Aufbrüche

Wolfgang Schlott über die polnische Prosa der 90er Jahre

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seitdem der Nobelpreis für Literatur innerhalb recht kurzer Zeit mit Czeslaw Milosz (1980) und Wislawa Szymborska (1996) zwei mal an polnische Autoren ging, die sich überwiegend als Lyriker einen Namen gemacht haben, ist die wirklich bemerkenswerte zeitgenössische polnische Dichtkunst vielleicht auch im deutschsprachigen Raum bekannter geworden. Wenn der Eindruck nicht ganz täuscht, haben wir damit den doch eher ungewöhnlichen Fall vor uns, dass wir für einmal von einem Nachbarn (man denke dabei auch an andere Namen wie Zbigniew Herbert oder Adam Zagajewski) die neuere Lyrik vielleicht ebenso gut kennen, wie die aktuelle Prosa.

Zwar wurden im Umfeld des polnischen Gastauftritts an der Buchmesse in Frankfurt im Jahr 2000 einige neuere Romane und Erzählungen ins Deutsche übersetzt, doch erfahren wir durch Wolfgang Schlotts Untersuchung über die polnische Prosa der 90er Jahre, dass diese noch viel reicher ist, als der durchschnittlich interessierte deutschsprachige Leser gemeinhin annehmen mag. Es erweist sich nämlich, dass hinter den auch hierzulande präsenten Autoren wie Pawel Huelle, Stefan Chwin, Olga Tokarczuk und Andrzej Stasiuk eine noch weit mannigfaltigere Prosalandschaft zu entdecken ist. Es ist Schlotts Verdienst, diese Vielfalt der allerneuesten polnischen Prosa aufzuzeigen.

Wolfgang Schlott (Jahrgang 1941) arbeitet an der Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen. Zu seinen Spezialgebieten gehört unter anderem die polnische Literatur nach 1945. Sein Buch ergänzt die bestehende Forschungsliteratur: Es ist die erste deutschsprachige Monografie zum Thema. Dass Schlott damit auch einen Beitrag zur besseren Kenntnis des Nachbarn leisten will, ist erkennbar. Der Autor versucht in seiner Untersuchung eine "vorläufige Bilanz". Ihn interessieren die veränderten Textverfahren seit der Wende; er richtet sein Augenmerk aber auch auf die Literatur der Emigration und sogar auf den rezipierenden Blick des deutschen Nachbarn.

Breiten Raum räumt Schlott beispielsweise dem bei uns kaum bekannten Edward Redlinski ein. Redlinski war in den 70er Jahren zunächst mit Erzählungen und Romanen der so genannten "bäuerlichen Richtung" hervorgetreten. Von 1984 bis 1991 hielt er sich in Amerika auf. In der Folge veröffentlichte er mehrere Erzähltexte, welche die Erfahrung der Emigration bisweilen in radikaler Weise thematisierten: In "Sczuropolacy" ("Rattenpolen", 1994), einer Art Collage aus Stimmen polnischer Einwanderer in New York, demaskiert er den Amerika-Mythos: Die polnischen Immigranten müssen sich unter menschenunwürdigen Umständen - als Ratten - durchschlagen. In Polen löste der Text eine heftige Polemik aus, weil einige darin eine bewusste Erniedrigung des polnischen Volks vorzufinden glaubten. Beim "Ab-Hörspiel", wie der Text im Untertitel heißt, handelt es sich aber auch um ein höchst interessantes formales Experiment, das Wolfgang Schlott ganz zu Recht würdigt.

Da Schlott Zitate aus den behandelten Werken der polnischen Literatur konsequent nur auf Deutsch wiedergibt, ist zu vermuten, dass er seine Untersuchung nicht nur an ein Fachpublikum im engeren Sinn richten will, sondern wohl auch Vertreter anderer Philologien und breitere Leserkreise im Blickfeld hat. Das ehrt den Autor und sein Vorhaben. Allerdings hätte man sich in diesem Fall auch ein Register gewünscht, das bei der Orientierung mithelfen würde. Schlotts Buch ist im Rahmen eines Forschungsprojekts entstanden, einzelne Kapitel wurden zum Teil schon früher veröffentlicht. Dies bringt unter anderem die in solchen Fällen üblichen Redundanzen mit sich, die allerdings die Lektüre insgesamt nicht wesentlich stören. Ärgerlich ist jedoch, dass der Autor im Vorwort eine ganze Seite aus einem späteren Kapitel wortwörtlich vorwegnimmt; und gleich noch ein weiterer Absatz findet sich identisch in zwei Kapiteln. Es mag sein, dass mit der Digitalisierung des Schreibens solcher copy-paste-Stil zunehmend "legalisiert" wird, elegant ist dies trotzdem nicht.

Titelbild

Wolfgang Schlott: Polnische Prosa nach 1900. Nostalgische Rückblicke und Suche nach neuen Identifikationen.
LIT Verlag, Münster 2004.
224 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 382587916X

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch