Schauspielverführer par excellence

Die Diogenes-Bände und die Hörbuchreihe "Shakespeare's Geschichten" von Walter E. Richartz und Urs Widmer

Von Julia-Charlotte BrauchRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia-Charlotte Brauch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Shakespeare-Bearbeitungen im weitesten Sinne gibt es, so viele Geschmäcker es gibt. Es beginnt, ganz nahe liegend, bei Theateraufführungen und Verfilmungen - wer hat je den Begriff der "Texttreue" erfunden?! - und geht über Opernlibretti bis hin zu neuen literarischen Werken, die aus dem Quell Shakespeare schöpfen. Allein Hamlet-Nach-und-Umdichtungen füllen ganze Bibliotheken, man denke an Tom Stoppard, Heiner Müller oder John Updike. So entstand im England des 18. Jahrhunderts die Tradition, Shakespeare - freilich den Sitten und Konventionen der Zeit entsprechend zensiert und angepasst - nachzuerzählen.

In den 70er Jahren fand der Schweizer Schriftsteller Walter E. Richartz Gefallen an eben solchen Nacherzählungen, an den "Tales from Shakespeare" von Mary und Charles Lamb. Doch er musste den Umweg über einen eigenen Neuübersetzungsversuch dieser Geschichten nehmen, um festzustellen, dass nicht nur deren viele frühere Übersetzungen ins Deutsche der Moral und dem Publikumsgeschmack ihrer jeweiligen Zeit angepasst waren, sondern auch die Originale der Nacherzählungen selbst letztlich nur ein Spiegelbild ihres zeitgenössischen Shakespeare-Bildes sein konnten. Das pralle Universum Shakespeares, wie es heute zumindest ohne moralische Zensur zugänglich ist, war in diesen Geschichten jedoch nicht aufzufinden. Wobei: Kein Leser, kein Wissenschaftler und kein Theaterkenner sollte der Illusion erliegen, den "echten" Shakespeare je finden zu können. Die orthodoxen "Stratfordians" kommen dem "Original-Genie" - so Herder über den englischen Nationalbarden - keinen Deut näher als etwa der Zürcher Schauspieler Daniel Wahl, der die Zuschauer mit seinem "Sweet Hamlet" alleine und auf Schweizerdeutsch in seinen Bann zieht. "Shakespeare" ist immer das, was die Nachwelt mit ihrer Fantasie aus ihm macht. Dieses sollte auch Richartz' und Widmers Credo werden.

Walter E. Richartz schwante also, dass er selbst, und in der Folge auch ein breites Publikum, seine Fantasie nur an modernen Shakespeare-Nacherzählungen wetzen konnte. In ihm reifte der verwegene Plan, nicht wie die Lambs nur zwanzig Stücke, sondern gleich das gesamte dramatische Werk neu in Prosa zu übersetzen. Für dieses eigentlich nicht zu bewältigende Projekt verbündete er sich mit seinem Kollegen Urs Widmer, der sich der von den Lambs vernachlässigten Stoffe annahm. Über ihre Skrupel und Ängste bei dieser Arbeit, aber auch über ihre persönlichen Erwartungen legen Richartz und Widmer in den kurzen Vorworten zu den Diogenes-Bänden Rechenschaft ab - und beschämen damit die Zunft all derjenigen universitären Elfenbeinbewohner, die, sozusagen als Entschuldigung im Voraus, die ersten fünf Minuten einer Vorlesung grundsätzlich darauf verschwenden, die Ungenügsamkeit ihres eigenen Vorhabens zu beschwören.

In Umkehrung eines alten Übersetzer-Mottos geben Richartz und Widmer Form und Inhalt so nah als nötig und so frei als möglich wieder und füllen die Leerstellen der Originale mit diebischer Freude nach eigenem Gusto. Freilich lassen sich die verschiedenen Stücke formal mal mehr, mal minder geschmeidig umbetten. In der ersten Folge der Hörbuchreihe macht Widmer selbst mit den Königsdramen einen furiosen Anfang. Ausgerechnet diese schwer zugänglichen und selten gespielten Stücke lassen sich durch ihre immer fortlaufende Handlung besonders gut erzählen. Widmer rafft den komplizierten Stoff geschickt und setzt so spitze Pointen, dass die Nacherzählungen von Beginn an weit mehr als bloße Schauspielführerfunktion haben. Er schreitet mit uns in atemberaubendem Tempo durch eine "Genealogie von Kronräubern", bis einem beim Anblick des tödlichen Karusells der Geschichte mit seinen schillernden, macchiavellistischen Bösewichten schwindlig wird.

Für den rücksichtslosen Hedonismus der Herrschenden findet Widmer eine griffige Formel, die in ihrer Drastik typisch für die gesamten Nacherzählungen ist: "Alle waren stark und heftig und wollten einen dicken Happen vom Glück ihrer Zeit. Sie aßen und soffen und fickten und töteten, weil sie wußten, daß sie nicht wußten, wie lange sie sich noch am Schicksalsrad festklammern konnten." Angesichts dieses Lebens als Dauerkriegszustand wird rasch klar, wie ernst Thomas Hobbes es kurz nach Shakespeares Ableben mit seinem "homo homini lupus" im "Leviathan" meinte. Schamlos spielt Widmer Klischees über die englisch-französischen Feindseligkeiten aus der Zeit der Rosenkriege aus - und seine Lesung gewinnt zusätzlich an Komik, wenn die Texte mit dezentem Schweizer Akzent erklingen und der "Dauphin" folglich durch die entsprechende Betonung recht dumm dasteht.

Bei den Komödien verhält es sich etwas anders. Die reizvolle Spannung zwischen Schauspielern und Zuschauern, die von der Bühnensituation lebt, geht in den Erzählungen von Walter E. Richartz leider vielfach verloren. Die Nacherzählungen können nur wenig vermitteln von der zauberhaften Atmosphäre, die für Shakespeares Romanzen und Komödien charakteristisch sind. Dem haben auch Bernd Rauschenbach und Otto Sander mit ihrem trockenen Vortrag nicht viel entgegenzusetzen. Andererseits: Genau dieser trockene Witz macht einiges der verloren gegangenen Situationskomik der Bühne wieder wett, wenn die Sprecher die abstrusesten Handlungen, Figurenbeschreibungen und Kommentare mit der spröden Sachlichkeit eines Nachrichtensprechers vortragen und alle Irrungen und Wirrungen im "Gruppenphoto der Vereinigung" nichtig werden: "Ach, lieber Leser, stell es dir vor: Welch eine ungläubige, tränenreiche, vielfache Wiedererkennungsszene!" Kurz, man kann die bewusste Entzauberung der Komödien und Romanzen hier ebenso gut zum Programm erklären. Darüber hinaus klingt es sehr gerissen, wenn der Erzähler über die Form des Theaters reflektiert und mit dem Topos "Sein und Schein" wild jongliert, während er sich selbst mit seiner Prosa auf der sicheren Seite weiß.

Walter E. Richartz' Tragödien sind mal, wie beim "König Lear", konventionell auktorial nacherzählt, mal hören wir ein Rollenspiel - herrlich, wie Elke Heidenreichs cleverer Shakespeare sich bei der Erzählung seines Macbeth gegen den besserwisserischen Jacob I. zur Wehr setzen und seine eigene Version der Geschichte geradezu rechtfertigen muss -, oder wir erleben wie bei "Romeo und Julia" die Handlung aus der Monoperspektive, womöglich sogar von einer Nebenfigur - was der Umkehrung aller dramatischen Verhältnisse entspricht.

Mit den antiken Tragödien setzt Widmer den Schlusspunkt der Hörbuchreihe: Selten gespielte Stücke wie "Titus Andronicus" oder "Troilus und Cressida" entfalten in erzählter Form eine ungeahnte Wucht. Hier schlagen sich längst ausgestorbene Mordskerle, vom Erzähler in entsprechend modernem Jargon kommentiert, noch gegenseitig für ein Weibsstück oder die Ehre tot: Achill rühmt sich, bereits achtmal den "Toten des Monats" erlegt zu haben und zudem dreimal zum "Helden des Jahres" gekürt worden zu sein. Einige Geschichten klingen in unseren Ohren so heutig, dass man sie sofort schmerzlich auf gegenwärtigen Spielplänen vermisst: Welch ein Potenzial!

Widmer und Heidenreich besitzen die unerhörte Gabe, mit Worten plastische Figuren zu zeichnen und mit der Stimme geradezu über sie zu zwinkern. Hinzu kommen bei den Lesungen die Spielereien mit der ahistorischen Ironie, die schon Shakespeare bis zur Perfektion betrieb, besonders feinsinnig zum Tragen. Das ermutigt den "textgetreuen" Shakespeare-Kenner zu eigenmächtigem Perspektivwechsel in diesem wuchtigen Kaleidoskop der Theatergeschichte.

Zwei Schriftsteller haben den Aufbruch in ein fantastisches Abenteuer gewagt und gewonnen: Der prosaische Kehrwert des Shakespeare'schen Werkes ist dem vermeintlich sich selbst genügenden dramatischen Universum an Sprache, Witz, Drastik, Lebensfülle und nicht zuletzt an politischer Schärfe und Unterhaltsamkeit durchaus gewachsen und verlockt zu unendlichem Weiterspinnen der Stoffe. Dabei gelangt der Entstehungshintergrund dieser Texte nicht in Vergessenheit: Charles Lamb hatte seine geisteskranke Schwester zum Zwecke ihrer Heilung mit den Nacherzählungen von Shakespeares Dramen betraut. Ganz in dieser Tradition verstehen Richartz und Widmer sowohl das Schreiben als auch das Lesen oder Hören ihrer eigenen Geschichten als Remedium in einer schalen Alltagswelt, die weder mehr große Utopien noch heftige Amplitudenausschläge auf der Skala der wahren Gefühle kennt. Kultur also letztlich als Mittel zur Wiederbelebung des ureigenen menschlichen Instinktes, Theater als Reibefläche für Emotionen.

Der Zürcher Verlag Kein & Aber präsentiert mit den 1978 bei Diogenes erschienenen Geschichten in fünf Hörbuchbänden, die nun auch als Sammelkassette erhältlich sind, ein literarisches Gesamtkunstwerk, das erst in der Form des gesprochenen Wortes voll zur Geltung kommt. Der unersättliche Shakespearean wünschte sich gar, Heidenreich, Widmer & Co. live lesen zu hören, ganz nach der elisabethanischen Redewendung "to hear a play". Es ist die persönliche Utopie des 1980 verstorbenen Walter E. Richartz, das Fantasiedenken Shakespeares mit seinen Nacherzählungen zu verdoppeln, sein Vermächtnis, das Feuer auch bei seinem Publikum zu entzünden. So sind die Geschichten von Richartz und Widmer im besten Sinne Scharfmacher mit Langzeitwirkung für Theatermuffel. Für Kenner sind sie ohnehin ein Vergnügen. Einzig das Bühnenspektakel selbst können sie nicht ersetzen. This is dramatic prose at its best.

Titelbild

William Shakespeare: Shakespeare's Geschichten. Alle Stücke von William Shakespeare Band I.
Herausgegeben und nacherzählt von Walter E. Richartz.
Diogenes Verlag, Zürich 2001.
336 Seiten, 11,90 EUR.
ISBN-10: 3257207913

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Titelbild

William Shakespeare: Shakespeare's Geschichten. Alle Stücke von William Shakespeare Band II.
Herausgegeben und nacherzählt von Urs Widmer.
Diogenes Verlag, Zürich 2001.
288 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-10: 3257207921

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Kein Bild

William Shakespeare: Geschichten-Box. 16 CDs. Nacherzählt von Urs Widmer und Walter E. Richartz.
Gelesen von Elke Heidenreich, Bernd Rauschenbach, Otto Sander und Urs Widmer.
Kein & Aber Verlag, Zürich 2005.
98,00 EUR.
ISBN-10: 3036911464

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