... und dem Gestern zugewandt

Heidi und Wolfgang Beutin zur Berliner und Wiener Moderne der Kaiserzeit

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Verdikt Kaiser Wilhelm II., die künstlerische Moderne sei "in den Rinnstein" niedergestiegen, greifen Heidi und Wolfgang Beutin im Titel ihrer Studie "Rinnsteinkunst?" auf. Zwar verspricht deren Untertitel eine Untersuchung der "Kontroverse um die literarische Moderne während der Kaiserzeit in Deutschland und Österreich", die bekanntlich mit den Namen dreier Städte verbunden ist: mit Berlin, Wien und dem leuchtenden München. Behandelt wird jedoch nur die Moderne in den beiden erstgenannten Städten. Von München kein Wort, ganz zu schweigen von der Moderne in der Provinz, wie sie etwa jüngst von Meike G. Werner am Beispiel Jenas untersucht wurde (vgl. literaturkritik.de 08/2003). Begründet wird die Konzentration auf die beiden Hauptstädte Deutschlands und Österreichs nicht.

Nachdem die AutorInnen zunächst die durch zahllose Ismen geprägte Entwicklung der Moderne in Berlin und Wien skizziert haben, erörtern sie zwei von deren Motiven (das Steinklopfer-Motiv und das Renaissance-Motiv) und wenden sich sodann drei Kritikern zu: Kurt Hiller, Franz Mehring und Karl Kraus. Das abschließende Kapitel gilt mit Mechtilde Lichnowsky einer weithin vergessenen Literatin. Dass die "Strömungen" der Moderne - die AutorInnen nennen ihrer fünf: "Naturalismus, Ästhetizismus, Expressionismus, proletarisch-revolutionäre Kunst und Neue Sachlichkeit" - die Literatur, wie auch die Künste insgesamt, "radikal umgeformt" haben, wird wohl kaum jemand bestreiten, wobei die Neue Sachlichkeit allerdings nicht in die Zeit des Kaiserreichs, sondern in die der Weimarer Republik fällt.

Weniger konsensfähig als die prägende Relevanz der Moderne sind so manche AutorInnen und KritikerInnen betreffende Wertungen von Heidi und Wolfgang Beutin. Dass Kurt Hiller, "unzweifelhaft der wichtigste Theoretiker der Berliner Moderne" war und Karl Kraus ein Autor von "überragende[r] Bedeutung", ist gewiss zutreffend. Ebenso ihr Lob für die "hervorragende Schriftstellerin" Mechtilde Lichnowsky. Franz Mehring jedoch wird auf ein allzu hohes Podest gestellt, wenn ihm als "geniale[m] Journalist[en]" mit einem "staunenerregend umfassenden Gesamtwerk" und gar als einem der "zwei bedeutendsten Publizisten in den deutschsprachigen Ländern" gehuldigt wird. Die AutorInnen überschlagen sich geradezu in der Lobpreisung des marxistischen Literaturkritikers und meinen, in ihm einen Vertreter der "allgemein-menschliche[n] Vernunft" zu erkennen, die "sich als solche in der Geschichte kaum anders darstellt als in Gestalt der Weltanschauung eines effizienten Kollektivs, das während einer bestimmten historischen Spanne zugunsten mindestens einer gewichtigen Anzahl von Menschen agiert". Man fühlt sich hier an den Weltgeist zu Pferde erinnert oder mehr noch an die proletarische Klasse als revolutionäres Subjekt, personifiziert im kommunistischen Parteiführer. Ein Hymnus jedenfalls, der nur mit der Affinität der beiden AutorInnen zu Mehrings marxistisch-sozialistischem Standpunkt erklärt werden kann.

So empfehlen sie denn auch der - wie sie diagnostizieren - darniederliegenden Literaturkritik und Literaturgeschichtsschreibung des 21. Jahrhunderts ein eher gestriges denn zukunftsweisendes Heilmittel: Am "Muster Franz Mehrings" sollen sie genesen. Er sei der "Maßstab", an dem sich die "von Grund auf" zu reformierende Literaturkritik messen lassen müsse. Denn "in den folgenden Jahren" gelte es die Postmoderne abzuwehren, die, wie die AutorInnen mit verschwörungstheoretischen Anklängen meinen, "von den herrschenden Klassen in die Welt gesetzt" worden sei, um "Demokratie, Gesellschaft und Kultur um des Profites willen der Barbarisierung preis[zu]geben". Eine Gefahr, die sie offenbar so hoch einschätzen, dass sie darüber das eigentliche Thema ihres Buches - wir erinnern uns: die literarische Moderne während der Kaiserzeit - schon mal für einige Momente vergessen.

Zurück also zu Franz Mehring: Werden er und sein antiquiertes literaturkritisches Instrumentarium marxistischer Provenienz von den AutorInnen auch überschätzt, so weisen sie doch zu Recht darauf hin, dass er qua seiner Schwäche - der marxistisch-sozialistischen Ideologie, die von Heidi und Wolfgang Beutin allerdings für eine Stärke gehalten wird - immerhin gegen den bei seinen Zeitgenossen und -genossinnen florierenden Nietzschekult gefeit war. Dem allerdings erlag auch eine Autorin, deren Genossenschaft mit dem Kritiker sich nicht nur auf die Zeit, sondern auch auf die Partei bezog: Lilly Braun.

Wird Mehring über alle Maßen gelobt, so werden manch andere nicht minder stark verteufelt: Hermann Conradis etwa. Wenn der 1890 verstorbene Autor "das 'germanische Kulturideal' beschwört und von 'seinem gefährlichsten, seinem immanenten Feinde' spricht: dem 'Semitismus'", so ist das sicherlich zu kritisieren, scharf zu kritisieren. Diese 'Argumentation' jedoch als "[e]xtrem mörderisch" zu apostrophieren, ist mehr als überzogen. Auch wenn man mit guten Gründen der Auffassung sein kann, dass derlei mit dazu beigetragen hat, ein halbes Jahrhundert später dem Antisemitismus der Nationalsozialisten den Weg zu bereiten. Der war dann allerdings tatsächlich extrem mörderisch.

Titelbild

Heidi Beutin / Wolfgang Beutin: Rinnsteinkunst? Zur Kontroverse um die literarische Moderne während der Kaiserzeit in Deutschland und Österreich.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
194 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-10: 3631523491

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