantik und Klassik, die er nach eigenem Empfinden modifizierte; Botanisches; Sagen aus der Heimat und der Antike. Als "Märchenerzähler, Bramine und Seher" (so hieß sein erstes Werk von 1884) verstand er sich, wobei er die Wiedergeburtsspiralen bei den Atomen beginnen ließ, also auch die unbelebte Natur einbezog. Seine geringe Herkunft und Bildung drückten ihn zwar zuzeiten, doch meist sprach Stolz aus ihm auf seine Berufung: "Ich hatt nicht Wissenschaft, nicht Kunst, / Mir wurde beides durch der Götter Gunst, / Und Königen und Fürsten steh ich gleich, / Doch in der Zukunft schlummert noch mein Reich." Dieser grundlegende, aber uneitle Stolz - an Gustav Landauer schrieb Wagner den Ausruf "Bei meiner Göttlichkeit" - rührte auch daher, dass er Bedeutenderes noch als in den Werken aus Papier im Buch der Natur lesen konnte. Bei den Gängen durch die Umgebung Warmbronns hielt er seine Zwiesprache mit Blumen und Tieren, sah Sinnbilder und Verwandtschaften, fühlte sich aufgehoben im großen Kreislauf des Werdens und Vergehens. So waren ihm die Zeichen nahenden Todes vertraut, die er im Gedicht "Leise Boten" gestaltete, er sah in den frühen Anemonen "bleiche Zionstöchter", die er in "Ostersamstag" feierte, schrieb Pflanzen Dankbarkeit und Verteidigungsmut zu in "Das gefeite Haus". Gerühmt wurden gerade seine Naturgedichte wie "Blühender Kirschbaum oder Apfelbaum" und "Syringe" von Karl Kraus bis Wulf Kirsten.

Kirsten ist es auch, der die neue Ausgabe von dichterischem Werk, Lebens- und Rezeptionszeugnissen einleitet. Ob man die Rezeption so ausführlich zu Wort hätte kommen lassen müssen, bleibt allerdings fraglich, scheint es doch so, als bedürfe Wagner der Krücke großer Namen von Gustav Landauer über Theodor Heuss bis Peter Handke. Dabei haben das seine kunst- und sinnreichen Anklangsverse, wiewohl nicht alles gelungen oder frei von Konventionalismen ist, gar nicht nötig.

Anders als in den Auswahlbänden zuvor und endlich unverfälscht ertönt Wagners Stimme in den beiden Bänden. Bearbeitungen, die frühere Herausgeber - angefangen von Hermann Hesse - vorgenommen hatten, gibt es hier nicht. Die für Wagner wesentliche eigenwillige Interpunktion und Orthografie wurde respektiert und zum Teil wenigstens die besondere Verbindung von Prosatexten und Gedichten in den Sammlungen der "Sonntagsgänge" gewahrt.

Zum Teil erstmals präsentiert der Herausgeber Ulrich Keicher autobiografische Texte, Briefe und Erinnerungen, in denen Dichtersorgen, Beamtenschelte, Klage über Raubbau an der Natur und Viehnöte seltsam nebeneinander stehen. Überraschend mutet in ihnen eine Distanz, ja beinahe Rohheit gegenüber Nachbarn und Dörflern an, eine wichtige Korrektur am Wagner-Bild, das Sektierer, Pazifisten und Tierschützer zu oft geschönt haben.

So begegnet in diesen Auswahlbänden ein faszinierender Dichter, Eigenbrötler und Ethiker, der "eine möglichste Schonung alles Lebendigen" forderte und praktizierte, deshalb auch nie in Kriegsbegeisterung verfiel wie so viele gebildetere Kollegen. Er erkannte "das Heldentum des Nitroglyzerins nicht an". Seine Kunst steht allein in ihrer Zeit, außerhalb des Betriebs und der Tradition, wenngleich sich Assoziationen zu Goethes Liedern, zur Radikalität des späten Rückert oder Rilke'schen Versen einstellen. Ein schwäbischer Bauerndichter aber war er nicht, wie kurz nach Wagners Tod Kurt Tucholsky in einer Hommage betonte: "Er war allerdings ein Landmann; er hat die Natur gekannt, aber das Hälmchen war ihm kein Anlaß 'Duliöh' zu schreien oder ein knallig angestrichenes Gemüt leuchten zu lassen. Er war ein in sich gekehrter Künstler und wohl wert, daß wir ihn alle läsen und verehrten."

Titelbild

Christian Wagner: Eine Welt von einem Namenlosen. Das dichterische Werk / Lebenszeugnisse und Rezeption. 2 Bände.
Herausgegeben von Ulrich Keicher. Mit einem Vorwort von Wulf Kirsten und Friedrich Pfäfflin.
Wallstein Verlag, Göttingen 2003.
523 Seiten, 49,00 EUR.
ISBN-10: 389244661X

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