Blicke nach Paris und zum Shisha Pangma

Neue Romane der Spanier Enrique Vila-Matas und Unai Elorriaga

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Während ihre hierzulande bekannteren Landsleute Jorge Semprún, Antonio Munoz Molina und Rafael Chirbes sich in ihren jüngsten Romanen der umfassenden, tiefgründigen gesellschaftlichen Analyse gewidmet haben, beleuchten der 56-jährige Katalane Enrique Vila-Matas und der 32-jährige Baske Unai Elorriaga auf spielerische Art einen sozialen Mikrokosmos.

"Die erstaunlichste Stadt der Welt", der Mythos Paris, die literarischen Spuren, die Sartre, Proust, Baudelaire und auch Hemingway hinterlassen haben, beschäftigt Enrique Vila-Matas, der in Frankreich schon mit dem "Prix Medicis" für den besten ausländischen Roman ausgezeichnet worden ist. Wie es der Titel schon nahe legt, wird den Legenden um Paris eine weitere hinzugefügt. Vila-Matas vermischt eigenes Erleben aus der Zeit, als er in jungen Jahren aus seiner "salbungsvollen, dummen, einschläfernden" Heimat nach Paris aufbrach, mit Literaturtheorie, Zitaten, Anekdoten und Selbstreflexionen zu einer hochintellektuellen, nicht immer leicht lesbaren Mixtur. Mit einer gehörigen Portion Ironie blickt der Autor auf seine Hauptfigur, auf den Paris-Streuner, hinter dem sich niemand anderes verbirgt als Vila-Matas selbst als Mittzwanziger. Rein zufällig landet der junge Mann in einer schäbigen Dachmansarde, die Marguerite Duras gehört. Von ihr erhält er nicht nur Unterkunft, sondern auch eine Art literarischen Grundkurs, der zehn Regeln zur Abfassung eines postmodernen Romanes enthält.

Wer bei der "grande dame" der französischen Literatur logiert, der muss auch die Attitüde des Intellektuellen pflegen, der muss Roland Barthes lesen (ohne ihn zu verstehen), sich mit seinem äußeren Erscheinungsbild - je nach Gemütslage - entweder an Sartre oder an Hemingway orientieren und im LSD-Rausch den Eiffelturm erklimmen. "Ich wusste nicht recht, welchen Lebensweg ich einschlagen sollte, und bildete mir ein, schwermütig zu sein sei eleganter und kleidsamer für einen armen jungen Mann, als sich in Zuversicht zu hüllen", lässt Vila-Matas seinen intellektuellen Posenspieler referieren. Straßen, Plätze, Cafés, Hotels und viele bekannte Figuren aus dem Paris der 70er Jahre lässt Vila-Matas vor dem Auge des Lesers Revue passieren. "Ich kenne keine größere Wahrheit als die, unsere eigene Identität zu ironisieren", bekennt der Autor. Und dies ist ihm wahrlich meisterhaft gelungen.

Um eine andere Form des Identitätswechsels geht es in Unai Elorriagas bisher einzigem in deutscher Sprache vorliegenden Roman, der im Untertitel "Der Himmel über Nepal" heißt. Protagonist Lucas ist ein betagter Mann, dessen Bewusstsein durch eine fortschreitende Demenz ständig zwischen Gegenwart und Vergangenheit pendelt. Seine Frau Rosa, die er in der Straßenbahn kennen lernte, und sein Bruder sind längst gestorben; als Vertraute stehen ihm seine Schwester Maria und der junge Straßenmusiker Marco zur Seite. Als Kind hatte Lucas große Freude an hohen Bergen, und beim Treppensteigen fühlte er sich mit Maria ins Hochgebirge versetzt und wollte mit ihr den über 8.000 Meter hohen Shisha Pangma bezwingen.

Mit leisen Tönen und großer poetischer Stilsicherheit erzählt Unai Elorriaga von der Schwelle zwischen vorbei rauschendem Leben und nahendem, unaufhaltsamen Tod, von Kindheitserinnerungen und biologisch determiniertem Verfall eines Menschen. Nie verliert der Autor die Balance, nie den Respekt vor seiner Hauptfigur und all ihrer Marotten, wenn er sich beispielsweise mit einer Motte namens Don Rodrigo unterhält oder sich vor seiner Krankenhausentlassung vom Feuerlöscher verabschiedet. Nach Lucas' Schwester Maria hat ihr Bruder mittlerweile zwei Köpfe, "den von jetzt und den von vor sechzig Jahren." "Jetzt würde ich sehr gern etwas Schokolade essen." Mit diesem süßen Wunsch und versöhnlichen Abschluss entlässt Unai Elorriaga den Leser aus der Handlung.

Berührt und beeindruckt legt man dieses literarische Bravourstück aus der Hand und wartet schon jetzt sehnsüchtig auf die deutsche Übersetzung seines zweiten Romans.

Titelbild

Unai Elorriaga: Lucas oder Der Himmel über Nepal.
Übersetzt aus dem Spanischen von Karl A. Klewer.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
192 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3895611530

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Titelbild

Enrique Vila-Matas: Paris hat kein Ende.
Übersetzt aus dem Spanischen von Petra Strien.
Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2005.
286 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3312003571

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