Grenzerfahrungen

Michael Wildenhain vertraut dem Duft von "Russisch Brot"

Von Jörg von BilavskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg von Bilavsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anfang der 60er Jahre in Berlin. Die materielle Not der unmittelbaren Nachkriegsjahre ist längst einem bescheidenen Wohlstand gewichen. Im Westen der Stadt mehr - im Osten weniger. Doch hinter den kleinbürgerlichen Fassaden herrscht seelische Not. Der Krieg hat Lebenswege und -pläne zerstört. Die Überlebenden leiden still. Aus Scham oder Rücksicht stellen ihnen ihre Kinder keine Fragen. Versuchen in den Andeutungen und Erinnerungsstücken die Biografien ihrer Eltern zu entschlüsseln. Die Vergangenheit lastet schwer auf ihnen. Auch auf Joachim, dem jugendlichen Protagonisten im neuesten Roman von Michael Wildenhain.

Erwachsenwerden ist nicht leicht. Vor allem nicht dann, wenn man auf dem Fußballplatz ein Versager ist und von seinen Mitschülern systematisch ausgegrenzt wird. Der Außenseiter hat die Wahl, sich zurückzuziehen oder verzweifelt um die Gunst der anderen Kinder zu buhlen. Joachim entscheidet sich für einen Mittelweg. Er versucht Halt bei seinen Eltern zu finden und trainiert mit seinem Vater für die Aufnahme in das Fußballteam. Mit bescheidenem Erfolg. Aber dafür entwickelt er eine ausgesprochene Sensibilität für sein eigenes Verhalten und die Gestik, Mimik und Äußerungen seiner über Ost- und Westberlin verstreuten Verwandtschaft. Seine Kindheit läuft wie ein Film vor ihm ab, den er ängstlich und zugleich hoffnungsvoll an sich vorüber ziehen lässt. "Früher war es mir möglich, an mich selbst als an einen Fremden zu denken. Ich dachte an mich in der dritten Person", heißt es gleich zu Beginn des Romans.

Diese erzählerische Distanz korrespondiert mit jener emotionalen Distanz, die zwischen Joachim und seinen Eltern herrscht. Offenheit und Nähe könnten diese familiäre Krise entschärfen. Gleichwohl befragt Joachim seine Mutter und seinen Vater nicht nach den Gründen ihrem in Gleichmut erstarrten Kummers. Statt dessen bemüht er sich in ihren Gesichtern, Fotos und privaten Aufzeichnungen zu lesen. Doch er findet nur Bruchstücke, die nicht zusammenpassen wollen. Sein Vater stirbt schon bald an den Folgen einer Kriegsverletzung und nimmt all seine Erinnerungen mit ins Grab. Seine Mutter verschweigt ihm die intime Beziehung zu einem Freund aus Kinder- und Kriegstagen, an die sie nach dem Tod ihres Mannes wieder anknüpfen möchte.

Von der Aufdeckung ihres Geheimnisses verspricht sich Joachim die Lösung seiner Identitätsprobleme. Als er beim 70. Geburtstag seines Großvaters in Ostberlin zufällig mit dem unbekannten Bekannten zusammentrifft, löst sich bei der Mutter für kurze Zeit der Knoten der Erinnerung. Beim Grenzübertritt nach Westberlin werden beide wegen eines losen Blatts im Ausweis für mehrere Stunden in direkt nebeneinander liegenden Untersuchungszimmern festgehalten. Getrennt durch eine dünne Wand, findet seine Mutter den Mut zu einer erschütternd-offenherzigen Lebensbeichte. Eine bedrückende Grenzerfahrung, in der sich beide für einen kleinen Moment ganz nahe zu sein scheinen.

Wildenhain bringt Joachims Gefühle und Gedanken in Rückblenden, Träumen, Überlegungen und feinfühligen Beobachtungen klar und authentisch zur Sprache. Stärker als die geschilderten Ereignisse prägen sich jedoch bei den Figuren und beim Leser Gerüche, Geschmäcker und Bilder ein. Russisch Brot, Club Cola, Teerpappe oder Linoleum besitzen hier nicht nur sensorische, sondern auch existenzielle Bedeutung. "Ich suchte in der Küche nach Keksen, nach Russisch Brot oder einer anderen Sorte, deren Duft mir allein half, den Gegenständen um mich herum zu trauen", bekennt Joachim in den heimischen vier Wänden.

Der aus Westberlin stammende und für seine politische und poetische Prosa bereits mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnete Autor hat einen Roman geschrieben, der nicht wegen seiner zeitgeschichtlichen Reminiszenzen oder einer ausgefeilten Dramaturgie überzeugt, sondern Einzelschicksale durch Sinneswahrnehmungen lebendig werden lässt.

Wildenhains vermeintlich autobiografischer Text macht die Ohmacht zwischen der Kriegs- und der Nachkriegsgeneration in ihrer ganzen Vielschichtigkeit spürbar. Man muss sich eingestehen: Zeit heilt eben nicht alle Wunden, aber Literatur kann sie erträglicher machen.

Titelbild

Michael Wildenhain: Russisch Brot. Roman.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2005.
271 Seiten, 18,50 EUR.
ISBN-10: 3608935916

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