Selektierendes Mitleid

Rudolf Kreis über die Gedächtnislücken deutscher Geschichte Rudolf Kreis über die Gedächtnislücken deutscher Geschichte

Von Alfred BodenheimerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alfred Bodenheimer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dieses Buch, erschienen unter dem wenig spektakulären Titel "Antisemitismus und Kirche", beginnt gleichwohl mit einem Paukenschlag. Da wird auf der ersten Seite - orientiert am Modell des Internet - erklärt, das Christentum habe mittels der Eucharistie "den historisch weltweit mächtigsten und nachhaltigsten Medienverbund der Vergangenheit" ausgebildet. Die "hochmobile Hostie" habe das Passwort dargestellt, mittels dessen die Menschen "eine neue Schöpfung" erhalten hätten, "die den Geist vom Leib, das Jenseits vom Diesseits erlöste". Diese "Wirklichkeitskonstruktion" aber, so Kreis, habe zum Verhängnis für die Juden geführt, indem das virtuelle, dauernd von neuem dämonisierte jüdische Volk der Passionsgeschichte vor die real existierenden Juden geschoben worden sei. Die wirklichen Juden zahlten den Preis für die abscheuliche Schilderung der "Juden" in der Passionsgeschichte und deren immer neue Ausschmückung durch christliche Geistliche im Laufe der Jahrhunderte.

Ist damit der Hintergrund der Beziehung Christentum-Judentum skizziert, so zögert Kreis nicht, dessen letzte Konsequenz zu benennen: Die Tatsache, dass Auschwitz nicht von dämonischen, abartigen Triebtätern geplant, gebaut und betrieben wurde, sondern von Menschen, die allen Anzeichen ihres sozialen und familiären Lebens gemäss normale und anständige Menschen waren, birgt für ihn das "Paradox der Normalität des Abnormen", das die ganze Beziehung des christlichen Abendlands zu den Juden geprägt habe. So wird denn auch der Untertitel des Buches verständlich: "In den Gedächtnislücken deutscher Geschichte mit Heine, Freud, Kafka und Goldhagen". Jüdische Autoren werden hier aufgerufen, nicht so sehr als Zeugen des Geschehens, sondern vielmehr als Analytiker der christlichen Neurose - oder, etwas zugespitzt gesagt: der Neurose, die Christentum heißt. Einen ätiologischen Namen dafür schafft Kreis selbst: Karfreitagskomplex.

Wer Rudolf Kreis' Bücher aus den vergangenen fünf Jahren über Nietzsche, Wagner und die Juden, oder über Kafkas "Proceß", kennt, der wird zwar manches déja-vu erleben: Etwa im (zu langen) Wagner-Exkurs des Kapitels über Freud oder in der (gegenüber der älteren Arbeit stark gekürzten) Interpretation des "Proceß"-Romans. Doch die Dichte von Kreis' Denken und die Inspiriertheit seiner Interpretation gehen hier, abgesehen vom vielen neuen Material, über die alten Arbeiten noch hinaus. Indem er Heine primär zum Analytiker und erst sekundär zum leidenden Zeitzeugen macht, entflicht er die Undeutlichkeiten, die etwa Klaus Brieglebs letztes Heine-Buch aus dem Jubiläumsjahr kennzeichnen. Auch liest Kreis Heine als eigentliches Vorbild Sigmund Freuds, nicht nur als dessen Lieblingsautor und gelegentlichen Stichwortgeber. Entsprechend kommt Freuds Abhandlung über den "Witz und seine Beziehung zum Unbewußten" in diesem Buch eine wichtige Rolle zu. Freud, der anders als Heine bereits in die Emanzipation und zugleich auch schon in ihre Desillusionierung hineingeboren ist, kann, will er als Jude gehört werden, nicht mehr den Witz und die Ironie des Paria aktivieren; zugleich haben sich die psychologischen Defizite in der Wahrnehmung der Juden jedoch nicht verringert. Freud, konfrontiert mit (und selbst Teil) einer wissenschaftlich argumentierenden Welt, versucht das Pariadasein des Juden zu entkräften, indem er statt des Judentums und seiner vermeintlichen genetischen Perversionen das Perverse in den Menschen überhaupt verschiebt. Der Ödipuskomplex wird aus dieser Sicht zum Regulativ, oder besser: zur Gegenstrategie des Karfreitagskomplexes.

So stellt auch Kafkas K., der Verleumdete, der Verhaftete, der frei herumläuft, für Kreis einen Juden im Zeitalter der Emanzipation dar. In seiner Auslegung der Parabel "Vor dem Gesetz", einem der meistgedeuteten literarischen Texte des 20. Jahrhunderts, hat Kreis wahrlich Neues erschlossen. Die double bind-Situation des Mannes vom Lande, die Hartmut Binder schon vor einigen Jahren als Interpretationsschlüssel dieser Parabel bezeichnet hat, wird bei Kreis aus der allgemein existentiellen Interpretationsebene in den Kontext jüdischer Existenz im Zeitalter des paulinischen Christentums verlegt. Dabei wird mit verschiedenen Paulus-Zitaten eine Situation evoziert, die den Juden als am Gesetz Festhaltenden immer die doppelte Botschaft von Respekt vor den Glaubensgründern und Abscheu vor den Fehlgläubigen übermittelt.

Dass Kreis in der deutschen Goldhagen-Debatte den letzten Ausläufer einer Kulturgeschichte des "selektierenden Mitleids" sieht, das in seiner vermeintlichen Aufgehobenheit im Glauben den Stab über die immer selben anderen zu brechen ungebrochen bereit ist, pointiert seine Haltung. Denn hier bietet er nicht mehr nur neue Lesarten zu Autoren anderer historischer Kontexte an, sondern er stellt sich dem Mainstream deutschen historischen Urteils ungeschützt und frontal gegenüber. Indem er Goldhagen in die Reihe der Analytiker von Heine bis Freud stellt, indem er bemerkt, dass "in Goldhagens Horrorstreifen nur die letzte Seite eines tausendjährigen Drehbuchs abgespielt" werde und die Teilnahmslosigkeit der Kirche gegenüber diesem Agieren nicht zufällig gewesen sei, beschuldigt er auch jenes Gros renommierter deutscher Historiker, die Goldhagen entgegentraten. Denn dass man den Juden jener Obszönität anklage, die er selbst nur beschreibe, die aber von Nichtjuden an ihm begangen worden sei, habe man aufgrund eines unkontrollierten Kulturreflexes nicht deutlich machen können.

Ohne Zweifel sind Kreis' Argumente und Interpretationen trotz ihrer Radikalität schlüssig, ja teilweise sogar brillant. Doch der Epilog bestätigt eine Vermutung, die den Leser bereits während der Lektüre beschleicht: Dass hier auch für den Autor mehr im Spiel ist als die rein wissenschaftliche Aufarbeitung antisemitischer abendländischer Kulturgeschichte und deren Diagnose und Analyse durch jüdische Intellektuelle. Im Epilog nämlich geht es um einen Heranwachsenden (den Autor selbst, wie schnell erahnt und am Ende vom Verfasser bestätigt wird), der, 1923 in Neuwied geboren, eine Jugend im Nationalsozialismus verlebt. Als solcher ist er einerseits Opfer - die Mutter wird nach einem Selbstmordversuch im "Euthanasieprogramm" der Nationalsozialisten getötet; Andererseits gerät er selbst als begeisterter Hitlerjunge siebzehnjährig in die Panzerdivision "Hitlerjugend" und ein Jahr später "wird er zur Panzerjunkerschule in Königsbrück kommandiert" als "der jüngste Junker der Waffen-SS". Das ist eine offene Beichte, doch sie macht Angst - nicht zuletzt Kreis selbst. Seine Katharsis, eine jahrzehntelange, stufenweise, schmerzliche Läuterung führt am Ende zur Erkenntnis, dass seine geliebte Kinderbibel jenes antisemitische Machwerk des Martin von Kochem ist, das im Buch ausführlich zur Sprache kommt. Erst mit über siebzig Jahren, so schreibt Kreis, hat er sie vollständig gelesen und den "Perspektivenwechsel" vollzogen, aus welchem heraus dieses Buch entstand.

Die Frage bleibt, ob man soviel Privatheit am Ende eines wissenschaftlichen Werks hören will. Ob nicht zuletzt der Eindruck einer vertauschten Brille entsteht, oder einer umgedrehten Folie, eine Abrechnung mit der Gläubigkeit der eigenen Jugendzeit. Erfährt sich aber der Jude aus dieser Perspektive selbst noch als etwas anderes als jene Lücke des selektierenden Mitleids? Zeichnet er anderes noch auf als den allgegenwärtigen christlichen Haß? Diese Frage devaluiert dieses Buch keineswegs, aber sie bleibst bestehen bei der Relektüre von Stellen, beim Bedenken von Kreis' Thesen zur Rolle jüdischer Intellektueller im 19. und 20. Jahrhundert. Zunächst einmal aber sei hier deutlich ausgesprochen, dass dieses Buch gelesen werden muß.

Titelbild

Rudolf Kreis: Antisemitismus und Kirche. In den Gedächtnislücken deutscher Geschichte mit Heine, Freud, Kafka und Goldhagen.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1999.
333 Seiten, 11,70 EUR.
ISBN-10: 3499556332

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